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Aufsatz

(Schritte nähern sich, die Tür wird geöffnet, Direktor Himpel erscheint)

Himpel: Wie schön, dass ihr wieder wach seid, da brauche ich mir nichts vorzuwerfen. Ich wollte euch etwas vorschlagen. Als Bewohner des Zuzugshauses seid ihr Freigänger: ihr dürft die Insel überall betreten. Wenn ihr Lust habt zu einem Spaziergang, ich hab zufällig Zeit.

Kurtchen:Danke für die Blumen. Ein Blick von hier genügt uns.

Himpel (setzt sich auf den Tisch): Heute ist übrigens der Musiktag, da dürft ihr Radio hören, soviel ihr wollt. Auf unserer Insel hat jeder Wochentag einen besonderen Namen, Montag ist der stille Tag, da wird gelesen, der Dienstag heißt der blanke Tag, da ist Schuh- und Kleiderappell; heute also Musiktag, den Donnerstag nennen wir den frischen Tag, da ist Sport, Freitag ist der ordnende Tag, weil an ihm deutsche Aufsätze geschrieben werden, Sonnabend, ja, Sonnabend ist der fröhliche Tag, weil an ihm ein fröhlicher Inselchor musiziert – unter meiner Leitung übrigens; ich hoffe auch euch im Chor zu sehen. Wer es geschafft hat, dem Inselchor anzugehören, hat seine Vorteile: er wird zweimal für zwei Stunden in der Woche von der Arbeit befreit. Und schließlich Sonntag, der besinnliche Tag, mit Briefschreiben, Stopfen, Gesprächen (Er blicht uns fest an, als fordere er unsere pünktliche freudige Zustimmung).

Kurtchen:Immerhin etwas, es gibt keinen beschissenen Tag.

Himpel (geduldig):Habt ihr euch schon entschieden für eine Arbeit? Ich vermute, da ihr ein Zimmer teilt, möchtet ihr auch den Arbeitsplatz teilen.

Kurtchen: Arbeiten? Was haben Sie denn anzubieten?

Himpel (verheißungsvoll): Unsere neuen Werkstätten bieten jede Ausbildung; es ist eine Lust, in ihnen zu arbeiten. Wer will, kann hier einen Beruf erlernen: Zimmerer, Schlosser, Maler, Gärtner, alles.

Kurtchen (zu mir): Was meinst du, Kleiner? Welchen Beruf sollen wir uns aussuchen? Wenn es sich schon nicht umgehen lässt?

Himpel: Es besteht natürlich kein Zwang, einen Beruf zu erlernen. Nur arbeiten, das muss jeder auf der Insel. Ihr habt noch viel zu lernen. Ihr habt noch viel anzusehen. Ihr scheint noch nicht einmal zu wissen, welch ein Zusammenhang zwischen Arbeit und Brot besteht. Macht nichts. Auf unserer Insel wird man ihn euch beibringen. Ihr werdet die Notwendigkeit des Gehorsams begreifen und eines Tages hoffentlich die Freude der Verantwortung. Was wir auf unserer Insel brauchen, machen wir alles selbst, Gebäude, Werkzeuge, Ideale, ja, auch Ideale. Wir sind eine Gemeinschaft, eine Inselgemeinschaft, die selbst bestimmt, was sie nötig hat. Bereitwilligkeit, das ist alles.

Wenn ihr bereit seid, euch den Gesetzen der Insel anzupassen, werdet ihr neue Möglichkeiten entdecken für euch selbst. Das schwerste ist der Anfang.

(Die Tür wird aufgerissen, ein hagerer, schreckhaft wirkender Mann stürzt herein, in einer Hand schwenkt er eine zerbrochene Brille. Doktor Korbjuhn. Schnell atmend bleibt er in der Mitte des Zimmers stehen, ein Geruch von Salbe geht von ihm aus).

Himpel:Mein lieber Doktor Korbjuhn, was ist denn nun schon wieder geschehen?

Korbjuhn:Ich hab Sie gesucht, Herr Direktor. Es ist unerlässlich, dass Sie über die Vorgänge Bescheid wissen. Bei der Deutschstunde. Ich ließ einen Aufsatz schreiben.

Himpel (die Brille betrachtend):Ist sie zerbrochen?

Korbjuhn:Einer der Jungen bekam plötzlich Krämpfe und fiel aus der Bank. Ich wollte ihm helfen. Es entstand ein regelrechter Aufruhr. Sie verlangten von mir, dass ich ihn nicht berühre. Sie bedrohten mich. Aber ich musste ihm doch helfen. In dem Durcheinander – hier (zeigt auf seine Brille). Abgestreift. Zertreten. Und ich muss annehmen: mutwillig.

Himpel:Es wird alles untersucht werden. Wie lautete denn das Thema?

Korbjuhn: Des Aufsatzes? Ganz allgemein, jeder durfte schreiben, was er wollte…“Nur wer gehorchen kann, kann auch befehlen“.

Himpel:Ein nützliches Thema.

Korbjuhn: Zwei Jungen gaben nach der Stunde ein leeres Heft ab. Ich hab sie in die Direktion bestellt.

Himpel: Die werde ich mich gleich vornehmen, gleich (er gibt mir die Hand). Bald, Siggi, bald wirst du deinen ersten Aufsatz hier schreiben. Du wirst deine Sache besser machen, ich bin überzeugt davon. Ich wünsche dir, dass du Gefallen an der Insel findest und sie an dir.

Ich:Mal sehen.

* * *

Doktor Korbjuhn trat in den Klassenraum, musterte uns höhnisch, aber auch schreckhaft, ließ sich ein “Guten-Morgen-Herr-Doktor“ wünschen und verteilte ohne Ankündigung, ohne Warnung die Aufsatzhefte. Er sagte nichts. Er trat, und ich meine: genussvoll, an die Tafel, ergriff die Kreide, hob die unansehnliche Hand und schrieb das Thema an die Tafel in seiner geduckten, schrägen Schrift. Es hieß “Die Freuden der Pflicht“, und um allen Fragen auszuweichen, verfügte er: “Jeder kann schreiben, was er will: nur muss die Arbeit von den Freuden der Pflicht handeln.“

Ich blickte erschrocken in die Klasse, sah nur gekrümmte Rücken, verstörte Gesichter. Ole Plötz bewegte seine fleischigen Lippen und bereitete seine Krämpfe vor. Charlie Friedländer, der begabt genug ist, nach Belieben blass, grünlich, jedenfalls alarmierend ungesund zu erscheinen, so dass alle Erzieher ihn spontan von jeder Arbeit befreien – Charlie verfärbte sich zwar noch nicht, ließ jedoch schon seine Atemkunst spielen. Da es nicht beliebige, da es die Freuden der Pflicht sein sollten, die Korbjuhn sich von uns entdeckt, beschrieben, ausgekostet, jedenfalls eindeutig bewiesen wünschte, konnte mir niemand anderer erscheinen, als mein Vater, Jens Ole Jepsen, seine Uniform, sein Dienstfahrrad, das Fernglas, der Regenumhang, seine in unablässigem Westwind segelnde Silhouette auf dem Kamm des Deiches. Ich hatte plötzlich zuviel zu erzählen, oder doch so viel, dass mir kein Anfang gelang, so sehr ich mich auch anstrengte, immer mehr verwirrte sich alles im Tresor meiner Erinnerung, und als Doktor Korbjuhn die Hefte einsammelte, gab ich ein leeres Heft ab.

Julius Korbjuhn konnte meine Schwierigkeiten nicht einsehen, glaubte mir nicht die Qual des Beginnens, konnte sich einfach nicht vorstellen, dass keine Ruhe eintrat, kein Stillstand, der nötig ist, um ein Netz über Vergangenes zu werfen. Du siehst nicht so aus, Siggi Jepsen, und behauptete mehrmals, dass die leeren Seiten gegen ihn gerichtet seien. Statt mir zu glauben, witterte er Widerstand, Aufsässigkeit und so weiter und führte mich nach der Deutschstunde, die mir nichts brachte, als den Schmerz über eine tolle, verwackelte, jedenfalls unknüpfbare Erinnerung, in das blaue Direktionsgebäude.

Doktor Himpel, wie immer von etwa zweiunddreißig Psychologen umgeben, hörte mir erstaunt, vielleicht sogar verständnisvoll zu, während die Diplompsychologen erregt flüsterten, “Wartenburgischer Wahrnehmensdefekt“ oder “Kognitive Hemmung“.

Nachdenklich zog der Direktor seine Hand von meiner Schulter, musterte sie kritisch, prüfte vielleicht, ob sie noch komplett war, und wandte sich dann, unter der erbarmungslosen Aufmerksamkeit seiner Besucher, zum Fenster, wo er ein Weilchen in den Hamburger Winter hinausblickte, sich wohl bei ihm Anregung und Rat holte, denn auf einmal wandte er sich mir zu und verkündete mit niedergeschlagenen Augen sein Urteil. Ich solle, so meinte er, in meine Zelle gebracht werden, in “anständige Abgeschiedenheit“, wie er sagte, und zwar nicht, um zu büßen, sondern um ungestört einzusehen, dass Deutschaufsätze geschrieben werden müssen. Er gab mir also eine Chance.

Er erläuterte, dass alle Ablenkungen, wie etwa Besuche meiner Schwester Hilke, von mir ferngehalten würden, dass ich meinen Pflichten – in der Besenwerkstatt und in der Inselbücherei – nicht nachzugehen brauchte, überhaupt versprach er, mich von jeder Störung zu bewahren.

Es kann ruhig, sagte er, dauern, solange es nötig ist. Ich solle den Freuden der Pflicht, sagte er geduldig nachspüren. Ich meine, er sagte auch, ich solle alles bedachtsam tropfen und wachsen lassen, wie ein Stalaktit oder so; denn Erinnerung, das kann auch eine Falle sein, eine Gefahr, zumal die Zeit nichts, aber auch gar nichts heilt.

Dann ließ er Joswig rufen, unseren Lieblingswärter, machte ihn mit seinem Beschluss bekannt und sagte etwas: Einsamkeit, Siggi braucht nicht so sehr wie Zeit und Einsamkeit: achten Sie, dass er beides reichlich erhält. Dann gingen wir in meine Zelle. Joswig so bekümmert und vorwurfsvoll, als hätte ich ihm mit meiner Verurteilung eine eigene Enttäuschung bereitet. Denk, sagte er, an Philipp Neff, womit er mich indirekt davor warnte, es diesem Philipp Neff nachzutun, einem einäugigen Jungen, den sie ebenfalls verurteilt hatten, eine Deutscharbeit nachzuschreiben. Zwei Tage und zwei Nächte, so kann man erfahren, soll dieser Junge sich abgemüht haben, einen Anfang zu finden, - es ging, soviel ich weiß, um das Korbjuhnsche Thema: “Ein Mensch, der mir auffiel“, - am dritten Tag schlug er einen Wärter nieder, brach aus, würgte den Hund des Direktors, konnte bis zum Strand fliehen und ertrank bei dem Versuch, die Elbe zu durchschwimmen. Das einzige Wort, das Philipp Neff in sein Heft geschrieben und hinterlassen hatte, hieß: Karunkel – was immerhin vermuten ließ, dass ihm ein Mensch mit einer Fleischwarze besonders aufgefallen war.

Ich bin in meiner Zelle, der Tisch ist sauber, mein Heft liegt aufgeschlagen vor mir, bereit die Strafarbeit aufzunehmen. Ich kann mir keine Ablenkung mehr leisten, ich muss beginnen, ich muss den Schlüssel umdrehen, um den Tresor meiner Erinnerung, in dem alles verschlossen ist, endlich zu öffnen, um all das hervorzuholen, was Korbjuhns Forderung erfüllt: ich soll ihm die Freuden der Pflicht bestätigen, ihre Wirkungen verfolgen, die in mir selbst enden, und zwar zur Strafe, ungestört und so lange, bis der Nachweis gelungen ist. Ich bin bereit. Ich muss eine Auswahl treffen, einen Ort suchen, vielleicht die ganze schleswig-holsteinische Ebene, das Land, das für mich nur von einem einzigen Weg durchschnitten ist, und der führt von Rugbüll nach Bleekenwarf. Auch wenn ich die Vergangenheit aus dem Schlaf wecken muss: ich muss anfangen.

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