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Einführung

»Was bringt die Adelszeitung Neues? / Sie bringt, was ihr von alters wißt, / Daß uralt aller Adel ist, / Denn eh die Welt den Heiland sah, / War schon der deutsche Adel da« (i) - und er blieb noch lange da, als er den Willen des emanzipierten Bürgers mitzuregieren nach den Befreiungskriegen von 1813 und nach den bedrohlichen Märzunruhen des Jahres 1848 ohne größeren Schaden überstanden hatte. In den Schlachten bei Jena und Auerstedt 1806 hatte es sich herausgestellt, daß man der französischen Eindringlinge nicht Herr werden konnte, ohne den kämpfenden Soldaten ein Mindestmaß an persönlicher Freiheit einzuräumen. So hatte sich der preußische König Friedrich Wilhelm III. genötigt gesehen, den Reformen seiner Minister Stein und Hardenberg zuzustimmen, die den Bauern von den Fesseln der Leibeigenschaft lösten und in Preußen die Gewerbefreiheit einführten. Das Heer selbst wurde durch Scharnhorst, Gneisenau, Clausewitz und andere reformiert, die entehrende Prügelstrafe abgeschafft und das Offiziersprivileg des Adels beseitigt. Der Bürger erhielt Versprechungen auf Mitbestimmung im Lande, wenn der Feind erst einmal besiegt wäre. Der Freiheitswille der unterdrückten Völker vollbrachte schließlich, was feudaler Drill nicht vermocht hatte: Napoleon wird aus den besetzten Gebieten vertrieben und zur Abdankung gezwungen.

Der Begeisterungstaumel über die Leistung der eigenen Kraft überbrückt die Wartezeit auf den Ausgang des Wiener Kongresses, zu dem sich am 18. September 1814 die europäischen Staaten versammelt haben, um über das Gesicht Europas nach dem Friedensschluß und die zukünftige Verfassung der deutschen Länder zu entscheiden. Inzwischen feiern in vielen deutschen Städten die Patrioten den Jahrestag der Leipziger Völkerschlacht und wärmen ihre geschundenen Glieder an der Vorfreude auf einen einheitlichen deutschen Nationalstaat – und inzwischen kehrt Napoleon zurück und führt den Krieg fort, noch ehe sich der Adelskongreß über Hegemonie oder Souveränität der deutschen Staaten einig werden kann. Im Sommer des Jahres 1815 wird in Wien der Deutsche Bund gegründet, der in der nominellen Vereinigung von 41 deutschen Kleinstaaten zu einem Bund die territoriale Zersplitterung Deutschlands befestigt und die absolute Souveränität der Monarchen wiederherstellt. In einem Bundestag sind sie zwar formal gleichberechtigt vertreten, doch gehören 58% der Bevölkerung des gesamten Bundes zu Preußen und Österreich, wobei noch nicht einmal alle von diesen beiden Mächten beherrschten Landesteile dem Deutschen Bund eingegliedert wurden. Dadurch hängt das Schicksal der deutschen Länder wesentlich vom Willen Preußens und Österreichs ab, die außerdem noch mit Rußland ein Bündnis zur gegenseitigen militärischen Unterstützung schließen: die Heilige Allianz, die fortan zum gefürchteten Unterdrückungsinstrument aller freiheitlichen Regungen der Völker Europas wird.

Die Fürsten gewannen also ihre alten Rechte zurück, und der Bürger sah sich um die Früchte seiner Opfer fürs Vaterland betrogen. Das krasseste Beispiel der Restauration der Adelsgewalt lieferte wohl Hessen, dessen Kurfürst bei seiner Rückkehr nach Kassel im Jahre 1813 alles so wieder eingerichtet wissen wollte, wie er es am Tage seiner Flucht verlassen hatte. Sieben Jahre sollten aus der Geschichte des Landes gestrichen werden, und der hessische Soldat bekam zum äußeren Zeichen erneut einen Zopf von 15 Zoll Länge verpaßt!

Die Entlassung der Soldaten aus dem Kriegsdienst nach Beendigung der Kämpfe zögerte sich hinaus, wodurch Mißstimmung entstand, anhaltende Regenfälle vernichteten 1816 die Ernte und führten zu Hungersnot, England ließ in seiner durch die Kontinentalsperre aufgestauten billigen Warenflut die deutsche Konkurrenz ertrinken. Die deutsche Wirtschaft, die auf Grund der feudalen Zerrissenheit des Landes ohnehin schon gegenüber England oder Frankreich im Rückstand gelegen hatte – 1800 betrug das Volumen des deutschen Außenhandels einschließlich Österreichs nur etwas über ein Viertel des englischen -, konnte sich nach den verheerenden Kriegsjahren nur schwer erholen. Zollschranken im Landesinnern und an seinen Grenzen und ein Wust sich widersprechender Zollgesetze verteuerten und beengten den Warenverkehr, Industrie war äußerst spärlich vorhanden, und wo Maschinen eingeführt wurden, brachten sie, wie in Schlesien, Tausende um Brot und Lohn. 1837 gab es in Berlin nur 29 Dampfmaschinen, und in ganz Sachsen arbeiteten 1846 trotz des Aufschwungs, den die Industrialisierung seit etwa Mitte der dreißiger Jahre nahm, erst 167 Dampfmaschinen, während in England bereits 1810 ungefähr 5000 in Betrieb waren und in Frankreich etwa 200. Im Jahre 1834 erfolgte die Gründung des Deutschen Zollvereins, der auf Betreiben Preußens zustande kam, da seine Güter beim Übergang von einem Landesteil in den anderen, geographisch getrennt liegenden fremde

Fürstentümer passieren mußten und auf diese Weise mit einer besonders hohen Zollgebühr belastet wurden. Aber nicht nur die Beseitigung der Zollgrenzen innerhalb des Deutschen Zollvereins begünstigte den Warenverkehr und Absatz und damit die Entwicklung der Industrie, wesentlichen Anteil an der Vergrößerung des Marktes trug die Eisenbahn – wohl die entscheidende technische Neuerung dieser Jahrhunderthälfte! Man war zwar allgemein gar nicht so begeistert von diesem »Teufelswerk«. Die einen sahen die alte Postkutschenromantik schwinden, die eigentlich aller Romantik entbehrte, wenn man bedenkt, was für eine halsbrecherische Angelegenheit eine Reise im hartgepolsterten Wagen über holprige, schlammige und auch sonst unsichere Straßen war. Zweiunddreißig, später dann achtzehn Stunden waren nötig, um beispielsweise von Berlin nach Halle zu gelangen; dazwischen lagen Pferdewechsel, Gepäckvisitationen, Befragungen, Gebühren. Andere wiederum waren besorgt, daß die Dampfeisenbahn oder gar der Eisenbahntunnel besonders Herz- und Gefäßkranken schaden könnten. Und wieder andere fürchteten – und das nicht zu Unrecht -, daß mit dem neuen Verkehrsmittel das »gefährliche« französische Gedankengut nur um so schneller im eigenen Land Verbreitung fände, in dem der Geist des Aufruhrs ohnehin nie ganz zur Ruhe gekommen war und durch die Pariser Julirevolution von 1830 gerade neue Nahrung erhalten hatte. Friedrich List hatte große Schwierigkeiten, ehe am 7. Dezember 1835 die erste mit Dampfkraft befahrene Eisenbahnstrecke zwischen Nürnberg und Fürth eröffnet werden konnte. 1838 folgte die Verbindung Berlin-Potsdam, die schon sehr bald täglich etwa zweitausend Passagiere beförderte, und am 7. April 1839 die Strecke Dresden-Leipzig, die in fünfeinhalb Stunden zurückgelegt wurde. Seine Idee von einem umfassenden deutschen Eisenbahnnetz konnte List allerdings nicht verwirklichen. Ganz gewiß auch verfocht er seine Pläne nicht mit dem allergrößten Geschick, wenn er dem auf seine Grenzen bedachten Fürsten vorschwärmte: »Wie unendlich wird die Kultur der Völker gewinnen, wenn sie in Massen einander kennenlernen, wie schnell werden bei den kultivierten Völkern Nationalvorurteile, Nationalhaß und Nationalselbstsucht besseren Einsichten und Gefühlen Raum geben. Wie wird es noch möglich sein, daß die kultivierten Nationen einander mit Krieg überziehen, wenn erst die große Mehrzahl der Gebildeten miteinander befreundet sein wird?« (2) Gerade die Bildung war es, die der regierende Adel zwar für unter seiner Würde hielt, die er aber andererseits beim Bürger ängstlich fürchtete. Notgedrungen hatte Preußen nach 1813 das Schulwesen verbessert und dabei besonders auf das Volksschulwesen geachtet, das vordem nicht einmal ausgebildete Lehrer kannte. Den Unterricht besorgten ausgediente Soldaten, Handwerker und Bediente, und die Literatur bewahrt die Klagen manch namhaften Mannes über die brutalen Schläge, die er einst von seinen Erziehern bezogen hat. In dieser Hinsicht machten auch die privaten Lehranstalten keine Ausnahme. Lediglich sehr reiche Familien konnten sich einen Hauslehrer halten. Selbst nach der Schulreform waren viele Kinder dazu verurteilt, Analphabeten zu bleiben, denn in armen Familien wurde jede Hand zum Arbeiten gebraucht. Das Handwerksund Handelsbürgertum schickte seine Söhne auf Bürgerschulen, Gymnasien und Universitäten, und das bedeutete Gefahr für die herrschende Adelskaste. Denn die Universitäten waren Unruheherde im Lande, von denen seit Ende der Befreiungskriege ständig fortschrittliche, revolutionäre Aktionen ausgingen. Schon 1815 war in Jena eine Burschenschaft gegründet worden, die ab 1818 als ersten Schritt zur nationalen Einheit Studenten aller Universitäten aufnahm. Später entstanden Handwerkerbildungsvereine und mit der Entwicklung der kapitalistischen Industrie die ersten Arbeiterbildungsvereine.

Bildung und Reichtum waren die neuen Werte, die das Bürgertum gegen den Geburtsadel setzte. In eins mit der Erziehung des Geistes ging das Trainieren des Körpers, das man während des Krieges sogar von Staatsseite unterstützt hatte. Turnvater Jahn durfte 1811 auf der Berliner Hasenheide seinen ersten Sportplatz einrichten und setzte, nachdem er selbst mit an der Vertreibung der napoleonischen Truppen teilgenommen hatte, nach Friedensschluß seine Turnbewegung mit großer Anhängerschar fort, jetzt allerdings aus Haß auf die Franzosen in reaktionärem teutonischem Geist. »Welschen« hieß fortan für ihn »fälschen«, und er rottete rücksichtslos die französischen Vokabeln im Wortschatz seiner Zöglinge aus. Friedrich Engels sagt über diese Zeit: »Dann kamen die Kongresse und gaben den Deutschen Zeit, ihren Freiheitsrausch auszuschlafen und sich, erwachend, in dem alten Verhältnis von Allerhöchst und Alleruntertänigst wiederzufinden. Wem die alte Strebenslust noch nicht vergangen war, wer sich noch nicht entwöhnen konnte, auf die Nation zu wirken, den jagten alle Gewalten der Zeit in die Sackgasse der Deutschtümelei. Nur wenige ausgezeichnete Geister schlugen sich durch as Labyrinth und fanden den Pfad, der zur wahren Freiheit führt ... die Hinführung Deutschlands zu ihren (der Deutschtümelei. Der Verf.) Idealen konnte nur durch Negation eines Jahrtausends und seiner Entwicklung geschehen, und so wollte sie die Nation ins deutsche Mittelalter oder gar in die Reinheit des Urdeutschtums aus dem Teutoburger Walde zurückdrängen. Das Extrem dieser Richtung bildete Jahn ... Namentlich gegen die Franzosen ... wandte sich der bilderstürmende Grimm der meisten. Die großen, ewigen Resultate der Revolution (von 1789. Der Verf.) wurden als >welscher Tand< oder gar >welscher Lug und Trug< verabscheut; an die Verwandtschaft dieser ungeheuren Volkstat mit der Volkserhebung von 1813 dachte niemand; was Napoleon gebracht hatte: Emanzipation der Israeliten, Geschworenengerichte, gesundes Privatrecht statt des Pandektenwesens, wurde allein um des Urhebers willen verdammt. Der Franzosenhaß wurde Pflicht.« (3) Die Deutschtümler besaßen auch unter der studentischen Jugend viele Anhänger, und Turnvater Jahn war maßgeblich beteiligt, als fast fünfhundert Burschenschaftler am Abend des 18. Oktober 1817 auf der Wartburg den Jahrestag der Völkerschlacht bei Leipzig und das dreihundertjährige Jubiläum der Reformation mit einer Bücherverbrennung feierten. Die Zeitungen berichteten ausführlich, daß auch eine preußische Ulanen-Schnürbrust, ein hessischer Zopf und ein österreichischer Korporalstock, Symbole der Reaktion, mit in die Flammen geworfen wurden. Die Folge war das Verbot der studentischen Verbindungen durch die preußische Regierung und die polizeiliche Überwachung der Turnbewegung.

Noch im selben Jahr arbeitete die Gießener Burschenschaft einen »Entwurf der deutschen Reichsverfassung« aus; ganz Deutschland sollte eine souveräne Republik werden, in der alle Bürger gleich sind und das stehende Heer abgeschafft ist. Zum Erreichen dieses hochgesteckten Zieles forderten die »Schwarzen«, wie sich die Studenten um die Brüder Folien nannten, gewaltsamen Umsturz, auch mit Mitteln des individuellen Terrors, der schließlich nicht ausblieb, als der völlig belanglose, wenn auch seinerzeit vielgespielte Theaterdichter Kotzebue wegen des Verdachts, zaristische Spitzeldienste zu leisten, 1819 vom Burschenschaftler Sand ermordet wurde. Die Tat brachte dem Mörder die Märtyrerverehrung ein – sogar Pfeifenköpfe, Tabakdosen und Andenkentassen zierte in der Folgezeit sein Bild – und den Universitäten Metternichs Karlsbader Beschlüsse. Es begann eine Jagd auf Gedanken der Einheit und Freiheit. Presse und Universitäten, Gelehrte und Dichter, Burschenschaftler und Turner wurden der Willkür von Polizei und Justiz ausgesetzt. Die bald berüchtigte Mainzer Zentraluntersuchungskommission sandte ihre Demagogenschnüffler aus, und Emporkömmlinge wie der preußische Geheimrat Heinrich von Kamptz erwarben sich in jenen Jahren mit Dokumentenfälschungen, Einbruch und körperlicher Grausamkeit gegenüber den Opfern ihren traurigen Ruhm. Professoren, Geistliche, Studenten wurden verhaftet und des Hochverrats angeklagt oder ohne Prozeß in Gefängnislöchern gesundheitlich ruiniert. Das Urteil sah in den jeweiligen deutschen Staaten unterschiedlich aus und reichte bis zu fünfzehn Jahren Zuchthaus in Preußen.

Als ungefähr zehn Jahre später nach der Julirevolution in Frankreich, die zum Sturz der Bourbonen und zur Errichtung einer konstitutionellen Monarchie führte, auch auf deutschem Gebiet politische Unruhen ausbrachen, an denen nicht nur die Bürger, sondern auch die Bauern und die Arbeiter beteiligt waren, nahm die Demagogenverfolgung Ausmaße an, daß schließlich kaum eine fortschrittliche Persönlichkeit jener Epoche den hinterhältigen Nachstellungen entging. Hatten zuvor viele Deutsche vornehmlich aus wirtschaftlichen Erwägungen ihr Land verlassen und waren nach Amerika ausgewandert, so flohen jetzt Scharen politisch Verfolgter nach Frankreich und in die Schweiz. Trotzdem blieb auch in den deutschen Ländern die Opposition rege. In Hambach wurde 1832 vor dreißigtausend Anwesenden die Forderung nach einer Republik erhoben, Georg Büchner verkündete 1834 in seinem »Hessischen Landboten«: »Friede den Hütten! Krieg den Palästen!« und gründete noch im selben Jahr, in dem sich in Paris der »Bund der Geächteten« bildete, zu dem sich in der Mehrzahl geflohene Handwerksgesellen zusammenfanden, in Darmstadt die »Gesellschaft der Menschenrechte«. In Bern entstand eine Vereinigung emigrierter revolutionärer Demokraten, die sich »Junges Deutschland« nannte, und in Paris trennten sich die proletarischen Mitglieder von dem kleinbürgerlich geführten »Bund der Geächteten« und gründeten 1836 einen »Bund der Gerechten«. 1837 verweigerten sieben Göttinger Professoren, zu denen auch die Brüder Grimm gehörten, dem König von Hannover den Diensteid, da sie einen Eid auf die Verfassung geleistet hatten, und verloren daraufhin ihr Amt und Einkommen. Eine Welle der Sympathie schlug ihnen entgegen, Geldsammlungen wurden für die nun Mittellosen veranstaltet. Die Unbeugsamkeit dieser Männer hat wohl wesentlich dazu beigetragen, daß die deutschen Professoren das Ansehen würdiger Volksvertreter gewannen und über hundert von ihnen später in das Frankfurter Parlament gewählt wurden. Bei den fortschrittlichen Kräften jener Jahre, dem noch nicht zur politischen Macht gelangten Bürgertum sowie den Bauern und den Arbeitern, bestanden zwei Auffassungen über die Zukunft Deutschlands: die einen sahen in einer konstitutionellen Monarchie ihre Ziele verwirklicht, die anderen forderten die Republik. Die ersteren hofften immer noch auf die Einsicht des Monarchen, der sich eines Tages zur Sache seiner bürgerlichen Untertanen und zur Menschlichkeit bekehren müsse. Etwa wie es 1836 in den Tagebuchnotizen Varnhagen von Enses anklingt: »Wir leben von und in Einrichtungen, die wir mißbilligen. Das ist eine große Verkehrtheit, deren Nachteile künftig ausbrechen und einmal das größte Verderben herbeiführen müssen. Wer die Einsicht hat, entbehrt der Macht und wer die Macht hat, der Einsicht. Verwahrloster, unhaltbarer, geistleerer war unser Zustand 1806 nicht als jetzt.« (4)

1840 stirbt Friedrich Wilhelm III., und Friedrich Wilhelm IV. wird preußischer König. Er gibt sich zunächst den Anschein eines Schöngeists, setzt den während der Demagogenprozesse seines Amtes enthobenen Professor Arndt wieder in seine Rechte ein, beruft Jakob und Wilhelm Grimm an die Berliner Akademie und hält dem Volk lange und wohltönende Reden — und weist die Forderungen nach Verfassung, bürgerlicher Mit­bestimmung und Pressefreiheit zurück.

Im Laufe der vierziger Jahre verschärfen sich die politischen und sozialen Gegensätze in Deutschland. Mißernten und Preissteigerungen führen zu Hungerrevolten. Die verzweifelten schlesischen Weber zertrümmern die Maschinen der Fabrikanten und werden dafür zusammengeschossen. Als es im Februar 1848 in Frankreich gelingt, Louis Philippe zu stürzen und eine Republik auszurufen, springt der Funke der Revolution auf Deutschland über. Ausgehend von den süddeutschen Staaten, flackern Volksaufstände im ganzen Land auf. Die bürgerlichen Revolutionäre fordern im Verein mit den Studenten und den Arbeitern, die sich bereits als Klasse zu formieren beginnen und schon am Vorabend der Revolution das »Kommunistische Manifest« besitzen, bürgerliche Rechte und Freiheiten und eine einheitliche Nation. Berlin und Wien werden Zentren der blutigen Auseinandersetzungen. In den Fürstentümern entstehen verfassunggebende bürgerliche Körper

XI

Schäften, und eine Nationalversammlung soll die Grundlagen des deutschen Nationalstaats ausarbeiten. Doch die konservative Bourgeoisie, die" sich gegenüber den kleinbürgerlichen Demokraten durchzusetzen vermag,, fürchtet das aufstrebende Proletariat mehr, als sie ihre Freiheiten liebt. Sie verbündet sich mit der feudalen Adelsreaktion, und während die-Nationalversammlung noch über die Verfassung des künftigen Reichesdebattiert, haben die Landesfürsten bereits wieder ihre alten Machtvollkommenheiten zurückerobert und können alle weiteren Erhebungen niederschlagen. Der preußische König lehnt die deutsche Kaiserkrone naserümpfend ab, da er sie nicht aus den Händen der Revolution entgegennehmen will, und Österreich besteht auf der Hegemonie im künftigen Staatenbund, dem auch die habsburgischen Erblande angehören sollen. Es ist nur noch eine Folgerichtigkeit der Ereignisse, daß das Frankfurter-Parlament durch Militär auseinandergejagd wird. Eine deutsche Einheit durch das Volk zu schaffen war mit dem Verrat der Bourgeoisie an den revolutionären Verbündeten gescheitert und nun der Weg freigegeben zu> der preußisch geprägten Reichseinigung »von oben« durch Bismarck 1871.. Die Zeit zwischen den Befreiungskriegen und der Revolution 1848 ist durchzogen vom geistigen Emanzipationskampf des Bürgertums gegenüber dem Feudaladel mit seinem überholten Staatswesen. In diesen Jahren strebt die neue kulturpflegende Gesellschaftsschicht, das Bürgertum, danach, ihre Ansprüche stärker öffentlich zur Geltung zu bringen, und so drängen die bürgerlichen Theorien eines humanistischen Zusammenlebens in der Gesellschaft des Staates, die schon im 18. Jahrhundert von philosophischen Denkern wie Lessing und Kant formuliert wurden, im neuen Jahrhundert zu Taten.

Während der napoleonischen Kriege hatte Fichte das deutsche Volk zum Freiheitskampf aufgerufen. Hegel indessen drang weiter in die Geheimnisse des Weltbaus ein und entwickelte ein System der dialektischen Geschichtsbewegung. Er definierte die Geschichte als »das Fortschreiten im Bewußtsein der Freiheit« und übte auf das Denken seiner Zeitgenossen wesentlichen Einfluß aus, auch wenn er nach der Ergründung des Universums in das Preußen Friedrich Wilhelms III. zurückkehrte, das ihm dem Ziel seiner Wünsche am nächsten schien. Nach seinem Tode wandten sich seine Schüler, die sogenannten Junghegelianer, von den seinem System noch innewohnenden religiösen Vorstellungen ab und huldigten in eigenen philosophischen Werken materialistischen Gleichheitsideen. All diese bürgerlichen fortschrittlichen Philosophien, die von Kant über Hegel zu den Junghegelianern und Feuerbach führten, wurden von Marx und Engels im dreifachen Hegelschen Sinn aufgehoben: überwunden, aufbewahrt und zu einer neuen Qualität erhoben. Karl Marx und Friedrich Engels entwickelten für die neue Klasse des Proletariats das System des wissenschaftlichen Sozialismus. Sie widerlegten die damals vielbeachteten Vorstellungen der utopischen Sozialisten, unter kapitalistischen Bedingungen einen Staat der Gleichheit und Brüderlichkeit zu errichten, und erbrachten den Nachweis für den historischen Auftrag des Proletariats. 1813 jedoch hatte der Wille des Bürgertums zur Selbstbehauptung gegenüber dem Adel durch die Vertreibung Napoleons eine Bestätigung erhalten. Wie Engels sagte: »... nicht die errungene >Freiheit< war das größte Resultat des Kampfes, sondern dies lag in der Tat selbst... Daß wir uns über den Verlust der nationalen Heiligtümer besannen, daß wir uns bewaffneten, ohne die allergnädigste Erlaubnis der Fürsten abzuwarten, ja die Machthaber zwangen, an unsere Spitze zu treten, kurz, daß wir einen Augenblick als Quelle der Staatsmacht, als souveränes Volk auftraten, das war der höchste Gewinn jener Jahre ...« (5)

Das Bewußtsein der eigenen Möglichkeiten, verbunden mit einem gewissen Wohlstand, befähigte das deutsche Bürgertum, sich eine eigene, ihm gemäße Lebenskultur zu schaffen. Eingeengt von feudaler Kleinstaaterei und Metternichs Polizeiaufsicht, geprägt von Mut und Angst, entstand eine Lebensform, die wir heute mit einem selbständigen Stilbegriff bezeichnen, mit »Biedermeier«. Hat man die Geschichte zwischen 1815 und 1848 vor Augen, so beantwortet sich die Frage von selbst, ob denn diese Zeit so bieder und gemütlich war, wie sie die Nostalgie vor-rstellt und wie sie die unmittelbar nachfolgende Generation aus Enttäuschung über den Geschichtsverlauf abtat. Etwa Victor von Scheffel in meinen Gedichten »Biedermanns Abendgemütlichkeit« und »Bummelmeiers Klage« (6).

Biedermann und Bummelmeier standen Pate, als der Landarzt Adolf Kußmaul und der Jurist Ludwig Eichrodt ein Pseudonym wählten, unter dem sie um die Mitte der fünfziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts die naiv-beschaulichen Reimereien des Dorfschulmeisters Samuel Friedrich Sauter, die dieser 1845 auf eigene Kosten in Karlsruhe hatte veröffentlichen lassen, ihren mit den Erfahrungen der Märzrevolution 1848 ausgestatteten und sich der unmittelbaren Vergangenheit weit überlegen dünkenden Zeitgenossen zur Kenntnis geben konnten. So erschienen dann zwischen 1854 und 1857 in den »Fliegenden Blättern«, einer in München verlegten satirischen Zeitschrift, die »Auserlesenen Gedichte von Weiland Gottlieb Biedermaier, Schulmeister in Schwaben, und Erzählungen des alten Schartenmaier. Mit einem Anhange von Buchbinder Horatius Treuherz«, und der Name Biedermeier wurde zum Inbegriff des Philisters, der nach Ansicht der nachfolgenden Generation das deutsche Bürgertum zwischen Wiener Kongreß und Märzrevolution repräsentierte, rechtschaffen, bienenfleißig und untertänig, die Nachtmütze vor den Märzstürmen schützend über die teutschen Ohren gezogen.

Erst gegen Ende des Jahrhunderts ist man fähig, den Vorfahren Leistungen zuzugestehen, und bezeichnet mit »Biedermeier« einen Stil, den das Kunsthandwerk, besonders die Möbelkunst in den deutschen Ländern nach Ende der Befreiungskriege hervorgebracht hat und der sich neben anderen Stilen bis in die vierziger Jahre behauptet. Auch die vergessenen Maler jener Zeit gelangen auf der Jahrhundertausstellung von 1906 wieder zu Ansehen. Aus einer gewissen Unzufriedenheit mit den industriellen Schöpfungen der eigenen Zeit gewinnen die von einer engen Verbundenheit mit der Natur zeugenden Arbeiten der Großväter wieder ästhetischen Reiz.

Die Kunstgeschichte hat den Begriff »Biedermeier« in dieser Bedeutung übernommen und benennt mit ihm Produkte, die vorwiegend von deutschen bildenden Künstlern in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts hauptsächlich für das bürgerliche Heim gefertigt wurden und für die der Name »Kunst« nur in engster Beziehung zum »Kunsthandwerk« gebraucht werden sollte. Vom Handwerklichen kann sich lediglich die Grafik und in beschränktem Maße die Malerei lösen.

Handel und Gewerbe waren die Grundlagen, aus denen nach der napoleonischen Ausplünderung der neue Reichtum erwuchs, der zum Nutzen und zur Freude des bürgerlichen Besitzers angelegt wurde. Besonders groß war der Nachholbedarf des Bürgers auf dem Gebiet der Bildung, und so drängten sich nach den Kriegen Handwerker, Kaufleute und jetzt auch Frauen nach Wissen, wobei man es aber vorzüglich verstand, das Nützliche mit dem Angenehmen zu verbinden.

Eine Menge von Lesecafes, deren Beliebtheit sich in Wien, in gewissem Grade auch in Budapest oder Prag und den süddeutschen Städten bis in unsere Tage erhalten hat, öffneten plötzlich ihre Pforten. Josef Mendelssohn richtete in der Berliner Börsenhalle ein Lesezimmer ein, in dem über 100 deutsche und ausländische Journale auslagen und das bald zum politischen Debattierzentrum wurde. In Halle entstand in den oberen Räumen des Ratskellers ein Lesemuseum, für Leipzig kümmerte sich der Verleger Georg Wigand um eine derartige Bildungsstätte, und in Dresden gründete Arnold Rüge ein Lesezimmer, das sogar die »Times« abonnierte, die damals 100 Taler jährlich kostete. 1830 erschienen in Preußen 285 periodische Blätter, ein Zehntel davon gereinigt-politischen Inhalts. Zur gleichen Zeit waren in Preußen etwa 400 Buchdruckereien in Betrieb. Die Zeitungen deckten die unterschiedlichsten geistigen Ansprüche. In Berlin erschienen beispielsweise »Der Gesellschafter« und »Der Freimütige«, in Leipzig wurde die »Zeitung für die elegante Welt« verlegt und bei Cotta das »Morgenblatt für die gebildeten Stände«, das 2000 Abonnenten hatte, während Bornes »Waage« von 800 festen Käufern bezogen wurde. 1838 gab Arnold Rüge die »Halleschen Jahrbücher« heraus, die wegen ihrer fortschrittlichen Geisteshaltung in Preußen sofort verboten wurden, und 1848 ließ Karl Marx die »Neue Rheinische Zeitung« als »Organ der Demokratie« erscheinen. Die illustrierten Blätter, die mit Stahl-, Kupfer-und Holzstichen ausgestattet waren, erfreuten sich besonderer Beliebtheit. Die Kunst der Lithographie, die Alois Senefelder kurz vor der Jahr­hundertwende für das Notenschreiben erfunden hatte, wurde in der Zeit des Biedermeier die am meisten benutzte Vervielfältigungstechnik. Mit Lithographien, Kupfer-, Stahl- und Holzstichen bzw. Holzschnitten schmückte man ebenfalls die Bücher, nach denen das Bürgertum in zunehmendem Maße verlangte. Buchhandlungen und Leihbibliotheken gehörten bald zum üblichen Bild einer Stadt.

Man las allerdings die schöngeistige Literatur im Durchschnitt etwas wahllos, und es waren durchaus nicht die Werke von Lessing, Goethe oder Kleist, die sich der größten Nachfrage erfreuten. Viel eher trafen den Zeitgeschmack die romantischen Dichtungen Walter Scotts, mit denen Verleger und Übersetzer zu Geld kamen, und die Werke deutscher Romantiker, etwa de la Motte Fouques. Man suchte Idylle und angenehme Gruselei. Diese romantische Unterhaltungsliteratur wurde natürlich nur einem, wenn auch recht großen Teil des Lesebedürfnisses gerecht. Die literarisch anspruchsvollen Werke dieser Zeit gingen gleichfalls von Hand zu Hand, etwa die Erzählwerke von Ludwig Tieck, Achim von Arnim, Clemens Brentano, Joseph von Eichendorff oder E. T. A. Hoffmann. Zwar neigte die Romantik einesteils dazu, das deutsche Mittelaiter als Zukunft s trau m zu verehren und durch die Flucht in die Vergangenheit den Problemen der Gegenwart zu entrinnen. Andererseits aber führte die Besinnung auf nationale Werte der Vergangenheit Kur wissenschaftlichen Beschäftigung mit der Geschichte, mit der deutschen Sprache und mit der Volkskunst, in deren Ergebnis das Grimmsche Wörterbuch, die Märchen-und Volksliedsamrnlungen und Geschichtsbetrachtungen standen. Dichten im Sinne der Romantik bedeutete nur zum Teil kontemplatives Rückwärtswcnden, es bot ebenso die Möglichkeit der Zeitkritik, wie das etwa in E. T. A. Hoffmanns »Kater Murr« oder „Meister Floh“ verwirklicht ist. Viele romantische Verse spornten die F rei he itsbegc i Sterling an. Die Gedichte Lord Byrons beispielsweise wurden eifrig übersetzt und verbreiteten die Sympathien für den Freiheitskämpf der Griechen in den zwanziger Jahren. Ludwig Uhlands Dichtung bewirkte ein regelrechtes Balladcnfieber, von dem Künstler und Dilettanten in gleichem Maße angesteckt wurden, denn wer fühlte sich damals nicht berufen, seine Freunde oder gar die Menschheit mit eigenen Versen zu beglücken? Ungeheuer groß ist auch die Zahl der Briefliteratur aus jener schreibfreu-digen Zeit, und nichts war leichter, als einen trivialen Ritter- oder Schauerroman zu verkaufen. Diese Art Bücher entging außerdem den Einwänden der Zensur, denn wo die Gedanken fehlten, war nichts Staatsgefährdendes zu befürchten.

Beinahe sprichwörtlich berüchtigt wurde das österreichische Zensurwesen. Ob Franz oder Ferdinand, allen habsburgischen Kaisern waren denkende Untertanen, besonders die »Bücherschreiber«, höchst anrüchige Personen. Franz I. hielt sich mit Metternich einen Staatskanzler, der es fertigbrachte, das österreichische Geistesleben über Jahrzehnte völlig zu isolieren. Nikolaus Lenau klagt resignierend: »Und doch gebührt mein Haß noch immer viel weniger dem Gesetze selbst als denjenigen legalisierten Bestien, die das Gesetz auf eine so niederträchtige Art handhaben, daß kein österreichischer Dichter die literarische Ehre seines Vaterlandes befördern kann, ohne daß er dessen Gesetze verachtet.« (7) Nur vor Büchern, die über zwanzig Bogen stark waren, kapitulierte die Vorzensur, was zum Verfassen dickleibiger »Schinken« herausfordern mußte. Auf Lenau, einen Dichter zarter, äußerst empfindsamer Naturlyrik und feuriger Freiheitslieder, mußten die Zeitverhältnisse geradezu tödlich wirken. Heinrich Heine floh die Stickluft unter den Schwingen des Adlers, um in Frankreich Morgenluft zu atmen. Nachdem er anfangs romantisch gedichtet hatte, wurde er zum gefürchtcten Spötter, dessen Werke man zusammen mit denen des Jungen Deutschlands verbot. Die politischen Zustände waren ebenfalls Mittel- und Angriffspunkt in Georg Büchners und Ludwig Bornes Dichtungen und journalistischen Arbeiten. Die Anzeichen der nahenden Revolution regten in den vierziger Jahren zu der politischen Lyrik des Vormärz an, in dessen Sinn Männer wie Herwegh, Wcerth, Hoffmann von Fallerslefacn und Freüigrath schrieben, um mit ihren Werken Einfluß auf die aktuellen Ereignisse zu nehmen. Die schöngeistige Literatur war nur ein Teil der Lektüre des bildungsbeflissenen Bürgers. Es ist durchaus kein Zufall, daß schon während der napolconischen Besetzung 1812 die erste Auflage der »Allgemeinen Encyklopädie der Wissenschaften und Künste« erschien, die später von Friedrich Arnold Brockhaus fortgeführt wurde und bis zum Jahre 1838 180 ooo Exemplare erreichte, außerdem in fünf Sprachen übersetzt war. Joseph Meyer leitete 1839 den ersten Band seines Konversationslexikons mit den Worten ein: »Jede den Massen zugängliche und auf ihre Bedürfnisse berechnete Real-Encyklopädie, folglich auch unser Werk, muß, ihrer Natur nach, dazu beitragen, das drückende Monopol des Wissens, welches so lange Zeit auf den Völkern gelastet, über den Haufen zu werfen; und indem sie durch die Mittheilung aller vorhandenen menschlichen Kenntnisse, welche positiven \Verth haben, vielen Tausenden neue Mittel an die Hand gibt, sich ein besseres Loos zu bereiten, die öffentliche Wohlfahrt auf breitern, vernünftigem und dauerndem Grundlagen befestigen.« Ungeachtet derjenigen, »welche in der unermeßlichen Entivickelung der Volksintelligenz und in allgemeiner Bildung nur neue Keime zu Revolutionen erblicken«, erklärt er weiter: »Der Gebildete unserer Tage muß mit allen Haupterscheinungen der Philosophie, Theologie und Literatur, den riesenhaften Fortschritten in der Industrie, mit den Entdeckungen der Natur und Völkerkunde, der Politik, dem großen Schatze der Geschichte und mit hundert ändern Dingen wohl bekannt, oder doch im Stande seyn, sich das Wissenswerthcste in jedem Augenblicke zu vergegenwärtigen, sonst versteht er nicht einmal die für ihn hauptsächlich berechneten Journale und Zeitungen.« (8) Ein umfassendes Wissen war vonnöten, wollte man sich als Herr seiner Umwelt erweisen. Voraussetzung für das Verständnis der Gegenwart war die Geschichte, für viele allerdings bloß die deutsche. Zwischen 1811 und 1827 kamen die neun Bande von Karl von Rottecks »Weltgeschichte« heraus und fanden weite Verbreitung. 1824 forderte Leopold von Ranke in seiner Schrift »Zur Kritik neuer Geschichtsschreiber« ein positivistisches Quellenstudium anstelle der alten, von Ideen ausgehenden Geschichtsdarstellung. 1839 bis 1843 erschien seine »Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation«. Die Vorlesungen blieben nicht mehr allein auf das Universitätsauditorium beschränkt, Leopold von Ranke beispielsweise hielt 1825 in Frankfurt an der Oder einen Vortrag vor jungen Mädchen, und in Berlin gehörten Alexander von Humboldts all gemein verständlich gehaltene Vorlesungen verschiedener Wissensbereiche zu den öffentlichen Veranstaltungen im Winter 1827/28, die mit großem Andrang vom Bürgertum und Teilen des Adels besucht wurden. Langsam begannen die Wissenschaftler, die ja voneinander isoliert in den verschiedenen Ländchen ihre Forschungen betrieben, sich zum Meinungsaustausch zusammenzufinden. Besonders den Naturwissenschaftlern waren nach den Kriegsjahren wesentliche Entdeckungen und Erfindungen gelungen: Justus von Liebig führte zur Ertragssteigerung in der Landwirtschaft die künstliche Düngung ein; Karl Friedrich Gauß und Wilhelm Weber leisteten bahnbrechende Arbeiten auf dem Gebiet der Mathematik und Physik und bauten einen elektromagnetischen Telegraphen zur Nachrichtenübermittlung; Georg Simon Ohm fand das Gesetz des Widerstands elektrischer Leitungen; der Astronom Johann Gottfried Galle entdeckte den Planeten Neptun; Karl Ernst von Baer konnte das Saugetiere! im Eierstock nachweisen, und Theodor Schwann drang mit seiner Zellentheorie an die Quelle des Lebens vor. Von epochemachender Bedeutung war auch die Leistung des Leipziger Mediziners Hahnemann, der die Homöopathie in die Heilkunde einführte.

Die Natur bot dieser entdeckungs freudigen Zeit ständig neuen Anreiz. Es war aber nur zürn Teil Wissenwollen, was zur Beschäftigung mit der Natur veraniaßtc. Zumindest gleichviel wurde sie beachtet aus einem noch unverbildeten Schönheitsempfinden, das sich die Menschen erbalten hatten und angesichts der einsetzenden Industrialisierung besonders pflegten. Die Naturverbundenheit ist geradezu ein Wcsensmerkmal des Biedermeier. Jeder Handwerker, jeder Gelehrte achtete nach Möglichkeit darauf, daß an seinem Hause ein Garten war, und er ließ sich sonntags mit der Droschke ins Grüne der Berliner Vorstädte fahren oder mit dem Fiaker in den Wiener Prater – allerdings nicht immer nur wegen der Natur.

Dort ließ es sich lustwandeln und plaudern, während Walzermelodien von Strauß und Lanner aus den Cafes klangen, und man konnte seine Garderobe zeigen, bei der die teuersten Stücke der letzten Pariser Cou-ture entsprachen oder ein Modell von Petko am Graben, eventuell auch von Langer in der Wiener Annagasse waren. Im Laufe der Jahrzehnte war die Mode, wie jederzeit, ständigem Wandel unterworfen. Die Taille wanderte bei den Damenkleidern zwischen 1815 und 1820 von der Brust bis in die normale Höhe, die Röcke waren anfangs eng und fließend, wurden um 1820 mit gesteiften Unterröcken und roßhaargepolsterten Krinolinen weit gebauscht gehalten und erreichten um 1830 ihren größten Umfang. Man verarbeitete im Biedermeier im allgemeinen leichte und helle Stoffe, Batist, Musselin oder gazeartige Seide. Die Figur wurde betont und mit Schnürleibchen, die auch die Männerwelt zwecks Herstellung einer Taille trug, auf Form gepreßt. War um 1818 noch die breite Halskrause üblich, so wich sie später einem Schulterkragen, der möglichst an der Kante bestickt war, und darauf, etwa um 1830, dem sogenannten Taillentuch aus Tüll, das vorn und hinten vom Gürtelband gehalten war. Mitte der dreißiger Jahre kam dann wieder der Kragen in Mode, der entweder an dem Tüll- oder Mullunterhcmd saß oder als Schulterkragen über die Brust gelegt und in den Gürtel gesteckt wurde. Besonders auffallend bei der Biedcrmeiermode sind die um 1830 üblichen überweit gepufften Ärmel, die sogenannten »Schinkenärmel« oder "Hammelkeulen«. Sie wurden mit Fischbeingestellen oder Federpolstern gestützt und riefen den Eindruck von großer Schulterbreite hervor. Über dem mit Bändern und Rüschen verzierten Kleid trug man entweder einen dekorativen Schal oder eine Pelzboa, auch einen Umhang mit Armschlitzen aus Samt, Seide oder Tuch. Schauten 1830 noch die Füße unter dem Rock hervor, so erreichte er 1840 wieder den Boden. Die flachen Schuhe bestanden ebenso wie die Stiefel, die bis kurz über den Knöchel reichten, aus Seide oder anderem Stoff, selten aus Lackleder. Abgerundet wurde die äußere Erscheinung durch eine kunstvoll gelegte Frisur, zu der ein glatter Scheitel und Ringe l lecke n oder Zopf schaukeln gehörten und die mit einer in die Stirn gehängten Seidenlocke einen romantischen Ton erhalten konnte. Das Hinterhaar wurde im allgemeinen mit Kämmen aufgesteckt und mit Bändern und Schleifen befestigt. Da£u trug man den fast zum Symbol für die Zeit gewordenen Schutenhut, dessen Schirm einmal breiter, einmal steil aufgebogen, dann wieder flacher war und der mit Blumenarrangements und Schleifen dekoriert und farblich mit dem Kleid abgestimmt oder auch zu ihm in Kontrast gesetzt war. Da das brave Bürgermädchen seinen Goldschmuck, der den Plünderungen der Franzosen entgangen war, 1813 dem Vaterland geopfert hatte, trug es jetzt meist Eisenschmuck aus geschwärztem Feinguß, während der Adel in den Ballnächten des Wiener Kongresses sein Gold und seine Perlen blitzen ließ. Neben die Handwerksarbeit trat im 19. Jahrhundert billiger Industrieschmuck. Zum vollständigen Anzug gehörten noch Handschuhe und Sonnen- oder Regenschirm, auf den das zu Fuß gehende Bürgertum besonderen Wert legte. Die Gestelle bestanden aus Fischbein und waren mit Seide oder Baumwolle bespannt.

Auch die Herrenmode trieb im Biedermeier wesentlich mehr Aufwand als in der nach 1850 einsetzenden farblosen Zeit. Der Bürger trug weder Zopf noch den mit Adel und Militär zusammenhängenden aufgeschlagenen eckigen Hut, sondern wählte sich zu seinem halblangen Haar einen runden Hut, und so wurde der zu den verschiedenen Zeiten verschieden hohe Zylinderhut neben Frack und Weste zum Kennzeichen der bürgerlichen Herrenkleidung nach 1813. Frack und Weste waren farbenfreudig und aufeinander abgestimmt, zum Beispiel die gelbe Weste zum violetten Frack, und zeitweise trug man sogar zwei Westen übereinander und be­setzte sie, sofern man es sich leisten konnte, mit echten Perlen anstelle der Knöpfe. Der Kragen war abstehend oder am Hals anliegend gearbeitet und seit etwa 1835 schalförmig. So wandelte sich auch die Form des allerdings immer taillierten Fracks. Die Schöße wurden länger oder kürzer, schmaler oder breiter, und der Kragen reichte zuweilen bis unter die Ohren. Der praktische Sinn des Bürgers hatte die schon um 1785 beim englischen Reitfrack übliche Form übernommen: Der Frack war beidseitig schließbar, und das Vorderteil ließ sich als Revers zurückknöpfen, wenn er offen getragen werden sollte. Als einfacheres Kleidungsstück für Haus und Arbeit galt der Rock, der breitere und längere Schöße als der Frack hatte. Während an den Höfen noch das Trikotbeinkleid und die Kniehose gebräuchlich waren, trug der Bürger nach dem Kriege knöchellange Hosen, die bis ans Knie eng waren und sich nach unten erweiterten. Um 1825 waren sie gleichmäßig eng und später um die Knie etwas verbreitert. Lederstege hielten sie unter der Stiefelsohle fest. Als Material verwendete man neben Tuch gern derbere Stoffe, wie zum Beispiel Buckskin, für den Sommer auch Baumwolle, und wechselte zwischen hellen und dunklen Farben. Hatte man um 1800 zum Schutz gegen die Witterung einen Mantel mit Ärmeln getragen, so jetzt einen ärmellosen Umhang, der nach Anzahl der Kragen - außer dem Halskragen fielen nach dem Vorbild des englischen Reisemantels bis in die dreißiger Jahre mehrere Schulterkragen übereinander – in der Länge und Weite unterschiedlich war. Ende der dreißiger Jahre gehörte dieser Umhang nur noch zur Livree der Kutscher und Bedienten. Als schmückendes Attribut benutzte der Herr seit 1813 ein mitunter recht hoch gebundenes Tuch, das um einen Unterbindekragen aus Leinen oder Papier geschlungen war. Um 1830 wurden statt des Tuchs gesteifte Binden mit aufgesetzter Schleife oder zwei breiten Lappen Mode, die, in die Weste eingelegt, das Vorhemd ersparten, das man aus Gründen der Reinhaltung über das eigentliche Oberhemd band. Trug man bei festlichen Anlässen die weiße Atlasschleife, so gehörte dazu ein Hemd mit kostbarem Brusteinsatz. Dazu noch eine Nadel an- und die Tabakdose eingesteckt, Ring und Handschuh auf die Finger, die Uhrkette wirkungsvoll gehängt, einen Spazierstock in die Hand – und der Herr war ausgehfertig fürs Theater, das zu seinen schönsten Vergnügungen gehörte.

Zwar war ihm der Klatsch meist wesentlicher als das Stück selbst. Der Theaterplan bot denn auch, dem Publikumsgeschmack und der Zensur Rechnung tragend, in der Mehrzahl inhaltsleere Stücke, die es zuließen, daß man sich ausschließlich auf die gefühlsgeladenen Gesten und den Ausputz der Schauspielerin konzentrierte. Fanny Elßler, Maria Taglioni oder Henriette Sontag waren in aller Munde und wurden in romantischem Überschwang geradezu göttlich verehrt. Sie traten nur auf den ersten Bühnen auf, während sich die Vorstadttheater mit Aufführungen begnügten, die sich bloß wenig von Variete unterschieden. Nach 1813 war die Bühne ohnehin keine »moralische Anstalt«, als die sie die Klassiker verstanden haben wollten. Sie war in erster Linie für die Unterhaltung zuständig und hatte nebenbei die angenehme Eigenschaft, Wissenslücken auf mühelose Art zu schließen. Daher legte man recht großen Wert auf die Detailtreue im Geschichtsdrama, und was war es doch für ein Erfolgserlebnis, wenn man Anspielungen aus Literatur oder Historie verstand! Ins Theater ging im Biedermeier fast jeder. Da die Vorstellungen schon um 18 Uhr begannen, war es Lehrjungen, Gesellen und Dienstmädchen nur möglich, sich am Sonntag dieses Vergnügen zu gönnen, und da ließen sie auch von der Galerie, der billigsten Platzgruppe, recht vielstimmig Beifall und Ablehnung hören. Den zweiten und dritten Rang bevölkerten wohlhabende Handwerksmeister und Beamte mit ihren Familien, wobei die fleißige Hausfrau es selbstverständlich nicht versäumte, ihren Strickstrumpf mitzubringen, und im Parkett versammelten sich Studenten und junge Kaufleute, die dem Stück aus künstlerischem Interesse folgten. Der erste Rang kam dem Adel zu.

Den Geschmack im Theater bestimmte nicht die geringe Zahl der ästhetisch geschulten Bürger, sondern die Menge der nicht vorgebildeten Kleinbürger. Und da die Zensur ein übriges tat, das Theater in den Dienst der Regierung zu stellen, indem es für ein zufriedenes, gehorsames Publikum zu sorgen hatte, so erklärt es sich, daß die literarisch bedeutsame Dramatik jener Zeit, etwa die Werke Georg Büchners oder Christian Dietrich Grabbes, nicht ins Theater gelangten bzw., wie etwa Franz Grillparzers Dramen, vom kleinbürgerlichen Publikum abgelehnt wurden. Den breitesten Raum im ernsten Drama nahmen sentimentale Schicksalstragödien und ritterliche Schauer- und Rührstücke, auch weitschweifige Geschichtsdramen ein. Klassiker dagegen wurden fast gar nicht aufgeführt, sie brachten auch keine volle Kasse. Wenn sie jedoch auf die Bühne gelangten, dann in »gereinigter« Form. So ging es in Österreich nicht an, daß etwa illegitime Kinder im Schauspiel vorkamen oder Zerwürfnisse innerhalb der Familie. Kurz entschlossen wurde daher aus dem Vater Ferdinands in Schillers »Kabale und Liebe« ein Onkel, und es gab demzufolge »eine Gegend« im Herzen des jungen Mannes, »worin das Wort >Onkel< noch nie gehört worden« war!

Größter Beliebtheit erfreuten sich die von den Alltagssorgen ablenkenden Lustspiele. Ihre Aufführung wurde aus politischen Erwägungen staatlich unterstützt, und außerdem trafen sich auch hier Friedrich Wilhelm III. und Franz I. in ihrem Geschmack: Possen waren halt lustig! Von den 222 Vorstellungen, die im Leipziger Stadttheater im ersten Jahr seines Bestehens 1817/18 gegeben wurden, waren nur etwa ein Viertel Trauerspiele. Zwischen 1815 und 1830 wurden auf der Berliner Hofbühne fünfmal mehr neue Lustspiele als neue Trauerspiele aufgeführt. Einer einzigen Gattung gelang es, sich von der seichten Unterhaltung abzuheben und trotzdem den ungeteilten Beifall des Publikums zu finden: dem Wiener Volksstück. Raimund und Nestroy, die immer in eins genannt werden, obwohl der eine am Ruhm des anderen zerbrach, besaßen das glückliche Talent, Gesellschaftskritik in humoristisch-harmloser Verkleidung auszudrücken. Von einer großen, grundsätzlichen Polemik konnte jedoch keine Rede sein, es blieb bei einer der Zeit entsprechenden begrenzten Sozialkritik. In Wirklichkeit waren die Stücke dem Regime eine – wenn auch unbeabsichtigte – Hilfe, denn das Publikum hatte seine Verärgerung lachend abreagiert, wenn es aus dem Theater kam. Die Oper behauptete nach wie vor ihren Platz im Theaterrepertoire, wobei jetzt die italienische Oper Rossinis Erfolge feierte und größeren Zulauf als Beethovens »Fidelio« besaß. Carl Maria von Weber schuf aus einem echten Heimat- und Naturempfinden die ersten deutschen Nationalopern. »Der Freischütz« erlebte 1821 in Berlin seine Premiere und war danach jahrelang ausverkauft. Seine Melodien erklangen wie Volkslieder aus den Berliner Leierkästen, und den »Jungfernkranz« sang man bald auch im Ausland. Albert Lortzing ließ in seinen heiteren, volkstümlichen Opern das alte deutsche Handwerk und die Märchen- und Sagenwelt zur Geltung kommen. Ebenfalls nach einer Sage entstand Richard Wagners »Fliegender Holländer« und nach einem geschichtlichen Roman von Bulwer-Lytton die Oper »Rienzi«. Beide wurden Anfang der vierziger Jahre in Dresden uraufgeführt, in eben jener Stadt, in der Wagner 1849 am Maiaufstand der Bürger maßgeblich beteiligt war. Noch vor der Jahrhundertmitte komponierte Wagner den »Tannhäuser« und »Lohengrin« und schrieb die ersten Entwürfe für die »Meistersinger« nieder. Das waren jedoch monumentale Klänge, die einer späteren Zeit angehörten. Die symphonische Musik Franz Schuberts, Robert Schumanns oder Felix Mendelssohn Bartholdys war der Zeit des Biedermeier gemäßer. Durch ihren schlichten, volkstümlichen Zug waren diese Konzertkompositionen auch weniger Vorgebildeten zugänglich. Die Lieder fanden ohnehin gleich Gehör.

Es gab Konzerte in öffentlichen Sälen, aber auch die Hausmusik wurde in jener Zeit sehr gepflegt. Das Fortepiano kam in Mode und wurde zu einer Art Statussymbol für die »gebildete« Bürgerfamilie. In der Mehrzahl aber fand man sich zu Streichquartetten zusammen oder zum gemeinsamen Gesang, wobei sogar Opern mit verteilten Rollen wiedergegeben wurden. Das reiche Bildungsbürgertum hatte in seinen Häusern die angesehensten Virtuosen zu Gast: Franz Liszt, Niccolö Paganini, Fryderyk Chopin, Clara Schumann. Ein Platz für ein Konzert, das Liszt vor Berliner Studenten gab, kostete übrigens zehn Silbergroschen, eine Summe, die nicht von jedem aufzubringen war. Zu populären Konzerten, wie sie der Berliner Kapellmeister Liebig vor dem Oranienburger Tor aufführte, wurde für zwei Silbergroschen Einlaß gewährt. Die große Menge jedoch deckte ihren Musikbedarf mit Singen im Kreis der Familie oder in den jetzt zahlreich aus dem Boden schießenden Gesangvereinen. Zur musikalischen Unterhaltung gehörte der Gesellschaftstanz, den seit den zwanziger Jahren der Walzer bestimmte. Im Gegensatz zu den höfischen Schreittänzen umfingen sich die bürgerlichen Tanzpaare und drehten sich nach volkstümlichem Brauch. Die Walzermelodien von Johann Strauß und Josef Lanner begannen ihren Siegeszug durch Europa, und nach ihnen tanzte der Adel wie das Volk.

Theater, Konzert, Universität, Museum und Lesecafe waren die Stätten, an denen der Bürger öffentlich hervortreten konnte, wenn auch da kontrolliert. Ein entscheidendes Mitwirken in Verwaltung, Gerichtsbarkeit oder Regierung war ihm ebenso versagt wie das freie Äußern seiner Meinung. Uneingeschränkt konnte er sich eigentlich nur in seinem Heim verwirklichen, das auf diese Weise Mittelpunkt seines Interesses und seiner gestalterischen Phantasie wurde. Er veranlaßte geschickte Tischler, ein Mobiliar zu bauen, das dem bürgerlichen Wohnraum und dem Gebrauch im Bürgerhaus angemessen war. Die Gegenstände mußten praktisch und haltbar sein und zugleich äußerlich schön.

Bisher waren als Auftraggeber für kunstvolle Möbel vorwiegend höfische Kreise in Erscheinung getreten. Sie hatten nach 1800 in den monumentalen Formen des Empire den Stil gefunden, der ihrem Repräsentationsbedürfnis entsprach. Napoleon hatte diese »neue Variante des Klassizismus« (9) mit seiner Person verbunden, als er sich – in Nachahmung der römischen Staatsoberhäupter – 1799 zum Ersten Konsul und danach zum Kaiser erhob. Seine Lebensart aufzunehmen, ließen sich die deutschen Fürsten angelegen sein, und so fand mit den Eroberungen des Imperators zugleich der am römischen Altertum orientierte Kunststil des französischen Hofes in Europa Verbreitung. Auch nach der Vertreibung Napoleons behielten die Höfe im allgemeinen für ihre Innenausstattung den eleganten, kühlen Empirestil bei.

Das demokratisch gesinnte Bürgertum dagegen schuf sich nicht nur aus praktischen Erwägungen nach dem Krieg eine eigene Wohnkultur. »Wie jeder Stil aus seinem Vorgänger herauswächst, ist auch das Biedermeier dem Empirestil in vielem verpflichtet. Mit ihm – und mit dem vorausgehenden Zopf – ist es ein klassizistischer Stil. Ein wesentliches Movens für seine Entstehung liegt aber gerade in der Ablehnung des Empire, des Stils des besiegten Usurpators.« (10) Durch den Handel stand man mit dem englischen Bürgertum in Verbindung und lernte seine Art, sich zu kleiden und'einzurichten, kennen. Schon auf den sogenannten Zopfstil hatten die schlichten englischen Formen wesentlichen Einfluß. Er war zu Ende des 18. Jahrhunderts an den deutschen Höfen in Mode gekommen, als durch die Schriften Winckelmanns und durch Ausgrabungen die Antike ins Blickfeld des Interesses gerückt war und als man ohnehin nach dem Siebenjährigen Krieg gezwungen war, vom aufwendigen Rokoko auf sparsamere Formen überzugehen.

In Frankreich zeigte sich eine ähnliche Entwicklung, und der dort gepflegte Stil wurde mit dem Namen des Königs, Ludwigs XVI., »Louis seize« bezeichnet.

In den siebziger Jahren des 18. Jahrhunderts hatte der Innenarchitekt Robert Adam mit seinen Mustern in England den verschnörkelten Stil Chippendales verdrängt. Seine etwas steifen klassizistischen Formen wurden bei George Hepplewhite und besonders bei Thomas Sheraton dann sanfter und bequemer. Sheratons Modelle vor allem verzichteten auf übermäßigen antiken Zierat. Es waren bürgerliche Gebrauchsgegenstände von solider Konstruktion, die zum Teil als neue Typen zur vielfachen Verwendung entworfen und später auf dem Kontinent übernommen wurden. Allerdings muß erwähnt werden, daß sich die englischen Möbelkünstler ihrerseits jahrelang in Frankreich ausbildeten und dort auch mit deutschen Entwerfern zusammenkamen. Ganz scharfe Trennungen lassen sich daher nicht vornehmen. 1794 war Sheratons Musterbuch »The Cabinetmaker's and Upholsterer's Drawing Book« (»Skizzenbuch für Tischler und Tapezierer«) in deutscher Übersetzung erschienen. Um 1810 tauchten in England während der Regierung des Prinzregenten George gebogenere Formen auf – etwa zur gleichen Zeit auch in Deutschland. 1807 wurden in dem Buch »Household Furniture and Interior Decoration« (»Wohnmöbel und Innendekoration«) derartige Entwürfe veröffentlicht. Musterbücher, Zeitschriften und Industrieausstellungen sorgten für eine ständige Information der Meister und für eine schnelle allgemeine Verbreitung der Formen, wobei die Ausstellungen allerdings bis in die vierziger Jahre des 19. Jahrhunderts in Deutschland regional beschränkt blieben.

Kennzeichen des neuen, bürgerlichen Möbelstils, der aus den deutschen Werkstätten hervorging, ist das Zusammenfinden von Verwendungszweck und Form zu einem ästhetisch schönen Ganzen. Das Material, also das Holz, bildet mit seinen Bearbeitungsmöglichkeiten die Grundlage des Gestaltens. Es wird in dieser Zeit selbst zum Schmuck, denn da man auf teure Beschläge oder größere Bemalungen verzichtet, hebt man die natürlichen Licht- und Farbeffekte des Holzes hervor. Das Kernholz besteht meist aus einfachen Nadel- oder Laubhölzern, auf das man kostbarere Furniere klebt. In zunehmendem Maße werden dazu helle heimische Hölzer verwendet, zum Beispiel Kirsche, Birke, Birne, Esche oder Ulme. Mahagoni und andere ausländische Furniere werden außer in den nordwestlichen Küstenstädten zumindest im ersten Jahrzehnt nach den Befreiungskriegen im allgemeinen nur für besonders wertvolle Stücke verarbeitet, da einerseits der Import teuer ist und andererseits das dunkle Mahagoni durch die Empiremöbel belastet ist. Helle, freundliche Ein­richtungen entsprechen auch eher dem bürgerlichen Wohnstil. Das Furnier wird sorgfältig über die gesamte Fläche des Möbelstücks geklebt und mitunter durch anders strukturierte Holzeinlagen oder gemalte, evtl. auch gedruckte kleine Ornamente belebt. Dunkle Fadenintarsien aus Ebenholz oder gefärbten anderen Hölzern umrahmen häufig die Teile, aus denen das Möbelstück konstruiert ist. Überhaupt bleibt der tischlermäßige Arbeitsgang, die Konstruktion, bei den Biedermeiermöbeln sichtbar und wird, mitunter nach ästhetischem Empfinden leicht korrigiert, zum Gestaltungselement. Das Brett als Grundform tritt immer wieder in Erscheinung, rechteckig oder rund, und deutlich lassen sich die Kuben erkennen, aus denen die Kastenmöbel zusammengesetzt sind. Eins der wichtigsten Schrankmöbel des bürgerlichen Haushalts war der Sekretär. In ihm wurden die Tagebücher und Poesiealben und die umfangreiche Korrespondenz verwahrt. Günstig und unterhaltsam war es, wenn er raffiniert versteckte Geheimfächer besaß. Äußerlich ähnelt er oft klassizistischen Architekturformen, doch kommt den Säulen oder Karyatiden keinerlei tragende oder raumgliedernde Funktion zu, sie gliedern, rahmen und verzieren lediglich die Fläche, wie auch das gesamte Möbelstück insofern flächig aufgefaßt wurde, als nur die Schauseite durchgeformt und verziert ist, die Seitenwände dagegen bloß glatt furniert sind. Die Rückwände sind stets unbearbeitet, da die Stücke nicht frei im Raum standen. Daß die Schreibschränke innen so sorgfältig mit kleinen Fächern und Schüben ausgestattet sind, hängt mit ihrem Gebrauchszweck zusammen.

War man räumlich beschränkt, nahm man anstelle des großen Schreibschrankes einen Patentsekretär, der schmal und klein war und gleichzeitig als Ofenschirm und Toilettentisch dienen konnte. Er war ein äußerst beliebtes Möbelstück und wurde oft von den Damen benutzt. Ein typischer Einrichtungsgegenstand des bürgerlichen Wohnzimmers war die Vitrine. Tür und Seitenwände bestanden aus Glas, und die Rückwand trug innen mitunter Spiegelglas oder war mit Stoff bespannt, der dem Bezug der Sitzmöbel entsprach. Die Vitrine war der Schaukasten, in dem sicher aufgehoben die Sammelobjekte ausgebreitet waren: in erster Linie Tassen und Gläser, die man zu jeder Gelegenheit als Andenken geschenkt bekam. Sie waren mit Porträts, Gedichten, Landschaften und Blumenarrangements geschmückt, hinter denen sich oft Namen oder zärtliche Mitteilungen verbargen.

Kommoden waren nach wie vor in Gebrauch. Sie hatten oft keine Beschläge, sondern nur Schlüsselführungen aus Elfenbein oder dunklem Holz.

Interessant ist, daß aus Gründen der Symmetrie im Raum mitunter andere Schränke, zum Beispiel für Wäsche und Kleidung äußerlich dem Schreibschrank angeglichen wurden durch Unterteilen der Türfläche mit eingetieften Blenden und flachen Stäben.

Das Sofa war als Mittelpunkt der Wohnlichkeit ein besonders beachtetes und daher vielfältig gestaltetes Möbelstück des Biedermeier. Es war ringsum bezogen, wobei einfarbige Kattunstoffe neben den teureren typischen gestreiften und geblümten Stoffen verwendet wurden. Die Form der Armlehnen wurde von Voluten, Füllhörnern, Schwänen oder Delphinen gebildet und gab den Ausschlag für die elegante oder wuchtige Wirkung des Stücks. Das Sofa zierten Kissen mit kunstvoll gestickten bunten Blumenmustern, denn das Sticken gehörte im Biedermeier zu den viel und gern geübten Kunstfertigkeiten.

Sessel waren selten geworden, aber auf die Stühle wendete man das Augenmerk. Hier formte man die meist vierkantigen Beine in leichter Biegung nach vorn und hinten, außerdem verjüngte man sie unten, wodurch die Stühle ein zierliches, leichtes Aussehen bekamen und trotzdem standfest waren. Die Bretter der Rückenlehne, die mit intarsierten oder gedruckten Ornamenten geschmückt sein konnten, waren, um Bequemlichkeit beim Sitzen zu bieten, ebenfalls schwach gebogen. Dem heutigen Benutzer mögen in dieser Hinsicht Zweifel kommen, doch waren die Menschen damals kleiner, und die Möbelformen entsprachen ihren Körpermaßen. Die Sitzflächen der Stühle hatten Polster oder Rohrgeflecht. Die Sitzmöbel gruppierten sich meist um einen runden Tisch, dem Sammelpunkt für die Familie und die Freunde. Die Platte war entweder in Kreisausschnitten furniert, so daß die Maserung sternförmig von der Mitte zum Rand verlief, oder aber es war ein glattes Furnierblatt aufgelegt, das häufig durch ein kleines Mittelornament aus andersfarbigem Holz oder ein bis zwei schwarze Fadeneinlagen dicht am Plattenrand verziert war. Eine mehreckige oder balusterförmig gedrechselte Säule, die auf einer drei- oder vierseitig einschwingenden Sockelplatte ruhte und von gebogenem Stabwerk begleitet werden konnte, trug die Platte. Die Sockelplatte stand mitunter auf Tatzenfüßen, die aus vorhergehenden Stilen übernommen waren, ebenso wie die Delphine, die sich anstelle des Stabwerks unter der Tischplatte krümmten.

Neben diesen runden Tischen hatte man noch praktische Klapptische, bei denen sich die rechteckige Platte seitlich vergrößern ließ, oder rechteckige Tische, die normalerweise schmal an der Wand standen und beispielsweise zum Kartenspielen zu einem großen Quadrat aufgeklappt werden konnten, wozu man die Platte um neunzig Grad drehen mußte, damit die zweite Hälfte vom Gestell gestützt wurde.

Außerdem benutzte man vielerlei Kleinmöbel wie Blumen- und Nähtischchen, bei denen der Phantasie und Gestaltungsfreude des Handwerkers freier Lauf gelassen war. Wenn allerdings die im Biedermeier so beliebte Lyraform, die man außer am Flügel oder Klavier auch bei Sitz- und Kastenmöbeln nicht nur des Musikzimmers antraf, als Gestell eines Nähtischchens dient, mit stimmbaren Saiten selbstverständlich, dann ist das ein Beweis für Übertreibung handwerklichen Eifers. Eine Besonderheit der Wiener Möbelkunst des Biedermeier sind die Handarbeitstischchen in Globusform. Das Patent stammt von einem englischen Erfinder anfangs des 19. Jahrhunderts und war für Schreibtische gedacht. In Wien wurden daraus zierliche Nähtischchen mit zahlreichen kleinen Innenfächern. Eine Kugel, deren obere Hälfte in die untere eingeschoben werden kann, wird von drei zarten Beinen gehalten, die i einer dreifach einschwingenden Sockelplatte enden. Auch halbkugelige Tischchen mit phantasievollem Dekor wurden von den Wiener Kunsthandwerkern hergestellt.

Die allgemeine Beschreibung der biedermeierlichen Möbelformen läßt zwar die grundsätzliche Einheitlichkeit der Stilmerkmale erkennen, zugleich aber auch einzelne landschaftliche Abweichungen, die aus den unterschiedlichen Voraussetzungen herrühren, unter denen die Möbelbauer ihre Werke schufen.

Außerordentlich günstige Bedingungen für das handwerkliche Kunstschaffen bestanden in Österreich. Dort hatte schon Joseph II. (1765-1790) ein Gesetz erlassen, wonach jeder Handwerker, zu dessen Tätigkeit auch zeichnerische Fähigkeiten gehörten, die Akademie der bildenden Künste besucht haben mußte, ehe er Meister werden konnte. Eine Sammlung von künstlerischen Erzeugnissen aller Gewerbe, die von Franz I. 1807 ins Leben gerufen wurde, gab über den neusten Stand der Form und Technik Auskunft, da sie ständig ergänzt wurde. Viele Kunsttischler bildeten ihren Stil auch in privaten Zeichenschulen. Eine der berühmtesten war die von Karl Schmidt, einem gebürtigen Preußen, der über Prag nach Wien gelangt war und dort seine Schule gegründet hatte. Die Wiener Biedermeiermöbel unterscheiden sich deutlich von denen anderer Landschaften. Sie sind zwar im Gegensatz zum Empire weicher und auch zierlicher geformt, doch haben sie sehr viele Schmuckelemente aus jenem Stil beibehalten, da es in Österreich die strikte Ablehnung des Französischen nicht gegeben hat.

1816 arbeiteten in Wien 875 selbständige Tischlermeister. Eine der größten Werkstätten besaß Josef Danhauser mit schon 1808 über 130 Beschäftigten. Als Bildhauer hatte er sich auf das Schnitzen von Ornamenten gelegt, mit denen er die teuren Bronzebeschläge ersetzte. Später dann ging er dazu über, die Ornamente aus einer plastischen Masse in Modeln zu formen. Sein Unternehmen, das nach 1830 von seinem Sohn, dem Maler, fortgeführt wurde, bot ganze Innenausstattungen an, Möbel, Gardinen, Teppiche, Uhren und Glas. Die Entwürfe für seine Produktion zeichnete Danhauser selbst. Grundlage war für ihn wie für alle Künstler des Biedermeierstils die Konstruktion des Möbelstücks. Danhausers Möbel wirken durch seine Vorliebe für größere Einrollungen und durchgehende Walzen oft etwas wuchtig. Andere bekannte Wiener Möbelkünstler waren Martin Braun, Johann Reimann und Johann Philipp Hefft.

In München, wo Leo von Klenze und Friedrich von Gärtner seit 1825 im Auftrag Ludwigs I. klassizistische Bauwerke errichteten, gab es keinerlei staatliche Förderung für das bürgerliche Kunsthandwerk. München war eine verwinkelte Residenzstadt, in der das Handwerk zusehen mußte, wie es sich durch eigene Initiativen vorwärts brachte. Hier entstand 1816 zuerst eine Handwerkervereinigung zur gegenseitigen Unterstützung beim Einkauf und Absatz und bei der Ausbildung. Das Beispiel machte bald Schule in anderen Städten, und 1821 hatte auch Berlin einen derartigen Verein. Bei den süddeutschen Biedermeiermöbeln setzte sich Johann Georg Hirtls Schmucktechnik durch, der als erster Kupferstiche auf das Holz druckte.

Im Gegensatz zu den Wiener Biedermeiermöbeln zeigen sich die südwestdeutschen in beinahe streng anmutender Schlichtheit. Oft ist das lebhafte Wurzelmaserfurnier die einzige Zierde. Nur gelegentlich ist eine feine schwarze Ranke über das helle Holz geführt.

Wie Klenze in München, so veränderte Karl Friedrich Schinkel in Berlin das Stadtbild mit klassizistischen Bauwerken. 1818 wurde die Neue Wache fertiggestellt, 1821 das Schauspielhaus und 1835 die Bauakademie. Schinkel war ein äußerst vielseitiger Innen- und Außenarchitekt, der sich sowohl auf antikisches Formen als auch auf gotische Stilnachahmung verstand - 1831 war der Bau der Werderschen Kirche beendet. Eine Menge Möbelentwürfe im Biedermeierstil, die den Möbelbau in Berlin wesentlich beeinflußt haben, sind ebenfalls von ihm überliefert. An den bürgerlichen Hansestädten war das höfische Empire unbemerkt vorübergegangen. Sie orientierten sich vor allem an England und gestalteten im Zopfstil, ehe die Biedermeierformen auch bei ihnen Anklang fanden. Obwohl man hier mehr Mahagoni verarbeitete als im übrigen Deutschland, waren helle Hölzer sehr gefragt. Die norddeutschen Möbel wirken schwerer als die süddeutschen. Der Fächer ist gern verwendetes Schmuckmotiv, nicht nur als Intarsie, sondern auch als Brett, das unter Schrankmöbeln zwischen Vorderfüße und Sockelplatte gesetzt ist. Um 1830 ungefähr macht sich eine gewisse Auflösung der ursprünglich klaren, geometrischen, zweckgebundenen Biedermeierformen bemerkbar. Ursache dafür ist zum einen die in dieser Zeit zur Mode werdende Nachahmung beinahe sämtlicher historischer und ausländischer Stile – was bis dahin nur die Höfe getan hatten – und die Industrialisierung, die das handwerkliche Produzieren von ausgewogenen Einzelstücken langsam zum Erliegen bringt und bald mehrfach verwendbare Einzelteile maschinell vorfertigt, die dann zusammengesetzt keinen gemeinsamen Klang bilden. Empiremöbel bekommen bürgerliche Züge, und Biedermeiermöbel nehmen fremde Stilelemente auf, wenn auch noch bis etwa zur Jahrhundertmitte einzelne stilreine Stücke entstehen, da ein Wechsel des Geschmacks nicht schlagartig vor sich geht.

Das Biedermeier wird aber in den dreißiger Jahren sich selbst untreu, indem es seine typischen schlichten, glatten Formen jetzt mit Schnitzwerk verwischt und ihnen Schmuckelemente aufsetzt, die bis zum Sprengen der Proportionen führen. An die Stelle der sanften Biegungen treten ausladende Schweifungen, aus den rechteckigen oder runden Blenden werden Ovale und andere zusammengesetzte geometrische Formen. Statt des obersten Kastens mit dem Giebelbrett übernimmt eine Doppelvolute die Bekrönung des Schrankmöbels, dessen Schübe jetzt s-förmig geschwungene Vorderbretter erhalten. Rundstäbchen setzen die Kästen plastisch voneinander ab, und die Ecksäulen bekommen tragende architektonische Funktionen. Hinter den Übertreibungen sind die biedermeierlichen Ausgangsformen zuweilen kaum noch zu erkennen.

Noch in der Spätzeit des Biedermeier gingen die ersten industriell gefertigten Möbelteile in Serie. Michael Thonet griff auf die Erfindung des Engländers Trew zurück, mit Hilfe von Wasserdampf Holz biegbar zu machen, und fügte aus diesen Teilen seine Sitzmöbel zusammen, die in aller Welt bekannt wurden.

Die Zeit, in der das Möbelstück ein individuelles Erzeugnis war, das unter der Obhut des Meisters entstand, war vorüber. Die neuen Lebensverhältnisse erforderten ein rascheres, anonymes Produzieren von Massenware.

Sich im Stil des Biedermeier einzurichten bedeutete von Anfang an einen gewissen Luxus, denn der Handwerker brauchte Zeit, um ein solides, zweckmäßiges und schönes Möbelstück fertigzustellen. Handel und Handwerk führten nach den Notjahren der napoleonischen Besetzung am schnellsten zu Reichtum – abgesehen von hohen Beamtenstellen, die aber hauptsächlich vom Adel besetzt waren. Ein stilvolles Wohnen in bürgerlichem Geschmack blieb also dem Großbürgertum und wohlhabenderen Familien des mittleren Bürgertums vorbehalten. Aber auch in Adelskreisen wurde dieser Stil aufgenommen. An den in diesen Jahren errichteten oder umgebauten Bürgerhäusern wären von der Kunstforschung in einigen Fällen sicherlich auch Merkmale biedcrmeierlichen Form empfinden s feststellbar, allein der Stand der Untersuchungen läßt endgültige Schlüsse noch nicht zu. Die Räume der Bürgerhäuser waren verhältnismäßig klein, denn auch die großen Städte trugen im ersten Dritte! des 19. Jahrhunderts noch einen ländlichen Charakter. Berlin besaß 1816 knapp 200000 Einwohner, und die Getreidefelder begannen nicht erst außerhalb der Stadtgrenze. Die Straßen waren eng und hatten bestenfalls Kopfsteinpflaster. In der Mitte der Fahrbahn floß das Abwasser durch den Rinnstein, und für die Straßenbeleuchtung war im Sommer der Mond zuständig, ini Winter die Öllampe, die in größeren Straßen vor sich hin rußte. Erst 1826 bekam Berlin Gasbeleuchtung. Den Häusern war der Komfort von Wasserleitung, Bad, WC und Gas noch fremd. Man saß abends beim Talglicht, das die Hausfrau selbst in Zinnformen gegossen hatte, wenn man verschwenderisch war, bei der Wachskerze, denn die kostspieligen Öllampen wurden noch nicht allgemein benutzt.

Viele Zeichnungen und Gemälde aus der Biedermeierzeit haben die bürgerliche Welt abgebildet, die Inneneinrichtung der Häuser, die Familie bei ihrer Tätigkeit, die winkligen Straßen und den Ausschnitt der Landschaft, in die sich der Bürger gestellt sah, oder das Porträt bzw. die Gestalt des Bürgers selbst. Es sind vorzugsweise kleinformatige Bilder, die in großer Zahl und symmetrischer Anordnung die Wände schmückten. Bei vielen dieser Gemälde und Zeichnungen läßt sich bürgerliches Denken und Fühlen erkennen, wie es auch für das Aussehen der Möbel und Gebrauch s gerate und für den Lebensstil ausschlaggebend war. Säuberlich und ordentlich sind neben den Personen die Gegenstände des Gebrauchs erwähnt, die das Leben angenehm machten oder für die tägliche Arbeit notwendig waren. Das bürgerliche Leben mit all seinen vielen Kleinigkeiten gewinnt die Bedeutsamkeit, im Kunstwerk festgehalten zu werden. Nüchtern und sorgfältig wird die Natur und die häusliche, städtische oder dörfliche Umgebung beobachtet, deren Einzelheiten dann mit peinlicher Genauigkeit aufgezählt werden. Diese de tauget reue, realistische Darsteil ungsweise eines eng begrenzten Raumes findet sich nicht nur in den Stilleben, Genrebildern oder Interieurs, wie sie Georg Friedrich Kersting oder Josef Danhauser beispielsweise gemalt haben, sie kennzeichnet auch Land Schafts maiereien, selbst wenn sie romantische Stimmung ausdrücken. Man denke an den »Brautzug im Frühling« von Ludwig Richter, bei dem selbst der Vogel auf dem Ast sein rotes Kehldien trägt. Im Gegensatz zur romantischen Stimmungsmalerei Caspar David Friedrichs, dessen Natur Schilderungen ins Symbolische gesteigert sind und religiös-philosophische Aussagen über den Menschen in seiner Welt vetmitteln, bleiben die Landschaften Ferdinand Georg Waldmüllers bei der Beschreibung der Natur beziehungsweise der Empfindungen ihres Betrachters.

Detaillierte, leidenschaftslose, wirklichkeitsnahe Beschreibungen lassen sich bei fast allen Malern jener Zeit nachweisen, sei es in einzelnen Arbeiten oder auch nur in bestimmten Zügen der Ausführung eines Themas. Selbst Franz Krügers großes Paradebild gibt sich als Aufzählung von bürgerlichen Personengruppen mit ihren Eigenheiten zu erkennen. Carl Spitzweg hat für diese Eigenheiten und die Nichtigkeiten im Leben seiner Mitmenschen zwar ein nachsichtiges Lächeln übrig, doch sind sie ihm wichtig genug, den Inhalt seiner Bilder auszumachen, von denen einige in der Farbgebung bereits auf die genaue Trennung der Gegenstände verzichten. Stärker ausgeprägt ist diese Malweise bei Künstlern wie Karl Blechen und Adolph Menzel, die bestenfalls noch Anklänge an biedermeierliche Bildauffassungen zeigen, in ihrem Hauptwetk jedoch einer späteren Zeit angehören. Gerade bei Menzel wird deutlich, wie sich auch das freundliche, ungebrochene Verhältnis zu Natur und Mensch, das alle biedermeierlichen Bilder ausdrücken, wandelt zu einer kritisch-realistischen Sicht.

In einer Zeit, als die Fotografie noch nicht erfunden war, der Bürger aber auf seine Person und deren Abbild ebensolchen Wert legte, wie es vordem nur der Adei mit sich und seinen Ahnen tun konnte, war das Porträtieren eine Angelegenheit der Malerei bzw. der Grafik. Unendlich viele Bilder dieser Art wurden in Auftrag gegeben, doch erreichten die wenigsten künstlerische Bedeutsamkeit. Oft werden sie sogar von ihren skizzenhaften Vorstudien übertroffen, wie überhaupt die grafische Kunst in der Zeit des Biedermeier einen Höhepunkt erreichte.

Federzeichnungen, Kupfer-, Stahl- und Holzstiche, Holzschnitte und Lithographien, die besonders für die Buchausstattung angefertigt wurden, zeugen von einer meisterlichen Beherrschung der Technik. Auf kleinstem Raum, oft versteckt in der den Text umrahmenden Ranke, werden ganze Erzählungen aus dem bürgerlichen Leben wiedergegeben. Mit der verstärkten Buch- und Zeitschriftenproduktion bot sich die Illustration der