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Das Inkarnat und das Leben Rubens hat Glück mit Martin Warnke: Der entdeckt noch einmal “Leben und Werk”
Von Petra Kipphoff
Der Kunsthistoriker Mertin Warnke, der im November des vergangenen Jahres den »Gerda Henkel Preis für Exzellenz in Geisteswissenschaften« für sein Lebenswerk erhielt, ist ein Wissenschaftler und ein Protestant dazu. Schon manch einer seiner Kollegen und F'reunde hat sich da die wissenschaftsferne Frage gestellt, wieso Warnke, dessen bedeutendste Leistung wohl die Etablierung der politischen Ikonografie in der Kunst- und Kulturgeschichte ist, seine Erweckung zum Kunsthistoriker mit Peter Paul Rubens erlebt und diesen Künstler auch über die Jahre hinweg immer wieder in Publikationen kommentiert hat. Die Erklärung ist sehr einfach und nützt doch nichts. Dem ju ngen Mann, der seine Pfarrersfamilien-Kindheit in einem Dorf in Brasilien verbracht hatte und der erst zum Abitur und Studium nach Deutschland kam, waren bei seinem ersten Besuch in der Münchner Alten Pinakothek in den Rubens-Sälen die Augen übergegangen. So viel fluktuierendes Fleisch war nie. War es Zufall oder Absicht, dass er dann bei Hans Kaufmann studierte, der über Rubens las? Dass es ihm als Wissenschaftler aber nicht nur um das Inkarnat, wie die Farbe des Fleisches so schön in der Terminologie der Kunst heißt, ging, belegte das Thema seiner Dissertation: Kommentare zu Rubens, der Gegenstand der Betrachtung waren die Briefe.
Hatte Warnke Glück mit Rubens oder Rubens Glück mit Warnke? Der große und ein Leben lang begehrte flämische Maler, dessen Erfolg die französische Akademie, die im Namen der Grande Nation die Kunst und Kultur des Abendlandes juriert, zu einer Spaltung der Malerei in Rubenisten (Meister der Farbe) und Poussinisten (Künstler der Linie) herausforderte, bedurfte natürlich nicht der Entdeckung. Aber der Blick auf ihn bedurfte der Erweiterung und neuer Akzente. Denn Rubens war nicht das mit sich selbst beschäftigte Genie, sondern ein Mann von Welt in seiner Zeit: Er war humanistisch gebildet und viel gereist, wusste eine große Werkstatt zu organisieren, sich am Hof von Mantua ebenso wie im Rathaus von Antwerpen zu empfehlen und jahrelang als Diplomat tätig zu sein, der zwischen den im Namen des Herrn verfeindeten nördlichen und südlichen Niederlanden sowie zwischen England und Spanien erfolgreich vermittelte. Noch im Jahr 1636, vier Jahre vor seinem Tod, wurde er zum Hofmaler des Kardinal-Infanten Ferdinand ernannt, es folgte der Auftrag für die Ausschmückung der Torre de la Parada in Madrid, wo 1638 dann 112 Bilder aus der Antwerpener Werkstatt eintrafen.
Rubens — Leben und Werk heißt die Publikation, die Warnke jetzt vorlegt und die auf einem 1977 erschienenen DuMont Kunsttaschenbuch basiert, das zum 400. Geburtstag des Künstlers erschienen ist. In der neuen Fassung sind aktuelle Forschungsergebnisse berücksichtigt und einzelne Aspekte hinzugekommen, so die Ausfuhrungen über das Bacchantische bei Rubens, eine aparte Entdeckung der späteren Jahre. Leben und Werk, das meint bei Warnke keine Parallelführung von Biografie und Kunst mit direkt sichtbaren Folgen. Warnke erkennt in Rubens' Werken eher die »Gegenentwürfe zum tatsächlichen Leben« und folgert daraus: »Die Malerei tritt dem Leben mit dem Anspruch gegenüber, ein eigentümliches Medium der Erkenntnis und der Erfahrung zu sein.“ Als „Medium der Erkenntnis« benutzte Rubens, der Maler und der Diplomat, eine allegorische Bildsprache, in der die Konflikte seiner Zeit in die Gefilde der Mythologie und der Antike transponiert und entrückt wurden. Durch die Aufrufung von Göttern und Genien, antiken Helden und Schurken, durch Allegorien und Metaphern konnte man Politik machen, ohne die Dinge und Personen, beim Namen zu nennen. Ein elaborierter Mummenschanz, eine Kunst der verhüllten Botschaften, die neben Rubens auch andere Künstler seiner Zeit zu inszenieren verstanden. Aber keiner tat es mit diesem Überschwang, in dieser Fülle und Souveränität. Und keiner in diesem Format, keiner mit dieser Lust am Inkarnat.
Woran liegt es, dass Rubens heute einem größeren Publikum als der Maler der großen Schinken gilt (womit eher die Dimension der Bilder als die karnale Konsistenz der Schenkel, Brüste und Gesäße gemeint ist) und die Besucher der Alten Pinakothek sich eher vor Rubens' Doppelporträt mit seiner jungen Frau Isabella Brant versammeln als vor seinem Raub der Töchter des Leukippos (den Warnke mit guten Gründen in eine Rettung umdeutet)? Natürlich weil das Doppelporträt des jungen, stolzbürgerlichen Paares doch eine gewisse Auskunft gibt über die Person und Rolle des Künstlers, auch wenn diese komplexer ist, als es der uninformierte Betrachter erkennen kann. Aber bei den geretteten oder geraubten Töchtern des Leukippos, dem trunkenen Silen oder den drei Grazien begründet sich die amüsierte Distanz (über keinen großen Maler gibt es so viele Karikaturen wie über Rubens, die Warnke übrigens gesammelt hat) ja nicht durch das in der Tat vorhandene Manko einer humanistischen Bildung, die Rubens und seinem Publikum selbstverständlich zur Verfügung stand. Es ist eher so, dass die Sinnlichkeit vermisst wird. die durch den Überfluss der nackten Leiber zwar insinuiert, tatsächlich aber vernichtet wird. Von der Erotik nicht zu reden. Rubens' Drei Grazien könnte man gut in einem Priesterseminar aufhängen, zum Abgewöhnen, denn welcher junge Mann hat schon Lust auf Cellulitis? In einem etwas einseitigen Sinne erfüllt dieses Bild natürlich auch den »Wirklichkeitsanspruch«, den Warnke postuliert.
Vielleicht verdankt es sich der christlichen Thematik, dass die Altarbilder, die Kreuzigungsszenen und andere biblische Themen dem heutigen Betrachter weniger entfernt erscheinen als die Turbulenzen beim olympischen Personal. Die biblischen Szenen gewinnen ihre Dramatik nicht durch theatralische Gesten überdimensionierter Leiber, sondern durch eine Verbindung von Körpersprache, Lichtführung und Kolorit, die das Heils- und Unheilsgeschehen in einer Weise Wirklichkeit werden lassen, die Katholiken und Protestanten in einer gemeinsamen Erkenntnis vereinen kann. Vielleicht hat der Diplomat hier sein größtes Kunstwerk geschaffen. Was auch bedeuten würde, dass die Freunde und Kollegen die Wahlverwandtschaft von Künstler und Kunsthistoriker beim Namen nennen könnten.