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Das Museum und die Mona Lisa
Im nächsten Raum war es, abgesehen von einem erleuchteten Quadrat an der Wand, völlig dunkel. In diesem Quadrat war die Projektion eines Gebäudes mit klassizistischem Giebel und einer ebensolchen Säulenfront zu sehen, das wie ein griechischer Tempel aussah. Darunter konnte man die Inschrift »Museum« lesen. Neben der Projektion erklärte jemand die Bilder. Wir waren mitten in einen Diavortrag geplatzt und ließen uns vorsichtig nieder.
»...so wie die Kirche ein Haus Gottes ist« , sagte der Vortragende, »ist das Museum die Wohnung der Kunst. Dort kann man sie besuchen. Aber sie hat dort nicht immer gewohnt. Das Museum ist nämlich eine Erfindung des Bürgertums, und es entsteht in der Französischen Revolution. Am ersten Jahrestag der Enthauptung Ludwigs XVI. wird der Louvre 1793 als erstes Museum eröffnet.«
Es erschien ein Bild des Louvre.
»Das Museum beerbt die Monarchie. Bis dahin hingen Gemälde in adligen Sammlungen, die nur den Oberschichten, aber nicht dem allgemeinen Publikum zugänglich waren. Die Revolution revolutionierte auch die Kunst. Und erst kurz vor der Revolution im 18. Jahrhundert ist das Bild als Einzelwerk erfunden worden. In der Zeit davor ist es Teil der Raumdekoration und diente einem Zweck. Es entsprach also eher unserer Tapete. Das zeigte sich auch daran, daß die Bilder in den adligen Sammlungen nicht als Einzelstücke aufgehängt wurden.«
Es erschien das Bild einer Bildersammlung, bei der die Bilder so dicht gedrängt hingen, daß man keine Zwischenräume mehr sehen konnte; sie bedeckten die Wände bis an die Decke, so daß man die obersten gar nicht genau betrachten konnte.
»Sehen Sie«, erläuterte der Vortragende, »damit die Bilder noch auf die freien Stellen paßten, wurden sie oft beschnitten und zurechtgestutzt. Die Zeiten, die diese herrlichen Bilder produzierten, hatten nur einen geringen Respekt vor der Integrität und Unverletzlichkeit des Kunstwerks. Dieser Respekt entsteht erst mit der Erfindung der Geschichte.«
Kaum hatte er das gesagt, verschwand das Dia mit der Bildersammlung, und statt dessen wurde ein Film eingeblendet, der ein großformatiges Buch mit reich ornamentiertem Deckel zeigte, auf dem das Wort »Geschichte« stand. Langsam wurde das Buch von unsichtbarer Hand aufgeschlagen, und während es umgeblättert wurde, lasen wir den Text:
Kleiner Exkurs über die Geschichte
Natürlich gab es auch schon vor der industriellen (ab 1770) und der Französischen Revolution (ab 1789) eine Geschichte in dem Sinne, daß etwas geschah. Aber man glaubte, daß sich die Geschichte im Prinzip wiederholte. Für Geschichte als Kollektivsingular, also als die eine Gesamtgeschichte und Biographie der Menschheit, gab es keinen Begriff. Statt dessen gab es nur Geschichten im Plural, Exempel, Lebensläufe, Haupt- und Staatsaktionen, den Sturz der Prinzen, Verschwörungen, Rebellionen, Karrieren, Liebesgeschichten und die Taten berühmter Männer. Das waren Geschehnisse, die sich zyklisch wiederholten. Durch die Wiederholbarkeit ihrer Abläufe sicherten sie die Kontinuität der Dinge. Das änderte sich mit der industriellen und der Französischen Revolution. Sie bewirkten eine solch grundlegende Umwälzung, daß sich nun auch die scheinbar unveränderliche Alltagswelt unter den Füßen der Menschen zu wandeln begann. Nicht nur die Könige wechselten, sondern auch die Verfassungen; und nicht nur die Jahreszeiten, sondern auch die Technik zu säen und zu ernten, zu kochen und sich fortzubewegen, zu wohnen und zu heizen; und sogar die Landschaft änderte sich, die sonst jahrtausendelang fast gleichgeblieben war. Dadurch änderte sich auch die Alltagswelt. Die Kindheit eines Menschen rückte dann in weitere Ferne; die Erinnerung gebar die Nostalgie; die Ferne wurde selbst zum Anlaß für träumerische Meditation; man spürte die Zeit selbst, die Kindheit wurde als eigentümlicher Erfahrungsraum entdeckt, Ruinen und verfallene Gemäuer wurden populär. Kurzum, auf die Erfahrung der Zeitbeschleunigung antwortete die Kulturrevolution der Romantik. Und zur Romantik gehört das Konzept einer umfassenden Geschichte. So wie es in der Politik Progressive und Konservative gibt, wird auch Geschichte nun doppelt verbucht: als Fortschritt und Verbesserung, als Revolution im technischen und politischen Bereich und als Aufbruch in die Zukunft; aber auch als Verlust des Alten, als Verfall der Autorität, als Vergänglichkeit, als Nostalgie und Sehnsucht nach dem, was man verloren hat: die Unmittelbarkeit der Jugend, die Nähe, die Direktheit und die sinnliche Intimität kindlicher Erfahrung, also das, was Goethe »naiv« nennt. Und auf diese Sehnsucht antwortet das Museum. In ihm sind alle Epochen gleichzeitig vorhanden. Hier betet man die Geschichte in Form der Kunst an.
Als der Text zu Ende war, erschien plötzlich das Bild der Mona Lisa. Und während ihr zu unserem Entsetzen langsam ein Schnurrbart wuchs, fuhr der Vortragende ungerührt fort: »Deshalb beerbte das Museum nicht nur den Königspalast, sondern auch die Religion. Aber statt der Kirche imitiert es den Tempel. Seine meist klassizistische Architektur drückt das aus. In ihm huldigt man den neuen Göttern der Kunst, indem man vor ihren Bildern in Andacht versinkt. Denn hier zeigt sich die Geschichte als Unmittelbarkeit. Das ist ein Paradox. Man sieht das Vergangene in Form seiner sinnlichen Evidenz. Dieser Widerspruch wirkt wie ein Rätsel, in das man sich versenken kann. Es ist so tief wie die Rätsel am Grunde der Religion, etwa der Fleischwerdung des Geistes. Daß das Historische, Vergangene, unverständlich Gewordene in solch sinnlicher Unmittelbarkeit in Erscheinung treten kann — das ist das Wunderbare. Das ermöglicht es, die Fülle der Erfahrung der Geschichte in direkter Unmittelbarkeit zu genießen.
Vor diesem Hintergrund machte der Oxforder Kunstprofessor Walter Pater in seinen Schriften und Vorlesungen die Mona Lisa von Leonardo da Vinci zur bekanntesten Ikone der neuen Kunstreligion: Unzweideutiges Lächeln deutete er als Reaktion darauf, daß ihr keine Erfahrung der Geschichte mehr fremd war. Und ihr rätselhaft verschleiertes Mienenspiel interpretierte er als Ausdruck der Tatsache, daß sie alle Erlebnisse der Welt gekostet hatte. Sie war erlebnissatt von Geschichte. Eine historische Medusa. Damit wurde die romantische Träumerei zur lprägenden Form der Kunstbetrachtung. Man versenkte sich in ein ld wie in ein stilles Gebet; man betrachtete es in Form der Einkehr; man hielt Zwiesprache mit ihm, die um so intimer war, als sie stumm war. Sie konnte nicht entweiht werden. Vor der Kunst verfiel man wie vor Gott in Schweigen. Wenn man ein Bild betrachtete, blickte man auf dieselbe Weise in die Ferne wie die Figuren auf Caspar David Friedrichs Eine Frau und ein Mann in Betrachtung des Mondes.«
Die Mona Lisa verschwand, und an ihre Stelle trat ein Bild, auf dem drei Figuren von den Kreidefelsen Rügens aus aufs Meer blicken. Der Vortragende hatte die Bilder verwechselt.
»Das läuft auf ein weiteres Paradox hinaus», fuhr er fort: »man findet Kunst tief, gerade weil man sie nicht versteht. Um so mehr kann man ihr Sinn unterstellen. Bilder werden zu >Sinncontainern<, in die man jeden Sinn hineinprojizieren kann. Es ist dieses Paradox, daß die Moderne Kunst zu einer radikalen Kehrtwende veranlaßt hat: Sie schneidet die Unmittelbarkeit der sinnlichen Wahrnehmung ab, indem sie keine Gegenstände mehr abbildet. Zugleich erhöht sie die Unverständlichkeit, um die meditative Versenkung in den Rätselcharakter des Werks aus der Deckung zu treiben und sie als das zu entlarven, was sie ist: der Gottesdienst einer Kunstreligion, die davon lebte, daß man nichts verstand.«