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10. Lesen Sie den Text. Fassen Sie den Inhalt der Novelle kurz zusammen.

Die unsichtbare Sammlung

Eine Episode aus der deutschen Inflation

Zwei Stationen hinter Dresden stieg ein älterer Herr in unser Abteil, grüßte höflich. Kaum nannte er dann seinen Namen, erinnerte ich mich sofort: es war einer der angesehensten Kunstantiquare Berlins. Wir plauderten zunächst von gleichgültigen Dingen. Plötz­lich sagte er: „Ich muss Ihnen doch erzählen, woher ich gerade komme. Denn diese Episode ist das Sonderbarste, was mir in den siebenunddreißig Jahren meiner Tätigkeit begegnet ist. Ich komme gerade von einem alten Kunstsammler, der ganz im Stillen eine wertvolle Kupferstichsammlung zusammengetragen hat, auf die man stolz sein kann.

Die Sammlung interessierte mich und ich fuhr in eine der un­möglichen Provinzstädte, die es in Sachsen gibt. Und als ich nun vorn kleinen Bahnhof durch die Hauptstraße ging, schien es mir fast unmöglich, dass da, inmitten dieser banalen kleinen Häuser, ein Mensch wohnt, der die herrlichsten Blätter Rembrandts neben den Stichen Dürers in tadelloser Vollständigkeit besitzen konnte.

Ich hatte keine Mühe, seine Wohnung zu finden. Auf mein Läuten tat sofort eine ganz alte, weißhaarige Frau auf. Sie bat mich freundlich zu warten, nahm meine Karte, ging hinein ins Zimmer. Leise hörte ich sie flüstern und dann plötzlich eine laute Männerstimme: ,, Ah, der Herr R ... aus Berlin...soll nur kom­men... freue mich sehr!“

Ich legte ab und trat ein. In der Mitte des bescheidenen Zimmers stand ein alter Mann und hielt mir herzlich beide Hän­de entgegen. Er kam mir nicht einen Schritt entgegen, und ich musste bis an ihn heran, um seine Hand zu fassen. Doch als ich sie fassen wollte, merkte ich an der unbeweglichen Haltung dieser Hände, dass sie die meinen nicht suchten, sondern erwarteten. Und im nächsten Augenblick wusste ich alles: dieser Mann war blind.

Ein seltener Besuch, lachte er mir entgegen, wirklich ein Wunder, dass sich einmal einer der Berliner großen Herren in unser Nest verirrt... Ja, ich kann mir schon denken, warum Sie mich aufsuchen... Die Geschäfte gehen jetzt schlecht in unserem armen, heruntergekommenen Deutschland, es gibt keine Käufer mehr... Aber bei mir werden Sie kein Glück haben, wir armen, alten Pensionisten sind froh, wenn wir unser Stück Brot auf dem Tische haben...

Ich berichtigte sofort, ich wollte nur einen der größten Sammler Deutschlands besuchen. Kaum hatte ich das ausgesprochen, so ging eine seltsame Verwandlung im Gesicht des alten Mannes vor. Ein Ausdruck plötzlicher Helligkeit und innersten Stolzes kam in seine Haltung. ,,Das ist wirklich sehr, sehr schön von Ihnen... Sie sollen etwas sehen, was Sie nicht jeden Tag zu sehen bekommen... ein paar Stücke, wie sie nicht schöner in der ,,Albertina“ und in Paris zu finden sind. Ja, wenn man sechzig Jahre sammelt... Luise, gib mir mal den Schlüssel zum Schrank!“

Jetzt aber geschah etwas Unerwartetes. Seine Frau machte mit dem Kopfe eine verneinende Bewegung. Ich verstand, dass sie wünschte, dass ich später zur Besichtigung kommen soll. Ich sagte, ich komme nach drei Uhr.

Die alte Frau begleitete mich zur Tür. ,,Darf Sie meine Tochter abholen? Es ist besser aus… aus mehreren Gründen...“

Eine Stunde später sah ich ein ältliches Mädchen. ,,Meine Mut­ter hat mich zu Ihnen geschickt... Wir haben eine große Bitte an Sie... Vater wird Ihnen natürlich seine Sammlung zeigen, und die Sammlung... die Sammlung ist nicht mehr vollständig... es fehlen eine Reihe Stücke daraus... leider sogar viele... Ich muss ganz aufrichtig zu Ihnen reden... Sie kennen die Zeit... Für Vater blieb die einzige Freude die Sammlung, sie sieht er sich jeden Tag an... Das heißt, er sieht sie ja nicht, er sieht ja nichts mehr, aber er holt sich doch alle Mappen hervor, um wenigstens die Stücke anzutasten, eins nach dem anderen, in der immer gleichen Reihen­folge, die er seit Jahrzehnten auswendig kennt... Vater versteht nichts mehr von den Preisen und von der Zeit. Er weiß nichts von unseren materiellen Schwierigkeiten.

Zuerst haben wir gespart, dann begannen wir zu verkaufen. Es war ein sehr kostbares Stück, das wir verkauften, eine Rembrandt-Radierung. Der Händler bot uns viele, viele Tausend Mark dafür, doch nach zwei Monaten war alles weg. So mussten wir noch ein Stück verkaufen und noch eins. So ist allmählich das Beste seiner Sammlung weggewandert, und Vater ahnt nichts da­von.

Deshalb erschrak auch meine Mutter so, als Sie heute kamen..., weil, wenn... er Ihnen die Mappen aufmacht... Wir haben ihm näm­lich Nachdrucke oder ähnliche Blätter statt der verkauften einge­legt, so dass er nichts merkt, wenn er sie antastet. Er hat genau dieselbe Freude, wie wenn er sie früher mit seinen offenen Augen sah. Und er liebt jedes einzelne Blatt mit einer so fanatischen Liebe. Sie sind der erste in all diesen Jahren, seit der frühere Vorstand des Dresdner Kupferstichkabinetts 2 tot ist, dem er seine Mappen zeigen wird. Darum bitte ich Sie... machen Sie ihn nicht unglücklich, nicht uns unglücklich... zerstören Sie ihm nicht diese letzte Illusion. Vielleicht durften wir das nicht tun, aber wir konnten nicht anders: man musste leben... und Menschenleben sind doch wichtiger als bedruckte Blätter... Bis zum heutigen Tag haben wir ihm ja auch keine Freude genommen damit; er ist glücklich, jeden Nachmittag drei Stunden seine Mappen durchblättern und mit jedem Stück wie mit einem Menschen sprechen zu können. Und heute... heute ist vielleicht sein glücklichster Tag, wartet er doch seit Jahren darauf, einmal einem Kenner seine Lieblinge zeigen zu dürfen; bitte... zerstören Sie ihm diese Freude nicht!'

Wir gingen zusammen hin. Kaum hatten wir die Tür aufgemacht, hörten wir die freudige Stimme des alten Mannes: „Herein! Herein! So, und jetzt wollen wir gleich anfangen – es ist viel zu sehen. Diese erste Mappe da ist Meister Dürer und, wie Sie sich überzeugen werden, ziemlich komplett – dabei ein Exemplar schöner als das an­dere. Na, Sie werden ja selber urteilen – er schlug das erste Blatt der Mappe auf – ,das große Pferd'.

Und nun nahm er mit zärtlicher Vorsicht das erste Blatt. Er sah es an, minutenlang, ohne doch wirklich zu sehen. Und in seine Augen kam mit einemmal ein wissendes Licht.

'Nun', sagte er stolz, 'haben Sie schon jemals einen schöneren Abzug gesehen? Wie scharf, wie klar da jedes Detail ist. Ich habe das Blatt verglichen mit dem Dresdner Exemplar, aber das wirkte ganz flau und stumpf dagegen'.

Mir lief es kalt über den Rücken, als der Blinde über ein leeres Blatt so begeistert sprach. Ich wusste nichts zu antworten. Da fasste ich mich und begann mit meiner Rolle:

„Unerhört! Ein herrlicher Abzug!“

,,Das ist aber noch gar nichts“, triumphierte der Alte. ,,Da müssen Sie erst die „Melancholia“. Da sehen Sie nur. Diese Frische, dieser warme Ton.

Und so ging dieser redende Triumph weiter. Nein, ich kann es Ihnen nicht beschreiben, wie es mir war, mit ihm diese hundert oder zweihundert leeren Blätter oder schäbigen Reproduktionen anzusehen, die aber in der Erinnerung des blinden Mannes so unerhört wirklich waren, dass er jedes einzelne mit den präzisesten Details beschrieb; die unsichtbare Sammlung, sie war für den Blin­den noch unverstellt da und die Leidenschaft seiner Vision war so stark, dass beinahe auch ich schon an sie zu glauben begann. Nur einmal wurde er unsicher, bei der Rembrandtschen „Antiope“. ,,Das ist doch...das ist doch die „Antiope“? fragte er, ein wenig unsicher. Ohne zu antworten, nahm ich ihm eilig das gerahmte Blatt aus den Händen und beschrieb die Radierung begeistert in allen Einzelheiten.

Und dabei strich seine Hand zärtlich, wie über etwas Lebendi­ges, über die längst geleerten Mappen. Aber der alte Mann konnte nicht satt werden an meinem Lob, immer wieder blätterte er in den Mappen, so war es für mich eine Erholung, als endlich die Mappen zur Seite gelegt wurden und der Tisch für Kaffee gedeckt wurde.

Nach dem Kaffee begleiteten mich die Frauen zur Tür. Ihre Blicke waren voll Dankbarkeit. Was ich mitnahm, war viel: ich hatte wieder einmal reine Begeisterung lebendig gespürt in freudloser Zeit. Ich war in geistiger, ganz auf die Kunst gewandter Ekstase, wie sie unsere Menschen scheinbar längst verlernt haben. Und mir war – ich kann es nicht anders sagen – ehrfürchtig zumute, obwohl ich mich schämte, weil ich wegen Einkauf ein paar kostbarer Stücke gekommen war.

Schon stand ich unten auf der Straße, da hörte ich meinen Namen rufen: der alte Mann stand am offenen Fenster. Unvergesslich war mir sein Anblick: dies frohe Gesicht des weißhaarigen Alten. Und ich musste wieder an das alte wahre Wort denken – ich glaube, Goethe hat es gesagt: „Sammler sind glückliche Men­schen.“

(Nach Stefan Zweig „Die insichtbare Sammlung“)

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