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Künstler „Eigensinn als Tugend“

Uwe M. Schneede, 63, Direktor der Hamburger Kunsthalle, über seine neue Monografie “Vincent van Gogh“ (Beck Verlag) und die vielen anderen Bücher, die anlässlich des 150. Geburtstags des Künstlers im März veröffentlicht werden

Spiegel: Herr Schneede, pünktlich zum Jubiläum erscheinen jede Menge Bücher über van Gogh - werden die exzentrischen Qualitäten des Malers nicht doch überschätzt?

Schneede: Mich interessiert vor allem sein immer noch bestürzendes Werk. Wenngleich seine Lebensumstände uns bewegen, ist für mich aber das Entscheidende die heutige Sicht auf diese revolutionäre Kraft von damals.

Spiegel: Die worin bestand?

Schneede: In der subjektiven Freiheit bei der Neuerfindung der Moderne. Die klugen Briefe van Goghs an seinen Bruder machen deutlich, wie konsequent er aber die Situation des modernen Künstlers durchdachte. Er wollte die Isolation aufheben, eine Künstlerkolonie gründen. Damit nahm er vieles vorweg, was später für Künstlergruppen zu Beginn des 20. Jahrhunderts wie etwa „Die Brücke" von Bedeutung war.

Spiegel: Seit van Goghs Tod spukt ein anderes Bild in den Köpfen des Publikums herum: Er gilt als halbverrücktes Genie.

Schneede: Genial war er sicher; sein gigantisches, großartiges Werk ist ja innerhalb weniger Jahre entstanden. Wie kein Künstler vor ihm hat er sich der Natur ausgesetzt, auch der heißen südfranzösischen Sonne. Er musste ein Teil der Landschaft werden, um sie auf seinen Bildern zum Vibrieren zu bringen. Aber es gibt keine Hinweise darauf, dass er verrückt gewesen sein könnte. Er litt unter Anfällen und konnte dann nicht arbeiten, in den Zeiten dazwischen war er aber sehr klarsichtig und zielstrebig.

Spiegel: Van Gogh hat sich immerhin ein Ohr abgeschnitten - und nun soll er kein Irrwisch gewesen sein?

Schneede: Künstlerkollegen bekundeten schon zu Lebzeiten, dass sich van Gogh oft merkwürdig verhalten hat. Bei ihm war der Eigensinn sehr stark ausgeprägt, er passte nicht ins bürgerliche Raster seiner Familie und musste früh Konflikte austragen. Das begegnet uns aber heute auch. Ich bin sogar überzeugt davon, dass gute Künstler absolut eigensinnig sein und an Grenzen gehen müssen - eher eine Tugend also.

Spiegel: Ausstellungen über van Gogh sind zurzeit der Hit - die jüngste Schau in Bremen sahen 322.000 Besucher. Ist eine Steigerung seiner Popularität überhaupt noch möglich?

Schneede: Wer weiß? Das hat man vor ein paar Jahrzehnten wohl auch schon bezweifelt. Und dann wurden doch immer stärkere Besucherzahlen registriert und immer höhere Preise für seine Bilder bezahlt.

Blutbad unter Freunden

Hat sich das Malergenie Vincent van Gogh wirklich selbst das Ohr abgeschnitten? In der Kunstszene bahnt sich ein bizarrer Streit über die Rolle seines Kumpanen Paul Gauguin an.

Eines immerhin hat die Welt von „Big Brother” gelernt: Jede Wohngemeinschaft hinterlässt ihre Psycho-Opfer. Die schrecken dann nicht einmal davor zurück, mehr oder weniger öffentlich ein Kind mit Jenny Elvers zu zeugen oder sich und das Publikum mit einem Auftritt beim Schlager-Grand-Prix zu quälen.

Weil es aber diese sado-masochistischen Techniken zum Frustabbau im 19. Jahrhundert noch nicht gab und weil früher sowieso alles theatralischer ablaufen musste, tobte sich das Malergenie Vincent van Gogh anderweitig aus. Achteinhalb Wochen hatte er im Jahr 1888 mit seinem Künstlerkumpanen Paul Gauguin eine Wohnung im südfranzösischen Arles geteilt. Dann drehte er eines Nachts durch und säbelte sich, angeblich mit einem Rasiermesser, sein linkes Ohr ab.

So in etwa soll sich die berühmteste kosmetische Katastrophe in der Kunstgeschichte jedenfalls zugetragen haben – sie wurde zum viel strapazierten Beispiel für durchgeknallte Künstler.

Selbst Hollywood verfilmte das Blutbad, was Anthony Quinn für seine Darstellung Gauguins einen Oscar einbrachte. Unzählige Mediziner schoben dem Sonnenblumen-Meister van Gogh noch hundert Jahre später diverse Krankheiten unter, von purem Wahnsinn über verschiedene Formen der Epilepsie bis hin zu Stoffwechselstörungen.

Nun warten Kunstexperten gleich mit zwei spektakulären Neudeutungen des Dramas auf, die sich zwar widersprechen, aber gerade deshalb die Ohr-Rasur endgültig als blutiges Schlachtfest erscheinen lassen.

So startet demnächst im Art Institute von Chicago eine Ausstellung, die ausschließlich um das Horror-Camp in Arles kreisen soll - und damit Hunderttausende Besucher anlocken will („The Studio of the South". Vom 22. September bis 13. Januar 2002 im Art Institute of Chicago, vom 9. Februar bis 2. Juni 2002 im Van Gogh Museum in Amsterdam). Vorbereitet hat man die Schau gemeinsam mit dem Van Gogh Museum in Amsterdam. Jahrelang, so schwärmt Chef-Kurator Douglas Druick, habe ein ganzes Team von Wissenschaftlern geschuftet: Nun seien die Hintergründe der Selbstverstümmelung geklärt.

Sein Szenario: Bislang sei van Goghs religiöser Fanatismus unterschätzt worden. Der begnadete Maler, ein verhinderter Laienprediger, habe sich ständig zwischen Himmel und Hölle gewähnt. Schon lange habe er von einer klosterähnlichen Künstlerkolonie geträumt -und an diese paradiesische Heilserwartungen geknüpft. Gauguin war aber der einzige Künstler, der sich bei ihm in Arles blicken ließ. Dann aber kündigte der von van Gogh mal idealisierte, mal kritisierte Gauguin an, von Arles und dem Malerkollegen die Nase voll zu haben. Van Gogh, ahnt Druick, habe diese Botschalt „als seelischen Mord” empfunden. In seiner religiösen Hysterie habe er sich zum christusähnlichen Märtyrer stilisiert - und dazu, nach anderen biblischen Vorbildern, das Ohr gestutzt.

Alles falsch, meint dagegen die Hamburger Kunsthistorikerin Rita Wildegans, 59, und wagt eine riskante These: „Es war Gauguin, der van Gogh das Ohr abgeschnitten hat." Alldieweil van Gogh ihm zuvor wochenlang die Ohren zugequasselt hatte?

Fest steht: Die beiden erfolglosen Maler van Gogh und Gauguin, 35 und 40 Jahre alt, befanden sich beinahe pausenlos im Absinthrausch und gönnten sich trotz Geldmangels Abstecher ins Bordell. Zwischendurch stritten sie oder malten abgedrehte Bilder, die damals belächelt wurden und heute unbezahlbar sind.

Doch dann entwickelte sich die Spaß-WG zur Kamikaze-Kommune: Am 23. Dezember 1888 krachte es zwischen den beiden Sauf- und Malkumpanen - am nächsten Tag fand die Polizei den ohnmächtigen van Gogh in seinem blutbesudelten Haus: Bereits ohne sein linkes Ohr, denn das hatte er noch in der Nacht in den Puff geschleppt und es seiner Lieblingsprostituierten Rachel mit den Worten überreicht: „Heben Sie diesen Gegenstand sorgfältig auf.”

Das erfuhr die Polizei aus der Bordellszene - van Gogh hatte die Ereignisse der fraglichen Nacht vergessen. Er erlitt noch mehrere Nerven- und Ohnmachtsattacken, wurde zeitweise in Anstalten eingewiesen und erschoss sich 19 Monate später.

Alle weiteren Details der Grusel-Geschichte beruhen auf Gauguins Aussagen, die er bei gemeinsamen Freunden streute und in seinen 15 Jahre später verfassten Memoiren „Vorher und Nachher“ ausschmückte: Etwa, dass der irrsinnig aufgebrachte Freund es eigentlich auf ihn abgesehen hatte. Er sei ihm nachts durch Arles gefolgt und habe ihn mit dem Rasiermesser angreifen wollen. Doch habe sein, Gauguins, Blick ihn aufgehalten. Danach sei van Gogh nach Hause gerannt, um sich mal eben das Ohr abzuschneiden. Das habe er hernach ins Bordell gebracht.

Wildegans widerspricht dieser altbekannten Version. Der betrunkene Gauguin sei vielmehr so wütend über die panische Trennungsphobie des ebenso besoffenen van Gogh geworden, dass er mitten im nächtlichen Arles zugestochen habe. Van Gogh sei ins nahe Bordell und dann erst nach Hause getaumelt. Nicht umgekehrt. Deshalb habe sich Gauguin in dieser Nacht nicht nach Hause getraut, sondern im Gasthaus übernachtet.

Gauguin, der wahre Berserker von Arles? Längst sind sich alle Experten einig, dass der spätere Südsee-Aussteiger die Wahrheit gern verbog. War er aber so dreist, in der Van-Gogh-Affäre die Rollen von Täter und Opfer zu vertauschen?

Einige Fehler seiner Darstellung sind offensichtlich: So schreibt Gauguin, der sich gern mit den Figuren aus dem Roman „Les Miserables“ verglich, etwa von einem „Place Victor Hugo” in Arles, obwohl es einen solchen dort nie gab. Offenherzig lobt der Maler in seinen Lebenserinnerungen auch sein Spiel mit der Scheinheiligkeit und gibt zu: „Ich war oft böse und bereue es nicht." Nur zwei von vielen Andeutungen, die auf seine „Gewandtheit” anspielen.

Gauguin, das will die Kunstschau in Chicago beweisen, habe sich in den Memoiren zu Unrecht als van Goghs Lehrmeister aufgespielt, um sich rechtzeitig einen Anteil an dessen damals wachsendem Ruhm zu sichern. Dabei sei er es gewesen, der vom Kollegen ganze Kompositionen abgemalt habe. Aber zu glauben, motzt Ausstellungsmacher Druick, er habe van Gogh massakriert, sei der „völlige Wahnsinn“.

Wildegans, die bei Recherchen für ein Buch auf viele Ungereimtheiten auch in der kunsthistorischen Forschung zu van Gogh stieß, beharrt darauf, dass Gauguin van Goghs Selbstattacke erfunden habe - um nicht den eigenen Kopf zu verlieren.

Denn immerhin: Die Guillotine war noch in Betrieb. Nur wenige Tage nach dem Mini-Massaker in Arles erlebte Gauguin die Exekution eines prominenten Mörders in Paris, der Jahre zuvor einer Prostituierten die Kehle durchgeschnitten hatte. Nicht lange nach der Henker-Show modellierte er ein skurriles Gefäß - in Form eines bluttriefenden Selbstporträts, mit durchschnittener Kehle und ohne Ohren.

Später malte er van Goghs Sonnenblumen nach, in einer der Blüten ist ein schreckhaft aufgerissenes Auge zu sehen. Ist das nun Opfer- oder Tätersymbolik?

„Gauguin”, so Wildegans, „war ein rücksichtsloser und unberechenbarer Draufgänger.” Nie sei ernsthaft berücksichtigt worden, dass er ein versierter Fechter war. Man dürfe nicht zögern, dozierte er in „Vorher und Nachher”, jemanden, der noch nie gefochten habe, mit einem Kopf- oder Gesichtstich „abzuführen“.

Etliche Quellen belegten, sagt Wildegans, dass er eben nicht auf van Goghs Bruder gewartet habe, sondern fluchtartig aus Arles abgereist sei - und in der Eile nicht nur seine geheiligten Skizzenbücher, sondern auch seine Fechthandschuhe und -masken zurückgelassen habe. Ungeduldig verlangte er sie dann schriftlich zurück.

Van Gogh nannte sich in Briefen „neurotisch”, „wüst“ und „zerstört”, den Mitbewohner aber ein „wildes Tier”. Erbost war er über dessen hastigen Aufbruch: „Nehmen wir an, ich war so verrückt, wie ihr wollt - aber warum hat sich der erlauchte Freund nicht ruhiger verhalten?“ An Einzelheiten jener Nacht, also auch an das eventuelle Attentat Gauguins auf sein Ohr, konnte er sich nicht erinnern - er war sturzbetrunken und nervlich zerrüttet. Doch deutete er an, dass er den Ex-Untermieter für den eigentlich Wahnsinnigen hielt: „Wenn Gauguin in Paris wäre, um sich ein bisschen gründlich zu prüfen oder sich von einem Facharzt untersuchen zu lassen - wahrhaftig, was da herauskommen würde, weiß ich nicht recht. Ich habe ihn verschiedentlich Dinge tun sehen, die Du und ich uns nicht erlauben würden, weil unser Gewissen anders empfindet.”

Berechtigte Vorwürfe oder ein Ablenkungsmanöver von der eigenen Spinnerei? Wenn es um van Gogh geht, sind alle möglichen Verrücktheiten denkbar – und auch schon vorgekommen: Als der japanische Milliardär Ryoei Saito 1990 van Goghs Porträt seines Arztes Gachet für 135 Millionen Mark ersteigerte, kündigte er an, das Gemälde solle nach seinem Tod verbrannt werden. 1996 ist der Mann verstorben. Das teuerste Bild aller Zeiten wurde seither nicht wieder gesehen. Ulrike Knöfel