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Kunst über Kunst

Und jetzt bitte ich Sie, mir in den nächsten Raum zu folgen.« Damit knipste er das Licht an, und wir fanden uns in der Gesellschaft von vier weiteren Paaren, indes Praxi verschwunden war. Als wir uns alle im angrenzenden Saal um unseren neuen Führer versammelt hatten, begann er:

»Der französische Künstler Marcel Duchamp verstieß gegen das Gebot der Originalität, indem er industriell gefeitigte Gegenstände des täglichen Gebrauchs (ready mades) in den erblichen Adelsstand der Kunst erhob.« Dann lenkte er unsere Aufmerksamkeit auf einen Fahrradreifen, der auf einen Küchenhocker montiert worden war. Einige unter den Besuchern kicherten.

»Das provoziert natürlich genauso«, fuhr unser Cicerone fort, »wie wenn ein ungehobelter Prolet plötzlich zum Lordrichter von England ernannt worden wäre. Außerdem blockierte Duchamp die Unmittelbarkeit der Wahrnehmung, indem er durch seine Provokationen die sogenannte Concept Art vorbereitete: In ihr werden nur noch Begriffe und Ideen entwickelt, wobei das künstlerische Medium erst an zweiter Stelle rangiert: Der Betrachter soll sich das Bild dann vorstellen. Damit wird der Werkcharakter selbst gesprengt. Das läuft auf eine Entzweiung der bisherigen Kunst hinaus. Das Werk aber war so etwas wie ein menschlicher Leib: Seine Integrität war heilig und wurde so wie beim menschlichen Körper durch Tabus und zeremonielle Respektsbezeugungen geschützt. Im Prinzip wurde das Werk wie eine Person behandelt: Es drückte die ganze Persönlichkeit des Künstlers aus und sprach die ganze Persönlichkeit des Betrachters an.

Vielleicht kennen einige von Ihnen Oscar Wildes Roman Das Bildnis des Dorian Gray? Nein? Nicht? Da wird dieser Zusammenhang durch einen Rollentausch zwischen Bild und Person zum Ausdruck gebracht. Der Titelheld ist ein Wüstling, der auf dem Dachboden sein Porträt versteckt hat; auf diesem Bild zeigen sich nach und nach die Spuren des Lasters, während Dorian Gray selbst unverändert jung bleibt wie ein Kunstwerk. Als der Held schließlich entsetzt auf das Bild einsticht, findet man ihn entseelt, mit einem Messer in der Brust.

Diesen Mord am Kunstwerk begehen die modernen Künstler auch. Sie sprengen die Werkheiligkeit. Statt eines Werks, das wie ein schwarzes Loch wirkt, in dem alle Fragen verschwinden, zeigt die moderne Kunst Prozesse. Sie proklamiert (verkündet) nicht mehr die Unmittelbarkeit der Wahrnehmung. Statt dessen verfremdet sie diese durch ihre Bizarrerien, bis die Wahrnehmung selbst wahrnehmbar wird. Mit anderen Worten: Moderne Kunst ist fast immer Kunst über Kunst. Sie ist reflexiv gebrochen und gewinnt daraus ihre Paradoxien. Das heißt, sie thematisiert ihre eigenen Bedingungen. Schauen Sie auf diese Abbildung: Offensichtlich eine Pfeife. Aber mit einer rätselhaften Unterschrift: Ceci n'est pas une pipe. Was auf deutsch, frei übersetzt, ungefähr heißt: >Das ist keine Pfeife<.

Einige der Besucher lachten. »Was ist es denn?» murmelte eine Dame.

»Ja«, nahm unser Cicerone die Frage auf, »was ist es, wenn es keine Pfeife ist? Es ist deutlich zu sehen. Sie sehen es alle. Na? Sehe ich nur ratlose Mienen? Kann mir niemand sagen, was er sieht? Nun, lassen wir das erst einmal offen, und schavien wir uns ein anderes Bild desselben Malers an. Es heißt Carte blanche und ist von Rene Magritte.

Wir sehen eine Frau, die durch den Wald reitet. Aber mal wird ihre Gestalt von den Bäumen, mal von den Zwischenräumen zwischen den Bäumen verdeckt, während man sie durch die Bäume hindurch sehen kann. Und nun sehen Sie hier diese Tafel mit Morgensterns Gedicht Lattenzaun.

Es war einmal ein Lattenzaun / mit Zwischenraum, hindurchzuschaun.

Ein Architekt, der dieses sah, / stand eines Abends plötzlich da –

und nahm den Zwischenraum heraus / und baute draus ein großes Haus.

Der Zaun indessen stand ganz dumm, / mit Latten ohne was herum.

Wenn Sie den Text mit dem Bild von der Dame im Wald vergleichen, wirkt Magritte viel schockierender als Morgenstern. Warum? Weil unsere sinnliche Wahrnehmung für die Absicherung unseres Realitätsgefühls viel wichtiger ist: Wenn wir verbal getäuscht werden, ist das nicht so erschütternd, wie wenn wir unseren eigenen Augen nicht mehr trauen können. Weil die sinnliche Wahrnehmung so unmittelbar ist, war der Bruch mit der Malerei besonders kraß, als die moderne Kunst den Pakt mit der Abbildlichkeit kündigte. Seitdem gibt es die Modernisten, die die moderne Kunst verstehen, und es gibt die Traditionalisten, die sie ablehnen und die traditionelle Kunst anbeten. Und schließlich gibt es die Idioten, die der modernen Kunst in der gleichen Haltung gegenübertreten, die sie bei der traditionellen gelernt haben. Sie gehen dann in eine Ausstellung und verharren in andächtigem Schweigen vor einem Schrotthaufen; sie meditieren vor einer verrosteten Teekanne und versenken sich in den Anblick eines Drahtknäuels, als ob sie das Kreuz im Gebirge sähen. Und – jetzt werden Sie aufheulen – sie verwechseln >das Bild einer Pfeife< mit einer Pfeife.«

Daraufheulten wir alle auf. »Uhuhuhu.«

»Ich kann Ihre Reaktion verstehen. Das mit dem Bild von der Pfeife finden Sie einfach unfair. Die Konvention besteht schließlich darin, daß ein Bild sich nicht selbst kommentieren kann, so als ob es außerhalb seiner selbst stünde. Wenn es das tut, produziert es ein Paradox, weil es zugleich seine eigene Position und die des Betrachters einnimmt. Aber aus der sozialen Wirklichkeit kennen wir ähnliches, wenn etwa jemand, der als irrsinnig gilt, mit dem Psychiater ganz vernünftig über seinen Irrsinn redet. Er >fällt dann gewissermaßen aus dem Rahmen<, in den man ihn gestellt hat. Bezeichnend ist, daß es sich immer um Formen der Selbstbezüglichkeit handelt. Das läßt darauf schließen, daß das Wort >Ich< schon paradox ist: Wenn man sich als Ich erkennt, wer ist dann der Erkennende und wer der Erkannte? Oder anders ausgedrückt: Wenn man sich einem Spiegel gegenüber sieht, schaut man dann in den Spiegel hinein oder aus ihm heraus? Wer ist der Beobachtete und wer der Beobachter? Daran sieht man: Wenn wir das Bild mit dem Titel Dies ist keine Pfeife mit dem Satz vergleichen >Das letzte Wort dieses Satzes ist kein Hund<, verstehen wir ihn vielleicht besser.«