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Meine ungewöhnliche Mutter

Es gibt Menschen mit ungewöhnlichen Geistesgaben, ungewöhnlichem Schicksal, ungewöhnlicher Schönheit. Ich hatte das Glück, eine ungewöhnliche Mutter zu haben.

Sie war früh Witwe geworden und musste schwer arbeiten, weil sie zwei Kinder erziehen musste. Das ist nicht Ungewöhnliches. In einer Zeit in der es in fast vierzig Jahren zwei furchtbare Weltkriege gab, war das leider schon ein Massenschicksal, und meine Mutter ertrug alles mutig. Sie musste 1934 mit 54 Jahren auswandern, in einem anderen Land bei fremden Menschen im Haushalt arbeiten, bis meine Schwester ihr erstes Kind erwartete; danach versorgte meine Mutter zwanzig Jahre lang den Haushalt ihrer Tochter allein und erzog drei Enkelkinder. Auch das ist nichts Ungewöhnliches, höchstens, dass sich meine Mutter in den Jahren nicht einmal mit ihrem Schwiegersohn stritt und dieser auf seine Schwiegermutter fast so stolz war wie auf seine jüngste Tochter. Das Ungewöhnliche an meiner Mutter aber war, dass sie ihre Fürsorge nicht nur ihrer engsten Familie widmete, sondern auch fremden Menschen.

Zahllose Geschichten erzählt man noch heute von meiner Mutter. Eine davon will ich kurz berichten. Gegenüber dem Haus, in dem meine Schwester wohnte, befand sich ein kleines Lebensmittelge­schäft, dessen Inhaberin Hilde war. Eines Tages stand meine Mutter in diesem Geschäft und bediente die Kunden. Hilde lag im Hinterzimmer mit einer Migräne. „Was sollte ich tun?" fragte meine Mutter, die an ihrem einzigen freien Tag gearbeitet hatte und am Abend sehr müde war, weil sie kranke Beine hatte und das viele Stehen bekam ihr nicht gut. Dass meine Mutter für solche Hilfe kein Geld annahm, war selbstverständlich — das war Men­schenpflicht.

Menschenpflicht war es auch, dass sie ältere Damen pflegte, die zum Teil jünger waren als sie, zum Teil weniger leidend und zum Teil unangenehm. „Solche Leute muss man besonders behandeln", sagte meine Mutter, „sie haben einen schwierigen Cha­rakter, sind sich selbst nicht gut, und keiner will sie besuchen".

Dieses Problem hatte meine Mutter nicht. Wenn meine Schwester ihren Freunden die Tür öffnete, fragten sie oft als erstes: „Ist deine Mutter da?" Oder auch: „Eigentlich wollten wir deine Mutter besuchen". Meine Mutter hatte zwei Eigenschaften, die sich sonst selten paaren: sie war kontaktfreudig und zurückhaltend zugleich. Dass sie auch über einen ungeheuer großen Wissensdurst verfügte, merkte ich erst, als sie mich hier in Berlin besuchte.

Lange, lange Jahre hatte ich meine Mutter nicht gesehen. Im Jahre 1955 nun wollte sie mich besuchen. Das war ein großes Ereignis: das erstemal nach über 20 Jahren wieder nach Europa zu kommen; das erstemal im Alter von fünfundsiebzig Jahren am Flugzeug zu besteigen.

Als meine Mutter glücklich in Berlin angekommen war, sagte ich zu ihr: „Bleibe ein paar Tage zu Hause und ruh dich aus".

„Nee", antwortete sie, „dazu bin ich viel zu neugierig. Ich muss doch wissen, wie Berlin aussieht. Gleich morgen besichtige ich die Stätten meiner Kindheit". Sie war eine echte Berlinerin, geboren und aufgewachsen in der Gegend am Oranienburger Tor.

Sie fuhr allein in die Stadtmitte. „Ich finde mich dann schneller zurecht". Ganz erfüllt von ihren Erlebnissen kam sie zurück. „Mein Geburtshaus steht nicht mehr und auch nicht meine Schule. Aber stell dir mal vor, das Gebäude, in das ich vor 60 Jahren zur Tanzstunde ging, ist immer noch da".

Es war schön, mit meiner Mutter zu leben. Meine schlechten Eigenschaften verblassten. Ich konnte nichts dafür, ich habe sie ererbt1. „Die scharfe Zunge hast du von Onkel Paul, vor dem die Verwandtschaft so viel Angst hatte, dass sie einen weiten Bogen um ihn machte".

„Und deine Zerstreutheit hast du von Kusine Lisa. Die ging mal als junges Mädchen mit dem Teeglas zum Postkasten, und der Brief blieb auf der Unterlasse zu Hause liegen".

Wir gingen viel ins Theater. Wir sahen in „Nathan der Weise" Eduard von Winterstein, von dem meine Mutter schon in der Jugend begeistert war. Noch nie haben mich die Freunde so viel eingeladen, auch die Bekannten, die ich zufällig auf der Straße traf und die sich sofort in meine Mutter verliebten. In dieser Zeit feierte man gerade die Eröffnung der Staatsoper. Die Feier am Vormittag, zu der uns der Schriftsteller Kuba die Karten schenkte, war ein einmaliges gesellschaftliches Ereignis. Wir trafen das Schriftstellerpaar Weiskopf-Wedding, die uns zu Mittag einluden und meiner Mutter Karten für die Festaufführung der „Meistersinger von Nürnberg" schenkten. Ich protestierte. Wir wollten am nächsten Tag schon frühzeitig nach Thüringen fahren. Ich fürchtete, dass eine so lange Oper einen Abend vorher meine Mutter ermüden wird. Und die Reise nach Thüringen ermüdete nicht meine Mutter, sondern mich.

In Erfurt waren wir bei der Blumenschau. In Weimar besuchten wir jede Stätte, wo Goethe und Schiller gelebt und geliebt hatten. Dann fuhren wir nach Eisenach zur Wartburg, wo meine Mutter einen jungen Kunsthistoriker kennen lernte, der seine Doktorarbeit über die Wartburg geschrieben hatte und viele Fragen meiner Mutter beantworten musste. Er verabschiedete sich von uns und lud meine Mutter nach Jena ein, wo er mit seinen Eltern lebte. Es war nicht die einzige Einladung. Wir hatten so viele Adressen, dass meine Mutter eine mehrmonatige Besuchstournee durch die BRD machen konnte.

Der Abschiedstag näherte sich. Als wir im Taxi saßen, das uns zum Flugplatz brachte, sagte sie: „Nun habe ich drei lange Monate Ferien gemacht".

„Wenn man fünfundsiebzig Jahre alt ist", erwiderte ich, „kann man schon einmal die Hände in den Schoß legen3 und ausspan­nen".

Wir hatten Pläne gemacht, dass sie in zwei Jahren wiederkommen sollte. Aber ich halle kein Glück mehr, sie noch einmal zu sehen. Sie starb ein Jahr später nach kurzer Krankheit.

Wenn man eine Mutter hat, bleibt man, auch mit grauen Haaren, noch ein Kind. Ihr Kind.

(Nach Berta Waterstradt „Der Besuch meiner Mutter")

Texterläuterungen

1. Ich konnte nichts dafür, ich hatte sie ererbt. – Це не моя провина, я їх успадкувала.

2. ..., dass sie einen weiten Bogen um ihn machten, – ..., що вони обходили його стороною.

3. die Hände in den Schoß legen – сидіти, склавши руки

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