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§ 8. Das Wort und die Wortgruppe

Als ein Lautkörper bildet das Wort im Deutschen ein einheitliches, formell streng organisiertes Gebilde. Sehr wirksam ist dabei die starke dynamische Betonung, die an keine bestimmte Stelle im Wort gebunden ist, aber in der Regel auf der semantisch wichtigsten Silbe liegt, d. h. auf dem Grundmorphem oder auf einem von seinen Teilen. Es gibt auch manche Gesetzmäßigkeit im phonematischen Bau des Wortes und der Silbe; vor allem die (übrigens gemeingermanische) Tendenz zum konsonantischen An- und Auslaut des Grundmorphems ersten Grades (= Wurzel), was diese Silbe zu einem lautlich festen, «gedeckten» Gebilde macht (vgl. 189, 32—42, wo auch die einschlägige Literatur verzeichnet ist).

Der konsonantische Bestand der Wurzeln ist auch gewöhnlich der Hauptträger der lexikalen Bedeutung des Wortes, da ihr vokalischer Bestandteil oft variabel ist und zur Bezeichnung der grammatischen Bedeutungen (innere Flexion) dient.

Doch fehlt es im Deutschen an absoluter Obereinstimmung zwischen Wortform und Woftinhalt. Und nicht nur auf dem Gebiete der analytischen Formen. Es sind hier noch zwei Erscheinungen zu erwäh­nen: die trennbaren Vorsilben beim Verb und die zusammengesetzten Substantive, die zu der idealen Vorstellung vom Wort als einer engen semantischen und formalen Einheit des grammatischen Baus nicht passen.

In beiden Fällen handelt es sich eigentlich um ein und dieselbe Erscheinung, da die Verbindung der trennbaren Vorsilben mit dem Verb der Zusammensetzung viel näher steht als der Präfigierung. Die trennbaren Vorsilben ab-, an-, auf-, aus-, bei-, ein-, mit-, nach-, vor-, zu-und selbst die bald trennbaren, bald untrennbaren Vorsilben durch-, über-, um-, unter-, wider- haben zum Teil sehr komplizierte, aber keineswegs verblaßte Bedeutungen. Sie finden genaue Entsprechungen (in ihrer Form und Bedeutung) unter selbständigen Wörtern (Präposi­tionen, seltener Adverbien), so daß in ihren Verknüpfungen mit den Verben die Morpheme ab (abbiegen, abbrechen, abnehmen usw.), an usw. als Wortstämme und nicht als Hilfsmorpheme erscheinen.

Die Tatsache, daß die trennbaren Vorsilben grammatisch eine komplizierte Übergangserscheinung darstellen, wurde schon längst erkannt (vgl. 405, II, 122; 309, V, 33—39). Man spricht von Halbpräfi­xen, Präfix-Adverbien, trennbaren Komposita usw. Dennoch lebt in den meisten Lehrbüchern und Wörterbüchern die Benennung «trennbare Vorsilben» weiter, und bequemlichkeitshalber werden wir im folgenden diesen traditionellen Ausdruck beibehalten.

Aber wenn auch die beiden hier zu erörternden Bildungen zu ein und demselben Bereiche gehören und auch darin parallel sind, daß sie den gewöhnlichen grammatischen Anforderungen, die man an das Wort stellt, nicht Genüge leisten, so ist ihr Wesen doch ganz entgegengesetzt. Der Gebrauch der trennbaren Vorsilben (und der ersten Glieder verbaler Zusammensetzungen überhaupt) tritt in der deutschen Sprache in Widerspruch mit der strukturellen Geschlossenheit des Wortes. Dagegen tritt.der Gebrauch der zusammengesetzten Substan­tive in Widerspruch mit der semantischen Einheitlichkeit des Wortes. Auch hier macht sich der weitgehende Unterschied in der Gestaltung der Substantivgruppe und der Gruppe des Verbs bemerkbar, der für das Deutsche so charakteristisch ist.

Die trennbaren Vorsilben des Verbs treten beim Gebrauch im Präsens und Präteritum im Hauptsatz so auf, wie es selbständige Wörter (Adverbien) tun. Sie stehen getrennt (gewöhnlich sogar distanziert) von dem Verb und scheinen eine eigene Semantik zu besitzen:

Anfang Oktober fuhr ein gewisser Franz Marnet von dem Gehöft seiner Verwandten, das zu der Gemeinde Schmiedtheim im vorderen Taunus gehörte, ein paar Minuten früher als gewöhnlich auf seinem Fahrrad ab. (Seghers)

Aber auch in den Nominalformen des Verbs, wo die trennbaren Vorsilben mit den Verben zusammengeschrieben werden, unterscheiden sie sich von den «wahren», d. h. untrennbaren Vorsilben. Im Partizip II ersetzt die trennbare Vorsilbe, im Gegensatz zur untrennbaren, das Präfix ge- nicht (vgl. besetzen besetzt, aufsetzen aufgesetzt), wobei die trennbare Vorsilbe vor dem Präfix steht. Im Infinitiv steht die trennbare Vorsilbe sogar vor der Partikel zu, sie sozusagen zwingend, mit dem Verb zusammengeschrieben zu werden, wogegen sich die Partikel sonst sträubt (vgl. zu besetzen aufzusetzen). Das alles scheint davon zu zeugen, daß die trennbaren Vorsilben mit dem Verb ganz lose verknüpft sind und keine lexikale Einheit mit ihm bilden.

Auf diesen Tatsachen fußend, bezeichnet K- Boost (42—43) die trennbaren Vorsilben nicht als Vorsilben. Es ist interessant, daß auch in der älteren Grammatik (Bödiker, Fulda u. a.) die trennbaren Vorsilben in der Regel als Wör.ter (Adverbien, Präpositionen, Partikeln) behan­delt wurden (vgl. 258, II, 359—366).

Doch gibt es triftige Gründe, die den traditionellen Standpunkt bezüglich der trennbaren Vorsilben bekräftigen.

In den Nominalformen ist die strukturelle Verbindung der Vorsilbe und des Verbs außerordentlich fest. Die starke Betonung der Vorsilbe beherrscht, durchdringt und organisiert das ganze Gebilde, macht es formell zu einer ausgesprochenen Worteinheit. Die Komponenten schmelzen hier zusammen in einem ganz anderen Grade, als es bei den syntaktischen Verbindungen der Fall ist. Sogar die Einverleibung der Partikel zu beweist eigentlich nur die Macht der hier obwaltenden Tendenzen zur Bildung einer Wortform. Steilen wir einer Konstruktion mit der trennbaren Vorsilbe eine identisch gebaute Konstruktion mit einem richtigen Adverb gegenüber: Er versuchte mitzusprechen Er versuchte, laut zu sprechen. Man spürt hier einen intonationsmäßigen Unterschied.

Daraus kann man den Schluß ziehen, daß die Nominalformen des Verbs mit den trennbaren Vorsilben nicht nur zusammengeschrieben werden, sondern auch phonetisch zusammenschmelzen, wie es den Teilen eines Wortes eigen ist. Die traditionelle Schreibweise gibt hier den wirklichen Tatbestand wieder.

Aber wenn wir es in den Nominalformen nicht mit einer syntak­tischen Fügung, sondern mit der Form eines Wortes zu tun haben, so muß man auch die Fälle, in welchen das Verb (in finiter Form) und die trennbare Vorsilbe distanziert sind, von dieser Tatsache aus betrachten. Alle Wortformen eines morphologischen Systems sind aufeinander bezogen, so daß es nur unter dem Druck von besonders schwerwiegen­den Argumenten angebracht wäre, in diesem Falle die Nominalformen als Wörter und die Personalformen als Wortverbindungen einzuschät­zen. An solchen Argumenten fehlt es aber. Dagegen entspricht es durchaus den allgemeinen strukturellen Zügen des deutschen Sprachbaus, daß eine einheitliche Form auseinandergerissen wird, um durch Distanzierung der voneinandergetrennten Teile einen festen Rahmen für den Satz zu bilden. Die Distanzierung einer wortbildenden Vorsilbe, die die Gestalt eines Adverbs hat, ist eine Parallelerscheinung zu der Distanzierung eines fprmbildenden Morphems, das die Gestalt einer Personalform des Verbs hat.

Aber auch vom semantischen Standpunkt aus unterscheiden sich die trennbaren Vorsilben von den Adverbien. Die konkreten lokalen Bedeutungen bilden nur eine Schicht in der semantischen Struktur der trennbaren Vorsilben, die sehr kompliziert ist und ganz verschiedenen Bedeutungen und Bedeutungsschattierungen Raum gibt. Vgl. anführen, ankommen, anlanden usw.— annehmen, anregen, anschicken usw., vorlegen, vorführen usw.— vorkommen, vorwerfen, vorgeben usw. (vgl. 309, V, 33—34). Derartige Polysemie kommt bei lokalen Adverbien gar nicht vor. Sie steht der Mehrdeutigkeit der Präpositionen sehr nah (wahrscheinlich deshalb bezeichnet K. Boost die trennbaren Vorsilben als Präpositionen), aber die trennbaren Vorsilben und die Präpositionen werden dadurch unterschieden, daß die ersteren überhaupt nicht oder jedenfalls nicht unmittelbar mit Substantiven verbunden werden. Wenn ein Verb mit trennbarer Vorsilbe ein regiertes Nomen bei sich hat, so hängt das Nomen entweder von einer zusätzlich in die Konstruktion eingeführten Präposition ab, die mit der Vorsilbe homonym ist, z. B. Er kommt an der Station an, oder von der Einheit, die die Vorsilbe mit dem Verb bildet, z. B. Sie nahm sich des Kindes an. (Über einige Schwan­kungen, z. B. Meine Augen gingen den Ihrigen nach, vgl. 215, 389 bis 398.) Also fallen die trennbaren Vorsilben weder mit den Adverbien noch mit den Präpositionen zusammen, überhaupt mit keiner gramma­tischen Wortart. Sie sind Wortteile, aber solche Wortteile, die auf Grund der allgemeinen Strukturgesetze des deutschen Satzes auch ab­getrennt von dem Hauptteil des Wortes, zu welchem sie gehören, stehen können.

In dieser Lage befinden sich nicht nur die trennbaren Vorsilben. Die Zusammensetzungen beim Verb sind überhaupt nur in seltenen Fällen fest. Nur vereinzelt bleiben die ersten Glieder der verbalen Zusammen­setzungen in den Personalformen des Verbs mit ihm verbunden: ich frohlocke, liebkose, mutmaße, rechtfertige, vollende und einige andere. In den meisten Fällen stehen die beiden Teile der verbalen Zusammen­setzungen nebeneinander als eine einheitliche Wortform nur in den Nominalformen des Verbs, wogegen sie in den Personalformen getrennt werden und der erste (nicht verbale) Teil der Zusammensetzung der Schlußstellung im Elementarsatz zustrebt: mitnehmen, mitgenom­men Ich nehme (...) mit; hochachten, hochgeachtet Ich achte (...) hoch; stattfinden, stattgefunden Es findet (...) statt. Nebeneinander stehen sie als eine einheitliche Wortform nur in den eingeleiteten Nebensätzen, in denen die Personalform des Verbs der Schlußstel­lung zustrebt; ..., den ich (...) mitnehme; ..., als es (...) stattfand.

Sehr zahlreich sind solche phraseologischen Bildungen, in denen das erste (nominale) Glied erst im Begriffe ist, mit einem Funktionsverb eine lexikale Einheit zu bilden, z. B. in Berührung kommen, zum Ausdruck bringen, in Erwägung ziehen usw. Wo der Prozeß des Zusammenschweißens solcher Komponenten zu einer Worteinheit weit vorgeschritten ist, gibt es gewöhnlich die Rechtschreibung durch eine Reihe von Varianten wieder: in Frage kommen in frage kommen infrage kommen inj'ragekommen. Aber die Hauptregel der verbalen Zusammensetzung bleibt überall die Unterscheidung der Nominalfor­men und der Personalformen durch die Stellung der zusammenge­setzten Glieder (im unabhängigen Elementarsatz): Die Fabrik wurde inbetrieb gesetzt (inbetrieb gesetzt) Wir setzen die Fabrik inbetrieb. Ein Wortinhalt wird hier also in der Form einer Wortverbindung gegeben (vgl. 405, III, 2, 115; 166; 315; 349; 73).

Dagegen tritt bei der substantivischen Zusammensetzung die Tendenz in den Vordergrund, den Inhalt einer Wortverbindung, einer attributiven Wortgruppe, in der Form eines Wortes zu geben. (Über das System der substantivischen Zusammensetzung im Deutschen s. 311; 192, 57—65; 79, 139—143; 203, 77—122.) Gewiß kommen in dem Bereich des Substantivs phraseologische Bildungen vor, die semantisch untrennbar sind (in dem Sinne, daß sich die Bedeutung des Ganzen unmittelbar aus der Bedeutung der Teile nicht ergibt) und also ihrem Inhalt nach einem Worte gleichzusetzen sind: rote Rüben, blaue Bohnen, blinde Kuh (in der Wendung blinde Kuh spielen usw.). Aber das sind nur Einzelfälle, meistens ausgesprochen metaphorischer Art, die für den deutschen Sprachbau als System ganz unwesentlich sind. Dagegen gehört das entgegengesetzte Formprinzip: die Gestaltung eines syntaktischen Verhältnisses in der Form eines zusammengesetzten Wortes zu den wichtigen Strukturbesonderheiten des Deutschen.

Nicht jedes zusammengesetzte Substantiv ist selbstverständlich seinem Inhalte nach einer attributiven Wortgruppe analog. Es gibt viele Tausende von substantivischen Zusammensetzungen, die semantisch eine feste Einheit bilden, obgleich die Bedeutung ihrer Komponenten als solche keineswegs verblaßt ist. (Beim Abrücken der Komponenten von der Semantik, die die ihnen entsprechenden selbständigen Wörter haben, oder beim Verblassen der Semantik der Komponenten springt die Bedeutungseinheitlichkeit der Zusammensetzung sogleich in die Augen: Leichnam, Bräutigam, Nachtigall usw.) In den Formen Tischtuch, Pferdestall, Sonnenschein usw. ist keine Veränderung in der Grundse­mantik von Tisch, Tuch, Pferd, Stall usw. eingetreten. Sie ist auch nicht verblaßt. Wenn man die Form Tischtuch hört und dabei an die Einzelbe­deutung der Teile dieser Form denken will, so stößt man sogleich auf die Hauptbegriffe, die überhaupt den Inhalt der Wörter Tisch und Tuch ausmachen. Aber bei ihrer Vereinigung in der Zusammensetzung treten diese Bedeutungen in eine so nahe und feste Verbindung, daß sie einander durchdringen und spezialisieren, eine neue semantische Einheit bildend. So bringt die Form Tischtuch einen besonderen, bleibenden, spezialisierten, längst erarbeiteten Begriff zum Ausdruck und gehört zweifellos zum Wortschatz der deutschen Sprache. Ähnlich verhält es sich bei der Verbindung von Pferd und Stall zu Pferdestall usw.

Aber in sehr vielen Fällen ist die semantische Verbindung der Komponenten des zusammengesetzten Wortes ganz lose, nicht bleibend, sondern gelegentlich (okkasionell). Die Zusammensetzung, die solche unstete semantische Verbindung gestaltet, wird vom Sprechenden während der Rede, im Prozeß des Sprechens, geformt und nicht als

beständiges lexikales Sprachgut den Wortvorräten der Sprach« entnommen und verwertet. Solche Zusammensetzungen gehören — wenn man sich einer Formel bedient, die oft mißbraucht wird, aber hier recht am Platz ist — nicht zur Sprache, sondern zur Rede, und das macht sie den syntaktischen Wortgruppen, den freien Verbindungen von selbständigen Wörtern wesensverwandt (vgl. 211). Die semantischen Beziehungen innerhalb der Substantivkomposita lassen sich durch die Zusammenstellung mit den-Gliedern verschiedener Entsprechungspa­radigmen ermitteln.

Vielen in der Dichtung vorkommenden Zusammensetzungen sieht man es an, daß sie aus einem gewissen Kontext geboren sind und keine Allgemeingültigkeit beanspruchen: Rauschenwasserritter (Heine), Gesandtschaftsattachehaltung (Fontane), Hoch- und Wunderertrag (Th. Mann), Apfelbaumwiese (Seghers).

Auch in anderen Sprachstilen findet man solche okkasionellen Zusammensetzungen, z. B. im Zeitungsstil: Einkellerungskartoffeln. In verschiedenen Sprachstilen werden die zusammengesetzten Wörter auf eine solche Weise gebraucht, die tatsächlich völlige inhaltliche Gleichsetzung der Zusammensetzungen und der Wortgrup­pen bedeutet: beide Bildungsarten werden nebeneinander ohne irgendwelchen Bedeutungsunterschied verwendet, z. B. im folgenden (stark gekürzten) Auszug aus einem Roman:

Die Soldaten, die an den drei Kesseln die Ausgabe des Essens besorgten, tauchten stumm und automatisch den großen Löffel ein ... aber die Organisation der Essenausgabe hatte schlecht geklappt ... Sobald die Ausgabe des Essens begann, wurden...

Die Zusammensetzungen können also den Inhalt wiedergeben, der für die Wortgruppe kennzeichnend ist. Innerlich sind solche Zusammen­setzungen gegliedert. Nur diese Tatsache macht es verständlich, daß im Deutschen ziemlich oft mit einem zusammengesetzten Substantiv ein Attribut verbunden wird, das sich nicht auf die ganze Zusammenset­zung unmittelbar (d. h. auf das Grundwort), sondern auf ihr erstes (bestimmendes) Glied bezieht. Obwohl solche Bildungen als unkorrekt gelten und von den Stilisten bekämpft werden, treten sie immer wieder auf und haben sich zum Teil schon behauptet (jedenfalls in der Umgangssprache).

Die Möglichkeit, das erste Glied der substantivischen Zusammenset­zung mit einem Attribut zu versehen, wird zuweilen auch dann verwertet, wenn dieses erste Glied mit seinem Attribut eine phraseolo­gische (oder terminologische) Einheit bildet. So entstehen Gebilde wie die reitende Artilleriekaserne, in welchen das Kompositum seiner semantischen Gliederung nach einer syntaktischen Gruppe gleichzuset­zen ist (Artilleriekaserne = Kaserne der Artillerie), während in der syntaktischen Wortgruppe die reitende Artillerie die Bedeutungen der Glieder miteinander so fest verwachsen sind, daß ihre Gesamtbedeu­tung eigentlich die eines Wortes (eines Fachausdrucks) ist. Es entsteht hier also paradoxerweise eine völlige Umkehrung aller geltenden Normen: das Wort spielt die Rolle einer Wortgruppe, die Wortgruppe spielt die eines Wortes. Und obgleich solche extremen Fälle nur vereinze!; vorkommen und selbst in der Umgangssprache als Entglei­sungen empfunden werden, beweist das Vorhandensein solcher Bildungen, daß die Grenzen zwischen dem Wort und der Wortgruppe im Deutschen oft verwischt werden. Doch das Entscheidende in der Gruppe des Substantivs ist dabei die Ersetzung einer Wortgruppe durch die kompakte Form des Kompositums, wogegen in der Gruppe des Verbs ein Wort formell als eine distanzierte Wortgruppe auftritt.

Auch die anderen Sprachen kennen mehr oder weniger den Widerspruch sowohl zwischen der Wortform und dem Wortgehalt als auch zwischen der Wortgruppenform und dem Wortgruppengehalt. Überall, wo analytische Formen im grammatischen System des Verbs existieren, ist dieser Widerspruch da, und alle modernen indoeu­ropäischen Sprachen besitzen solche Formen, wenn auch in verschiede­nen Quantitäten. Aber auf dem Gebiete der Zusammensetzung und der Phraseologie ist das Bild nicht so einheitlich.

Für die russische Sprache ist die Zusammendrängung der Substantivgruppe zu einem Kompositum, ohne daß dabei die Bedeu­tungen der Komponenten zu einer einheitlichen Wortbedeutung zusam­menschmelzen, eine ziemlich eingeschränkte Erscheinung. Dagegen ist im Russischen die Verwertung von' phraseologischen Bildungen (Wortgruppen) zur Wiedergabe einer festen, bleibenden Bedeutung (einer «Wortbedeutung») sehr verbreitet: belyj medved' (Eisbär), zeleznaja doroga (Eisenbahn) (vgl. 23, 21—28). Und diese Tatsachen sind aufs engste mit dem allgemeinen Charakter des russischen Satzbaus verbunden, der zur freien Entfaltung der syntaktischen Komponenten neigt und formelles festes Zusammenschweißen dieser Komponenten nicht erfordert.

In der englischen Sprache ist die Lage wieder ganz anders. Die Zahl der widerspruchsvollen Konstruktionen, die einerseits zum Wort, anderseits zur Wortgruppe gehören, ist hier außerordentlich groß. Es sind Bildungen vom Typus stone wall ((steinerne Mauer)), speech sound ((Redelaut)). Man betrachtet sie bald als Zusammensetzungen, bald als Wortgruppen. Aber die allgemeine analytische Einstellung des Englischen macht es doch wahrscheinlicher, daß man es mit eigenarti­gen Wortgruppen zu tun hat, was auch durch das Fehlen einer stärkeren Betonung.auf dem ersten Glied bekräftigt wird.

Auch die zusammengesetzten Formen der Adjektive und Adverbien stehen zuweilen den syntaktischen Gebilden sehr nahe. Besonders oft kommen solche Formen seit Jahrhunderten in der Poesie vor: z. B. mit morgenroten Flügeln (Goethe), kinderrein (Mörike), windstillen Lebens (Lilienkron), weichwollig beflaumt (Goethe). Aber auch in der Prosa, nicht selten in der modernen Gebrauchssprache: z. B. bügelfeste Wäsche, handwarmes Badewasser, ausstellungsreife Fotos (vgl 294, 19—31). Sehr gebräuchlich sind die syntaktisch ausgerichteten zusammengesetzten attributiven Partizipien sowohl in der Poesie als auch in der Prosa: z. B. duftgelenkte Bienen, geräuschdämpfender Unterbau (vgl. § 57).