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§ 2. Die grammatischen Formen und Kategorien. Grammatik als Beziehungs- und Gestaltungssystem. Die Einheitlichkeit der Grammatik

Jede der mannigfaltigen Formen, die in den Bereich der morpholo­gischen und syntaktischen Formmittel gehören, erfüllt irgendeine Funktion im Bau der Sprache. Diese Funktionen sind sehr verschieden­artig. Sie können darin bestehen, daß die betreffende .Form einen verallgemeinerten und ^ abstrahierten Bedeutungsgehalt ausdrückt, der die lexikale Semantik der Wörter überlagert, arscHrgend etwas «bedeutet» (z. B. das Formans -er als Bezeichnung des Plurals in der Wortform Leiber). Aber zuweilen dient die grammatische Form dem Zweck, die Struktur irgendwelcher grammatischen Einheiten aufzu­bauen (eine solche Rolle spielt z. B. der distanzierte verbale Rahmen, der den deutschen Satz zu einer streng geschlossenen Struktur formt: Wir haben diesen Aufsatz schon gestern zu Hause geschrieben). Deswegen ist es wohl richtiger, im allgemeinen von der «Funktion» der grammatischen Formen zu sprechen, in der der Ausdruck von Bedeu­tungen nur einen Teil, wenn auch den wichtigsten, bildet. (Über einen Versuch, die Termini «Bedeutung» und «Funktion» strenger zu differenzieren, vgl. 351.)

In diesem Zusammenhang ist es ratsam, einige terminologische Fragen zu erörtern. Es ist jetzt allgemein üblich, unter dem Ausdruck «die grammatische Form» nicht nur die äußere formale Hülle der betreffenden Erscheinung (den Lautkornplex eines Morphems, eine gewisse Wortstellungsart usw.), sondern auch die Verbindung dieser äußeren Hülle mit der Funktion, beziehungsweise der Bedeutung, die dieser Hülle innewohnt, zu verstehen. Daneben aber führt man oft auch den Fachausdruck «grammatische Kategorie» ein, der vorwiegend das System der durch irgendein grammatisches Merkmal verbundenen grammatischen Formen bezeichnet, z. B. die Kategorie der Zahl. Doch verwendet man diesen Ausdruck zuweilen auch zur Bezeichnung der einzelnen grammatischen Formen selbst, z. B. die Kategorie des Nominativs, oder ganzer Formensysteme, z. B. die Kategorie des Verbs.

Es gibt verschiedene Arten, von grammatischen Kategorien, unabhängig von ihrem Umfang. Besonders bedeutsam ist die von A. M. Peskovskij eingeführte Gegenüberstellung von «objektiven» und «subjektiv-objektiven» Kategorien (Peskovskij, 89). Die objektiven Kategorien bringen in verallgemeinerter und abstrahierter Form die sich im menschlichen Bewußtsein widerspiegelnden Sachverhalte der objektiven Wirklichkeit zum Ausdruck (z. B. Akkusativ als Bezeichnung des Objekts der Handlung, die Kategorie der Zahl). Wir bezeichnen diese Kategorien als «logisch-grammatische».

Ihr objektiver Charakter wird auch dadurch nicht aufgehoben, daß sie die realen Sachverhalte unter verschiedenen Blickwinkeln widerspie­geln können (z. B. eine aktive objektbezogene Handlung in der Form des Aktivs oder des Passivs), und ebensowenig dadurch, daß es gewöhnlich gewisse Widersprüche gibt zwischen der allgemeinen sachbezogenen Bedeutung irgendeiner logisch-grammatischen Kategorie und der Semantik einiger Formen, die zu dieser Kategorie gehören. Den logisch-grammatischen Kategorien stehen die Kategorien gegenüber, welche mit dem Prozeß der Sprachkommunikation verbunden sind und ihn aufzubauen helfen (z. B. die grammatischen Kategorien der Person, der Zeit, des Modus). Zum Teil kann man ihre Bedeutung nur vom Standpunkte des redenden Subjekts aus verstehen (so ist die erste Person der Redende selbst, die zweite Person ist sein Redepartner, zur dritten Person gehören alle übrigen Lebewesen und Dinge; der Unterschied zwischen den Modi beruht im wesentlichen darauf, wie-der Redende die Realität der Aussage einschätzt). Wir möchten hier aber einen anderen Terminus gebrauchen, und zwar den Terminus «kommunikativ-grammatische Kategorien», da in .einigen Fällen nicht die Einstellung des Redenden selbst, sondern die allgemei­nen Bedingungen des Redeaktes ihr Wesen bestimmen. So wird die grammatische Zeit von dem Zeitpunkt des Redeaktes als einer Koordi­natenachse aus abgezählt.

Das Wort logisch (in dem Ausdruck logisch-grammatische Kategorien) gebrauchen wir in dem besonderen Sinne, der ihm sehr oft in der Sprachwissenschaft beigelegt wird. Wir verstehen darunter die verallgemeinerten Erscheinungen und Sachverhalte der objektiven Welt, wie sie sich im menschlichen Denken widerspiegeln und in der Sprache zum Ausdruck kommen. (Vgl. solche Ausdrücke wie das logische Subjekt, um den Urheber einer Tätigkeit, das «Agens», zu bezeichnen.)

Die beiden Arten von Kategorien (die logisch-grammatische und die kommunikativ-grammatische) sind gewiß nicht immer scharf voneinan­der geschieden und haben sehr viele gemeinsame Züge. Die logisch-grammatischen Kategorien spielen eine wichtige Rolle beim strukturel-/ len Aufbau der Rede und helfen damit, den ungehemmten Ablauf des Redeprozesses zuwege zu bringen. Die kommunikativ-grammatischen Kategorien drücken dagegen immer auch irgendwelche logischen, d. h. in der objektiven Welt existierenden objektiven Inhalte und Sachverhalte aus — schon deswegen, weil die Einstellung des Redenden der Aussage gegenüber und die Bedingungen des Redeaktes selbst objektive Gegebenheiten sind, gewisse notwendige und typische, sozial begründete Erscheinungsformen.

Bei der Bestimmung des logisch- oder kommunikativ-gramma­tischen Bedeutungsgehalts einiger grammatischer Formen und Kategorien, kann es recht komplizierte Fälle geben, z. B. bei der Bestimmung des Bedeutungsgehalts einiger Zeitformen, besonders des Futurs II (vgl. § 38). Aber bei der überwiegenden Mehrheit gramma­tischer Formen und Kategorien ist doch ein gewisser verallgemeinerter Bedeutungsgehalt unverkennbar. Das krasseste Beispiel dafür liefern die lexikal-grammatischen Wortarten (Redeteile). Jede von ihnen besitzt ihren eigenen Bedeutungsgehalt, der die lexikale Bedeutung der zu diesem Redeteil gehörenden Wörter überlagert und sich selbst solchen Wörtern aufzwingt, deren Stamm (Grundmorphem) an und für sich eine ganz andere Bedeutung aufweist. So überlagert in dem Wort Bewegung der dem Substantiv innewohnende Bedeutungsgehalt eines Dinges, eines dinghaften Wesens (eben einer Substanz) die Bedeutung eines Prozesses, die dem Grundmorphem des Wortes innewohnt. Der Begriff eines Prozesses wird hier somit in der Form einer Substanz dargestellt, und dies geschieht eben als Ausdruck der Kraft, die (allerdings in verschiedenem Grade) den grammatischen Formen und Kategorien innewohnt, namentlich der Kraft, ihren «semantischen Stempel» selbst den solcher Semantik fremden Lexemen aufzudrücken (vgl. 31, 15; 105).

Das System der grammatischen Formen einer Sprache wird gewöhnlich als ein Netz von Beziehungen betrachtet, die zwischen diesen Formen auf irgendwelchen (oft sich durchkreuzenden) Ebenen bestehen und zu ihrer wechselseitigen Abgrenzung und Bestimmung führen. Aber außer solchem Beziehungssystem gibt es noch ein anderes System der grammatischen Formen, das ihre Gestaltung zu geschlosse­nen Einheiten und ihre formelle Gliederung sichert: das grammatische Gestaltungssystem.

Von diesem Standpunkt aus wird es möglich, noch eine besondere Abart der Kategorien zu konstatieren — die «strukturell-gramma­tischen», welche der formalen Organisierung der Redeeinheiten dienen [ (z. B. die Rahmenkonstruktion als ein Mittel zur Zusammenschweißung des Satzes). Für den Bau und für das Funktionieren der Sprache sind solche Kategorien (oder Formen) von kolossaler Wichtigkeit, da das Gestaltungssystem die Zementierung der grammatischen Gebilde zu nicht auseinanderfallenden Einheiten und ihre handliche Gliederung sichert. Die meisten Formen des Sprachbaus können also als gramma­tische Kategorien (logisch-grammatische, kommunikativ-gramma­tische oder strukturell-grammatische) betrachtet werden. Es gibt aber auch grammatische F'ormen, die man nicht zu den grammatischen Kategorien rechnen darf. Es sind Formhüllen, die mit keiner Funktion, (selbst im weitesten Sinne des Wortes) ausgestattet sind, weder eine «logische» Bedeutung haben noch irgendwelche Beziehungen zum Redeprozeß feststellen, noch die Redeeinheiten organisieren. So bleiben in der deutschen Sprache völlig funktionslos die Formunterschiede zwischen den starken und schwachen. Verben und somit diese verbalen Formsysteme selbst. Solche grammatischen Erscheinungen werden wir! im Gegensatz zu den grammatischen Kategorien «Formklassen» oderl «Formordnungen» nennen.

Anderseits gibt es solche verallgemeinerten Bedeutungen, die keinen frontalen grammatischen Ausdruck finden und nur teilweise an exakte Gegenüberstellungen von Morphemen oder anderen Formen des Sprachbaus gebunden sind (z. B. Substantivabstrakta). Sprachliche « Erscheinungen dieser Art werden wir «semantisch-grammatische g Wortklassen» nennen.

Wenn aber irgendwelche Bedeutungsgehalte auf systematische Weise nicht durch morphologische, sondern durch andere Mittel zum Ausdruck gebracht werden (Semantik, syntaktische Funktion, Fü­gungspotenzen, Intonation, Wortstellung usw.— vgl. §43, 45), so kön­nen hier selbst im Hinblick auf die Wortformen besondere grammati- . sehe Kategorien entstehen. Man nennt sie zuweilen «latente Kategorien» (Whorf, 88—89). Doch diese Bezeichnung ist m. E. nicht sehr glück­lich gewählt, da sie den Verdacht erweckt, als ob solche Kategorien sich von den «gewöhnlichen» prinzipiell unterscheiden. Aber in Wirklichkeit sind die grammatischen Formen und Kategorien, die mit Hilfe von man­nigfaltigen und feineren, sogar feinsten sprachlichen Mitteln expliziert werden, nicht minder real und können ebenso «besichtigt» werden, wie solche, die sich auf rein morphologische Merkmale stützen. Man soll auch nicht vergessen, daß die traditionelle Grammatik selbst seit Jahrhunderten sehr verschiedene Mittel berücksichtigt hat, um die morphologischen und syntaktischen Formen und Kategorien auszuson­dern. So wurde z. B. die Unterscheidung von zwei unveränderlichen Arten von Hilfswörtern, namentlich von Präpositionen und Konjuktio-nen, durchgeführt aufgrund der Unterschiede in ihrer syntaktischen Funktion oder, anders gesagt, in ihren «Fügungspotenzen». Auf derselben Grundlage werden solche überaus wichtigen syntaktischen Kategorien bestimmt wie das Nominativsubjekt und das Nominativprä­dikativ, denn der Nominativ als solcher hat ja mehrere Funktionen. Es ist überhaupt nicht nur das Recht, sondern sogar die Pflicht der Grammatik als Wissenschaft, wie jeder Wissenschaft, zu immer mannigfaltigeren und feineren Zugriffen zu schreiten (110, 13).

Eine andere Sache ist es, daß bei Handhabung feinerer und feinster Arten der grammatischen Analyse, selbst bei ihrer weitgehendsten Kooperierung, sehr oft keine frontalen, scharf umrissenen Formen und Kategorien zutage treten, sondern nur Ansätze zu ihrer Entstehung, gewisse Übergangserscheinungen. Oft handelt es sich dabei um funktionell-semantische Differenzierungen von zweifellos in der deutschen Sprache bestehenden lexikal-grammatischen Formen und Kategorien oder ihren Unterarten, wie z. B. bei der Ausscheidung von Hilfsverben, die zur Bildung von temporalen und Passivformen dienen. Zum Teil aber führen solche Differenzierungen nur zur Bildung von gewissen lexikal-grammatischen Klassen (z. B. Verba dicendi, sentiendi usw.), die manche eigentümlichen Züge aufweisen, aber auch sehr eng mit einigen anderen verbalen Abarten verbunden sind (vgl. § 35).

Es gibt allerdings auch solche Bedeutungsgehalte, die sich in verschiedenen grammatischen und lexikalen Formen manifestieren, ohne ein System zu bilden. Dies gilt z. B. für die Bezeichnung von Lebewesen (im Gegensatz zu leblosen Dingen). Ihre Aussonderung beruht einerseits auf der Gegenüberstellung der Fragepronomina wer (bezogen auf Lebewesen) und was (bezogen auf leblose Dinge), andererseits auf der Tendenz einiger grammatischer Konstruktionen zum vorwiegenden Ausdruck entweder der Lebewesen (z. B. beim «reinen» Dativobjekt) oder der leblosen Dinge (z. B. beim Ausdruck der instrumentalen Semantik mit Hilfe der Präposition durch). Aber alle diese Gebrauchsweisen stehen keineswegs fest. Es sind hier sehr viele Verlagerungen möglich. Selbst-auf die Frage mit dem Pronomen wer kann eine Antwort mit Nennung verschiedener sozialer Institutionen erfolgen: Wer hat es beschlossen? — Die hiesige Verwaltung. Und die Widersprüche in anderen Erscheinungsformen dieser angeblichen Kategorie treten noch krasser auf. Somit hat man hier eher mit «grammatisch-semantischen Feldern» zu tun (vgl. § 3) als mit grammatischen Kategorien. Es ist eben ein Ausdruck des komplizierten Charakters der feldmäßigen Natur des Bedeutungsgehalts von grammatischen Formen und Kategorien. Allerdings gibt es auch bei den Formen und Kategorien, deren grammatischer Status als unbestritten gilt, immer irgendwelche Diskrepanzen zwischen der Form und dem Bedeutungsgehalt, aber sie gehen nicht so weit und lassen sich im Rahmen eines, wenn auch kompliziert gegliederten Systems behandeln.

Es sei noch hinzugefügt, daß die Behandlung der grammatischen Formen und Kategorien als Bestandteile eines zusammenhängenden sprachlichen Systems in keinem Widerspruch steht zu ihrer Behandlung als Komponenten des Redeprozesses (6, 33—35). Das Funktionieren in der Rede ist ja nur die Realisierung der Potenzen, die die Bestandteile des sprachlichen Systems eben in ihrer sprachlichen, systemmäßigen Existenzform besitzen, und dabei eine solche Realisierung, die wirklich kreativ ist (109, 226). Denn eben das Funktionieren in den verschieden­sten Schichten der Redekommunikationen, in den verschiedensten Redekonstellationen, in den unzähligen Redeakten führt zu allmäh­lichen, wenn auch zuerst oft unmerklichen, Veränderungen in den Potenzen der grammatischen Formen und Kategorien und letzten Endes zu Veränderungen dieser Formen und Kategorien selbst, wenn die auf sie einwirkenden sozial-kommunikativen und kognitiven Triebkräfte stark und andauernd sind.

Von den grammatischen Formen und Kategorien eröffnen sich ja die «Perspektiven» (Brinkmann, 3) oder «Projektionen» (Admoni, 9), die auf alle Gebrauchsweisen der Sprache ausgerichtet sind und die in den unzähligen Arten von Kommunikationsakten, Redekonstellationen, Redesituationen, Textsorten, in allen Akten des Gedanken- und Redeablaufs usw. immer weitergeführt und mit neuem lexikalischem Material gespeist werden.

Die auf solche Art entstehenden Neuerungen sind, wie gesagt, wirklich kreativer Natur. Dagegen ist die Fähigkeit des Sprechenden, unzählige Sätze mit verschiedener lexikaler Füllung nach einer geringen Anzahl von Satzmustern irgendeiner Sprache zu bilden, nur eine mechanische Art des Produzierens, die für die eigentlichen Kodes kennzeichnend ist.

Die Bestimmung der Perspektiven/Projektionen, die die gramma­tischen Kategorien und Formen ausstrahlen, gehört zu den entschei­denden Aufgaben der Grammatik. Sie lassen sich aber keineswegs erschöpfend und restlos bestimmen und darstellen. Denn es entspricht eben ihrem innersten Wesen, daß sie sich in einer lebendigen Sprache, besonders in solchen funktional-stilistisch und textsortenmäßig ver­zweigten Sprachen wie es die modernen Nationalsprachen sind, in beständiger Bewegung befinden und stetige, wenn auch winzige Verlagerungen aufweisen. Die grammatische Forschung soll wie das Sprachsystem selbst eine offene sein (5, 62—66). Es genügt die Hauptrichtungen, Hauptpotenzen dieser Perspektiven oder Projektio­nen zu umreißen (besonders in einem Buch zusammenfassender Art wie dem vorliegenden) und den Leser davor zu warnen, das auf diese Weise entwortene Bild als ein endgültiges und vollständiges aufzufassen. Übrigens wäre es schon deshalb verfehlt zu hoffen, daß man die Abarten und Schattierungen solcher Perspektiven/Projektionen restlos registrie­ren und rubrizieren könne, weil während des Registrierens und Rubrizierens neue Abarten und Schattierungen entstehen würden.

Indem ich auf solche Weise den grammatischen Bau der Sprache, seine Formen und Kategorien behandle, betrachte ich ihn als ein real existierendes System mit seinen eigenen besonderen Gesetzmäßigkeiten. Allerdings sind alle diese Gesetzmäßigkeiten unmittelbar nur als Inhalte der menschlichen Psyche vorhanden, als Ausdruck der psychophysiologischen Zustände und Prozesse. Es ist ja z. B. streng genommen nicht eine Wortart, die gewisse Fügungspotenzen besitzt, sondern die psychische Empfindung des Menschen, der beim Gebrauch der betreffenden Wortart die Möglichkeit (oder sogar Notwendigkeit) spürt, gewisse Wortformen mit ihr zu verbinden. Und doch ist es keine bloße Metapher, wenn man eben von der «Fügungspotenz» einer Wortart oder einer Wortform spricht. Denn der intersoziale und sich in den Kommunikationsakten unzählige Male wiederholende Gebrauch der betreffenden Formen in einem stabilen Netz von Fügungen mit anderen Wortformen verleiht diesen Fügungen einen überindividuellen Charakter, ein ihnen eigenes, objektives Merkmal, so daß dementspre­chend die Beziehungen zwischen ihnen als das objektive grammatische System der betreffenden Sprache charakterisiert werden können, obgleich sie in jedem einzelnen Fall mit Hilfe des betreffenden psycholo­gischen Mechanismus individuell erzeugt werden. Die überindividuelle, intersoziale Festigkeit der Bindung gewisser semantischer und struktureller Merkmale an gewisse grammatische Formen läßt sich durch die einfachsten interspektiven Versuche beweisen. Man soll z. B. prüfen, welche grammatischen Bedeutungsgehalte und struktu­rellen Züge, die die lexikale Semantik überlagern, sich dem Bewußtsein der das Deutsche als Muttersprache Sprechenden aufdrängen, wenn man irgendeine grammatische Form situations- und kontextfrei nennt. So treten bei Nennung der Form kamst wie von selbst u. a. die Bedeu­tungsgehalte der zweiten Person Singular und der Vergangenheit auf. Sie machen sich geltend aufgrund der äußerlich unbewußten Einrei­hung dieser Form in das verbale Paradigma: einerseits durch die Gegenüberstellung mit den Formen kam und kamen, anderseits durch die mit der Form kommst. Und bei der Nennung des situations- und kontextfreien Satzes Du nahmst entsteht normalerweise die Empfin­dung der Unvollständigkeit dieses Satzes, das Gefühl, daß hier etwas fehlt, nämlich das Akkusativobjekt.

Gerade solche Fälle der organischen Verbindung der gramma­tischen Form mit ihrem Gehalt und ihren strukturellen Zügen lassen das grammatische System eben als ein besonderes, plasmaartiges System behandeln, das sich im kommunikativ-sozialen Raum befindet. Glücklicherweise sind die Zugriffe, die den Zusammenhang dieses Systems mit dem psychologisch-physiologischen Denk- und Redemecha­nismus in einigen wichtigen Punkten evident machen, von solch einfacher Art, daß sie von dem Grammatiker explizit durchgeführt werden können, ohne daß er sich irgendeiner psychologischen Richtung verschreibt, bzw. daß überhaupt keine Explizierung zu erfolgen braucht.

Daß aber das grammatische System einer Sprache eben ein System ist und keine Anhäufung von losen, aufeinander nicht bezogenen Gesetzmäßigkeiten, läßt sich nicht nur aus der Betrachtung des Materials selbst beweisen. Dies ließe sich vielleicht auch auf deduktivem Wege erreichen. Es bedeutete ja namentlich eine ungeheure Vergeu­dung von Ressourcen des Gedächtnisses und überhaupt der kognitiven Menschenkräfte, wenn alle grammatischen und lexikal-grammatischen Gesetzmäßigkeiten als einzelne, unzusammenhängende Einheiten vom Bewußtsein festgehalten werden sollten. Die systemhafte, hierarchische und wechselseitig beleuchtende Aufbewahrung der grammatischen Formen und Kategorien im menschlichen Bewußtsein sichert hier nicht nur einen kolossalen quantitativen Gewinn, sondern macht das uneingeschränkte Operieren mit diesen Gesetzmäßigkeiten in allen ihren Dimensionen erst möglich und verleiht dem grammatischen Bau der natürlichen Sprachen einen wirklich offenen Status (5, 39—41).

Die grammatischen Formen und darunter auch die syntagmatisch höchste von ihnen, der Satz, treten in ihrer tatsächlichen Existenz (in der Redekette monologischer oder dialogischer Art) immer als Hervorbringungen eines Redeakts auf und dabei mit wenigen Ausnah­men nur als Glieder größerer Redeeinheiten, sprachlicher Äußerungen von verschiedener Form und verschiedener Länge. Es können Dialoge und Monologe sein (z. B. Reden im Parlament oder Gericht), Briefe, fachliche Texte oder Werke der Schönen Literatur usw. Selbstverständ­lich ist für den Satz (und für die in ihn?*enthaltenen grammatischen Formen) solche Einbezogenheit in den sprachlich-kommunikativen Prozeß und in die umfangreicheren sprachlichen Einheiten von größter Bedeutung. Die Gestaltung des Satzes, die Wahl der in ihm verwende­ten grammatischen Formen — das alles wird in hohem Grade durch seine Rolle in der Redekette bestimmt, durch seine Beziehungen zu den Nachbarsätzen, aber nicht nur zu ihnen, sondern oft letzten Endes sogar zu dem Redeganzen. Gerade in letzter Zeit wird dieser Seite der Verwendung von grammatischen Formen große Aufmerksamkeit geschenkt. Es werden solche Einheiten ausgegliedert, die hierarchisch in der Redekette unmittelbar über dem Satz stehen (übersatzmäßige Einheiten) und sogar neue Arten der Grammatik diskutiert (Kom­munikationsgrammatik, Textgrammatik usw.— vgl. Harweg; Wun­derlich). Aber hier ist noch vieles unklar. Auf die gesprochene Sprache gehe ich hier nicht ein. Aber wenn man die moderne Schriftsprache betrachtet, so scheint hier nur eine übersatzmäßige Einheit außer Zweifel zu stehen, nämlich der Absatz, der allerdings auch mit dem einzelnen Satz (dem Ganzsatz — s. §52) zusammenfallen kann. Der Absatz ist ja typographisch klar als ein besonderer Abschnitt im Text ausgesondert und bildet auf diese Weise gleichzeitig eine formale (eben typographische), kompositionelle und auch syntaktische Einheit, da die einzelnen Sätze innerhalb des Absatzes dem Druck ausgesetzt sind, in besonders enge Beziehungen miteinander zu treten, was aber auf verschiedene Weise erfolgen und zuweilen auch ganz ausbleiben kann. Auch können die Beziehungen zwischen-den Absätzen syntaktisch ganz verschiedenartig sein (vgl. 74, 75). Ausführlich wird die Struktur des Absatzes und der Status des Textes in seiner Beziehung zum Satz in §61 behandelt.

Die Ausstattung der grammatischen Formen mit einer verallgemei­nerten grammatischen Bedeutung oder einem Bündel von solchen Bedeutungen ist nur eine Seite der konkreten Existenz von gramma­tischen Formen. Die andere Seite besteht darin, daß sie mit verschieden­artigem lexikalem Material gefüllt werden. Sie treten somit als Modelle auf, die die Grundlage zur Gestaltung konkreter Wortformen, Wortgruppen und Sätze bilden. Das Funktionieren der grammatischen Formen als Modelle ist übrigens nur eine Folge der Tatsache, daß die grammatischen Formen als typisierte Erscheinungen, d. h. als Typen, existieren. Im folgenden werden sie gewöhnlich eben als Typen bezeichnet.

Als grammatische Kategorien treten sowohl die morphologischen als auch die syntaktischen auf. Es unterscheiden sich dabei die Kategorien mit einem Formsystem, das alle zu der Kategorie gehö­renden grammatischen Erscheinungen umfaßt (z. B. das Kasussystem bei den Substantiven), von den Kategorien mit einem System von Formen, die sich alternativ unter den zu dieser Kategorie gehörenden Erscheinungen verteilen (z. B. das grammatische Geschlecht bei den Substantiven). Die letzteren Kategorien werden auch klassifizierende genannt (vgl. 99).

Die grammatischen Typen (Modelle) lassen sich auf verschiedenem Wege systematisch analysieren und beschreiben. Dies ist z. B. durch Anwendung vom mathematischen und formallogischen Apparat möglich (dem der Mengentheorie, der Prädikatenlogik usw.). Aber dies kann auch mit den Mitteln der Sprachwissenschaft als solcher geschehen. Im vorliegenden Buch wird eben der letztere Weg ange­schlagen, da nur auf diese Weise sich der Zugang zu den grammatischen Erscheinungen in ihrer ganzen Mannigfaltigkeit und in ihrem Aspekt­reichtum eröffnet.