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Der_Campus

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stent, 1/5 Schreibkraft und ein 1-Fenster-Bü ro zu. Alles erinnerte Bernie daran, daû er nur C2-Professor und kein Ordinarius war: die Holzstüh le in seinem Bü ro, Ordinarien hatten zwei Sessel und ein Sofa Ð das Fenster, Ordinarien hatten drei Ð der schmale Schrank, Ordinarien hatten zwei, und eine in einen Wandschrank eingelassene Waschecke mit Spiegel und Garderobe Ð und wo die Ordinarien eine groûe Bü cherwand hatten, war bei ihm die Seitentü r zum Computerraum, deren Klinke die Traktoristin vergeblich niedergedrü ckt hatte. Zusä tzlich wurde Bernies Selbstgefüh l noch durch die Tatsache erniedrigt, daû sein Bü ro auf der anderen Seite von der Herrentoilette begrenzt wurde, deren Rauschen in regelmä ûigen Abstä nden durch die dünn e Trennwand drang. Andererseits war just diese Herrentoilette eine der bekanntesten Institutionen der Universitä t geworden, bekannter jedenfalls als das obskure Seminar fü r romanische Philologie, dem Bernie angehö rte, denn sie war zum Schwulentreff der Stadt avanciert, dessen Adresse man auf den Wä nden der ö ffentlichen Toiletten von London und Paris wiederfand. Hier war ein stä ndiges Kommen und Gehen. Eine kontinuierliche Zirkulation, die sich von der gedanklichen Stagnation im romanischen Seminar durch ihre schiere Lebhaftigkeit abhob. Bernie füh lte den alten Haû gegen sein Seminar in sich aufsteigen. Sollten doch die verdammten Terroristen sein Institut mit seinem schä bigen Bü ro in die Luft sprengen! Das erinnerte ihn an die Frage der Traktoristin, die ihn immer noch mit ihren erwartungsvollen Schweinsaugen anstarrte.

»Ach, die Psychologen haben da eine Camera Obscura gebaut bekommen, in der sie Experimente mit extrasensorischer Depravation machen wollten.«

Die Traktoristin glotzte Unverstä ndnis.

»Na, Sie hö ren nichts, Sie sehen nichts, tagelang, und da fangen Sie an zu halluzinieren. Und Ihre innere Uhr fä ngt an, anders zu gehen. Darü ber wollten die Psychologen was herausfinden. Aber Ihre Freunde aus der Hafenstraûe oder die Brigade 2. Juni, oder wie die Terroristen alle heiûen, die haben gesagt, das ist Folterfor-

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schung im Dienst des Groûkapitals. Die Psychologen machen Forschung fü r die Isolationsfolter. Also haben sie die Camera Obscura in die Luft gesprengt. Was ist die Folge? Wir mü ssen unsere Rä ume an die Psychologen abgeben, so daû Ihre Freunde wieder wegen Raummangels streiken kö nnen.«

Bernie wuûte, daû er die Traktoristin mit solchen Reden auf die Palme brachte. Sie hatten eine Dauerdebatte ü ber die Baader- Meinhoff-Bande. Die Traktoristin behauptete, ihre Mitglieder hä tten nicht Selbstmord begangen, sondern wä ren vom BND auf kaltem Wege hingerichtet worden. Sie war eine echte Paranoikerin. Bernie studierte an ihr mit Schaudern die Symptome des politischen Irrsinns. Doch immer, wenn er in ihr sibirisches Kartoffelgesicht blickte, kam ihm der Gedanke, ihr Stalinismus sei nur eine Theorie zur Rechtfertigung ihres Aussehens. Aber nun wurde sein Ekel verstä rkt durch die unbewuûte Erinnerung an das Mä dchen mit dem grün en und dem blauen Auge. Schau mich an, sagten die Augen, und dann schau deine Komsomolzin an. Und dann weiût du, wer du bist.

Die Traktoristin hatte es inzwischen aufgegeben, mit Gewalt in den Computerraum einzudringen. Bö se funkelte sie ihn ü ber ihrem Bü cherstapel an und verzog die schmalen Lippen zu einer sibirischen Grimasse.

»Jetzt fangen Sie nicht wieder an!« jaulte sie. Ihre Stimme hatte den metallischen Klang quietschender Eisenrä der. »Ich laû mich nicht von Ihnen als Watschenmann miûbrauchen.«

Rü ckwä rts wie eine Hofschranze schlurfte sie mit ihrem Bü - cherstapel zur Eingangstü r und verschwand im halbdunklen Flur.

Bernie war von der Zerstö rung, die der Terroranschlag im Psychologischen Institut angerichtet hatte, beeindruckt. Die dicken Wä nde zum Flur hin waren vö llig herausgerissen, die Decke war eingestü rzt, und im Fuûboden klaffte ein gewaltiges Loch. Gott sei

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Dank hatten die Terroristen sich das Wochenende ausgesucht, so daû niemand verletzt wurde. »Gewalt gegen Sachen, keine Gewalt gegen Menschen«. Der alte Slogan von früh er fiel ihm ein. Hoffentlich finden sie die Tä ter nicht so schnell, ü berlegte er, als er durch den dunklen Verbindungstrakt ins Hauptgebä ude zurü ckging. Denn wenn es Universitä tsangehö rige waren, muûte er sich als Vorsitzender des Disziplinarausschusses damit beschä ftigen, und dann wü rde er selbst vielleicht zum Adressaten von Demonstrationen. Das konnte er politisch gar nicht gebrauchen. Er muûte das unbedingt verhindern. Er wü rde sich mal unter dem

niederen

Fuûvolk der

Universitä t umhö ren,

den

Hausmeistern

und den

Putzkolonnen,

den Nachtwäc htern

und

Fensterputzern.

Zu denen unterhielt er gute Beziehungen, denn Bernie war Politiker und wuûte, was Betriebsrä te und Personalrä te in einer SPD-re- gierten Universitä t bedeuteten.

Als er sich durch die Drehtü r des Hauptgebä udes nach drauûen gekä mpft hatte, versuchte der Wind sofort, ihm den Trenchcoat auszuziehen, so daû er ihn mit beiden Armen festhalten muûte. Das machte ihn wehrlos gegen die Zeitung, die mit der Agressivitä t eines stü rzenden Falken aus dem Nirgendwo sein Gesicht traf und flatternd umhü llte. Bernie drehte sich um, um sich zu befreien, und kä mpfte sich, rü ckwä rts gegen die Bö en gestemmt, langsam in Richtung Audimax vor. Er war diese Kä mpfe mit den Geistern der Luft gewohnt. Irgendwo zwischen der Universitä t, der ehemaligen Polizeiwache und der alten Thoraschule hatten sie sich eingenistet, eingeladen durch die trostlose Billigarchitektur, mit deren Kunstlosigkeit der Hamburger Senat viel Geld gespart und zugleich den Weg zurü ck zur Natur gefunden hatte. Der gesamte Campus sah aus, als ob ein Zyklop im Zorn einen Haufen Klö tze und Quader auf ihm verstreut hä tte, die nun ohne erkennbare Ordnung zueinander in urweltlicher Zufä lligkeit umherlagen. Zwischen den Zyklopenmauern in Plattenbauweise nisteten zahlreiche Bö en und Winde, um heulend von der Verlassenheit der

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Toten zu kün den, und einer der schä rfsten bewachte den Eingang des Hauptgebä udes. Selbst wenn es ü berall sonst fast windstill war, stü rzte sich dieser Lokalwind auf Hü te, Mü tzen und Kleider der Studenten und verwandelte ihre Gestalten in verrenkte Vogelscheuchen, die verzweifelt ihre Umhä nge um sich versammelten und ihre Kontaktlinsen schü tzten.

Bernie liebte diesen Wind, und er liebte es, ü ber den Campus zu schlendern. Er genoû seine maûlose Hä ûlichkeit mit einem perversen Schauer. In den Hohlrä umen seines Gemü ts hatte sich die Ü berzeugung verbreitet, daû er damit fertig wü rde, wenn andere, zartere Gemü ter darunter litten. Er lieû jetzt die schwangere Auster des Audimax links liegen, schlenderte an einer Betonmauer vorbei, auf der die Ikone eines traurigen, schlaffen Phallus mit dem Zeichen der Friedensbewegung und der Aufschrift versehen war: »Frauen wehrt Euch«, und stieg dann in das Souterrain des Mensagebä udes aus fahlem Gelbklinker hinab, das ihn immer an alte Bahnhö fe erinnerte. An dem Krü ppel, der ihn auf den Stufen anbettelte, ging er vorbei und ignorierte die verrü ckte Alte, die hinter dem leeren Garderobentisch erbost auf ihn einschrie. Statt dessen betrachtete er im Vorü bergehen die unü bersehbare Zahl von Zetteln an der zehn Meter langen Plakatwand mit den Aufschriften »Suche Wohnung«, »Suche Zimmer«, »Suche Mitfahrgelegenheit« und »Suche Studienplatzwechsler«, an deren unteren Rä ndern sich die ausgefransten Enden mit den Telefonnummern der Suchenden leise in der Zugluft bewegten. Bernie ging an der Tü r zum Hauptsaal der Mensa vorbei und war erstaunt, wie leer

und sauber er um 11

Uhr vormittags noch war. Wenige Stunden

spä ter

wü rde hier ein

synä sthetisches Pandä monium aus Teller-

geklirr,

Essensgerü chen, Stimmengewirr,

Zigarettenrauch,

Ge-

drä nge,

Stüh lerü cken,

Gequetsche, Gewusel

und Geschiebe

herr-

schen. Mit genuûvollem Ekel erinnerte sich Bernie, wie er am letzten Mittwoch den Leitenden Verwaltungsbeamten Seidel hierher mitgeschleppt hatte. Der hatte doch tatsäc hlich noch nie in der

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Mensa gegessen; er war bis jetzt immer ins Clubhaus gegangen. Sollte er doch mal selber sehen, wie seine Studenten versorgt wur-

den. In

einem

vö llig

ungeordneten Gewüh le vor der Ausgaben-

theke,

das rü ckwä rts

von

Studenten

mit Plastikschalen voll

schwappender

Suppen

in den

Hä nden

durchpflüg t wurde, hatten

sie mit wachsender Unruhe zugesehen, wie ungerüh rte Myrmidonen ihre Schöp finstrumente in dampfende Bottiche tauchten und Kugeln von Brei, Kellen voll Soûe und die verschiedensten unklaren Substanzen von besorgniserregender Farbe mit routinierten Bewegungen auf die Plastikteller klatschten, die sie mit Schwung ü ber die Metalltheke schleuderten. Eingeschü chtert hatte sich Seidel durch die Kasse gequä lt, und dann Ð wä hrend Bernie die Ü berlegenheit des Ortskundigen ü ber den Neuling genoû Ð hatten sich beide an einem Tisch niedergelassen, der von Plastikschalen mit

Essensresten,

ü bervollen Aschenbechern, halbleeren

Saftbechern

aus Pappe und Kaffeebechern aus Styropor sowie

unzä hligen

Flugblä ttern

ü berquoll. Dort saûen sie eingequetscht

von sechs

weiteren Essern, wä hrend die steifen Kragen ihrer Mä ntel, die sie nicht ablegen konnten, ihnen seitlich bis ü ber die Ohren stiegen und ihren Köp fen eine groteske Rahmung verliehen. Plö tzlich war es Bernie so erschienen, als ob Seidel genauso aussah wie die Figur auf Munchs »Der Schrei«, und er war in ein unmotiviertes Geläc h- ter ausgebrochen. Bernie grinste, als er daran dachte, wä hrend er sich in der Cafeteria einen Kaffee holte. Bis zur Sitzung des Disziplinarausschusses war noch etwas Zeit, und so konnte er sich sogar noch eine Mohnschnecke genehmigen. Er winkte zur Ecke der Kurden hinü ber, die hier Tag um Tag ihren Befreiungskampf gegen die Tü rken planten, gab im Vorbeigehen seinem exilpersischen Freund Sanchani die Hand, dem er geholfen hatte, einen Posten in der Universitä tsbibliothek zu finden, begrü ûte einen alten Berufsexilanten, der wegen seines majestä tischen Aussehens ü berall »Sinuhe, der Ä gypter« genannt wurde, und lieû sich an einem der Plastiktische nieder, um einen Blick in die Mitteilungen seines Hochschullehrervereins zu werfen.

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Bernie war Mitglied im VdH, dem Verband demokratischer Hochschullehrer. Das war ein hocheffizienter Interessenverband der ehemaligen Assistenten und Akademischen Rä te, der in den 70er Jahren mit dem SPD-Senat zusammengearbeitet hatte, um

die

Ordinarienuniversitä t als Bollwerk der Reaktion zu knacken.

Der

Sieg war errungen, als ein neuer Prä sident gewä hlt worden

war: Hans Ulrich Schacht. Schacht war ein politisches Talent und wuûte, worauf es ankam. Er einigte sich mit dem Senat, daû die Studentenflut durch eine ebenso einfache wie kühn e Regelung aufgefangen wü rde, die den Vorteil hatte, wenig zu kosten: Man machte einfach alle wissenschaftlichen Assistenten, die man sowieso bezahlen muûte, zu Professoren. So war auch Bernie Professor geworden. Eines Tages war er aufgewacht, da hatte ihn die Zauberhand eines Verwaltungsaktes in einen Professor Ð wenn auch nur C2 Ð verwandelt. Er war selbst ein füh rendes Mitglied des Ü berleitungsausschusses gewesen. Die Leichtigkeit, mit der das alles ging, hatte ihn aus der Bahn geworfen: Die akademische Arbeit schien ihm schal und leer; was ihn faszinierte, war die

Macht. Ja, die Macht. Nur die Macht konnte

ihn ü ber

den

Schrotthaufen dieser Universitä t

erheben. Ihre

architektonische

Hä ûlichkeit, die ü berwä ltigende

Lieblosigkeit ihrer Bauten

und

Inneneinrichtungen waren die Botschaft des Senats an die Professoren: Das ist unsere Antwort auf euer akademisches Bemüh en. Deshalb genoû Bernie diese Trostlosigkeit des Campus. Sie entlastete ihn, sie teilte ihm mit: Du brauchst mit deinen Leistungen nicht mehr Glanz aufzubringen, als dieser Campus architektonisch ausdrü ckt. Man erwartet es nicht von dir. Nur die Dummen rackern sich ab, die sich erniedrigen lassen. In den Korridoren der Macht läc helt man ü ber sie. Und Bernie wollte selbst einer dieser Läc hler sein. Er wollte zu den Auguren gehö ren, die sich an ihrem Läc heln erkennen; die darü ber läc heln, daû sie ü ber das Herrschaftswissen verfüg en und die anderen nicht. Bernie schaute auf. Gegenü ber auf der anderen Seite der Cafeteria sah er das Ramassidenläc heln auf dem Gesicht von Sinuhe, dem Ä gypter, und muûte

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selber läc heln. Das steinerne Läc heln der Mäc htigen, das Geheimnis der Sphinx. Im selben Augenblick dachte er an das Mä dchen mit dem grün en und dem blauen Auge; er sah sie, wie sie ihn ansah. Die ä gyptische Katze Kleopatra. Laût Hamburg in der Alster schmelzen, wo hatte er nur diese Assoziationen her? Sie trugen ihn direkt ins Rathaus in den Sessel des Justizsenators und weiter in den Dienstmercedes, der Motor schnurrte leise, Kleopatra kuschelte sich an ihn, unterwegs zum Bois Joli, er hatte sie eingeladen zum groûen Menü mit gefü llter Bresse-Poularde, mit Gä nseleberterrine, Bries und Trü ffeln, mit gedün stetem Lachs unter gratinierten Kartoffelschuppen und Hummersalat mit Algen. Schon waren sie beim Cognac und Kaffee, und er blickte ihr in das grü ne und blaue Auge und las dort ein Angebot, das ein Gentleman nicht ablehnen konnte.

»Hallo, wenn das nicht Bernie Weskamp ist!« Bernie wachte aus seinem Tagtraum auf. Vor ihm war die Gestalt eines Mannes erschienen, mit braunem Gesicht, blendendem Gebiû und jungenhaftem Haarschnitt. Er trug einen dunklen Anzug mit Weste und einen Staubmantel ü ber dem Arm. In der Hand hielt er einen Attachekoffer mit den Initialen I. K. und einem Bundesadler. Aus dem Halbdunkel von Bernies Gedäc htnis lö ste sich ein Name. Kein Zweifel, diese elegante Gestalt war Ingo Knepper. Er hatte in Heidelberg im selben Studentenwohnheim gewohnt.

»Hallo, Ingo, welche Ü berraschung! Was machst du, welche Winde treiben dich hierher?«

Sie schü ttelten sich die Hand.

»Ich bin zu Verhandlungen hier.« Er klopfte mit der flachen Hand auf seinen Attachekoffer. »Ich verhandle mit eurem Prä sidenten und mit eurem Wissenschaftssenator ü ber die neue HERA

Bernie hatte davon gehö rt; sie planten die Erweiterung des Elek- tronen-Synchroton, wo sie Elementarteilchen aufeinanderprallen lieûen, um noch kleinere Elementarteilchen zu erhalten.

»Ich wuûte ja gar nicht, daû du in Hamburg gelandet bist.«

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Es hö rte sich an, als hä tte er gesagt: Ich wuûte ja gar nicht, daû du in einem Misthaufen gelandet bist.

»Und du, wo bist du gelandet?«

Bernie gab sich Müh e, leichthin zu sprechen.

»Im Forschungsministerium. Interessante Arbeit, das. Ich hab jetzt viel in Brü ssel zu tun.« Er fletschte läc helnd seine Zä hne. Bernie erstickte fast. »Gratuliere, du, Mensch, das freut mich aber.«

Er konnte es nicht mehr aushalten. Er muûte hier raus.

»Ich muû leider in eine Kommissionssitzung. Du kennst das ja.« »Welche Kommission?«

»Disziplinarausschuû.«

»Disziplinarausschuû?« wunderte Ingo sich in einem Ton, als ob er sagen wollte: »Spielt ihr da mit euren Mistkugeln?«

»Na ja, man kann sich da schlecht entziehen. In welchem Hotel wohnst du? Im Atlantic, sicher. Gut, wenn ich Zeit habe, rufe ich dich an.«

Und Bernie läc helte, wedelte mit dem Arm und lieû Ingo Knepper einfach stehen.

Bernie stieg keuchend die letzte Treppe zum Sitzungssaal des Fachbereichs hinauf. In Hamburg war die groûe Hochschulrevolte mit einer Orgie des Umtaufens gekrö nt worden: Germanisten hieûen Literaturwissenschaftler, Literaturwissenschaftler hieûen Sprachwissenschaftler, der Rektor hieû Prä sident, der Dekan hieû Sprecher, und die Fakultä t hieû Fachbereich. Oben auf dem Treppenabsatz konnte er aus einem kleinen Fenster noch einmal nach drauûen sehen: In der Ferne glitzerte das doppelte Schienenband der S- und Fernbahn, das sich im eleganten Bogen vom Dammtorbahnhof nach Altona schwang. Direkt unter ihm spiegelte sich der Himmel in den Pfü tzen auf dem Dach der Baracken, die seit 15 Jahren als Ü bergangslö sung fü r die Unterbringung der Universitä tsverwaltung dort aufgestellt waren. Als sie errichtet

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wurden, war Bernie Student gewesen. Mit welcher Begeisterung hatten sie alle damals die Universitä t als Hort der Bildungsprivilegien gestü rmt! Welch ein trauriger Witz: Als die Massen die Privilegien erobert hatten, waren es keine mehr. Statt dessen muûten Baracken errichtet werden.

Bernie betrat das Sitzungszimmer des Fachbereichs, knipste das Licht an und warf seine Tasche auf das Kopfende des Tisches. Er war der erste. Selbst sein Freund Bauer war nicht da. Er lieû sich auf seinen Sessel fallen und rä umte die Tasche aus: die Protokolle der letzten Sitzung, zwei Pakete Traubenzucker, die Grammatologie von Derrida, die er immer noch nicht gelesen hatte, eine Staatsarbeit mit dem Titel Die phallische Frau im franzö sischen Film, ein Programm des Szene-Kinos, ein Exemplar der Universitä tszeitung mit dem grinsenden Konterfei von Prä sident Schacht auf dem Titelbild und die Akten mit den Fä llen Brockhaus und Fiedler. Wenigstens den Fall Brockhaus wollte er heute vom Tisch haben. Er schlug die Akte auf und las den Denunziationsbrief von Dr. Rö ssner.

»Sehr geehrter Herr Dekan« Ð der blöd e Rö ssner wuûte immer noch nicht, daû das heute Fachbereichssprecher heiût Ð, »ich sehe es als meine Pflicht an, Ihnen zur Kenntnis zu bringen«, blablabla, »daû die von Herrn Brockhaus bei Ihnen eingereichte Dissertation ü ber -Neoplatonische Kosmosophie bei John Donne¬ bereits einmal erfolglos der Philosophischen Fakultä t der Universitä t Kiel eingereicht wurde«, blablabia, »Herr Brockhaus hat damit gegen §15 Absatz 2, 3 und 5 der Promotionsordnung verstoûen«, blablabia, »und damit den Tatbestand der vorsä tzlichen Tä uschung erfü llt.« Ð In kleinen Spurts krabbelte eine Fliege ü ber den Brief. Bernie faltete langsam das Mitteilungsblatt des VdH zu einer schmalen, schlagkrä ftigen Waffe, holte vorsichtig aus und lieû sie mit unvermittelter Wucht auf die Fliege niedersausen. Im näc hsten Augenblick war sie ein breiter Fleck aus gelbem Gallert, der, mit den Trü mmern von zerbrochenen Flüg eln und Beinchen durch-

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setzt, sich ü ber zwei Zeilen von Rö ssners Denunziationsbrief ausbreitete. Ganz plö tzlich wurde Bernie von einem kalten Lufthauch metaphysischer Angst angeweht. Mutwillig hatte er diese Fliege zerquetscht. Dabei war auch sie eine Welt, eine Welt aus DNS, Eiweiû, Molekü lketten, Wahrnehmung und Bewegung wie er selbst, ein komplexes System im dynamischen Austausch mit der Umwelt, dessen gigantische Facettenaugen in Rü ckkopplung mit einem phantastischen Flugapparat ein neurologisches Wunder an

Steuerung

vollbrachten.

Hä tte er sie

kün stlich im

Labor konstru-

iert, hä tte

er dafü r den

Nobelpreis

erhalten. Eine

Lebensleistung

wä re das gewesen, und nun hatte er in einer Sekunde dieses Wunder zerstö rt. So wie die Kinder mit Fliegen, fiel ihm ein, spielen die Gö tter mit uns. Welche Drohung! Vielleicht sollte er diesen Brock-

haus retten. Der Vorwurf der

arglistigen Tä uschung kö nnte

ent-

krä ftet werden, denn er hatte

seinen Doktorvater, Professor

Mei-

sel, informiert. Der hatte ihm davon abgeraten, beim Promotionsantrag anzugeben, daû er es in Kiel schon mal versucht hatte. Der Kieler Vorsitzende des Promotionsausschusses war Keller gewesen, ein bekannter Scharfmacher mit dem Spitznamen »Killer«. Und aus Angst vor ihm hatte Brockhaus in Kiel seinen Antrag zurü ckgezogen. Auûerdem wuûte Bernie von Rolf Bauer, daû Rö ssners Denunziation eine Intrige war. Brockhaus hatte sich als CDU-Kandidat fü r die Bezirksversammlung aufstellen lassen und war damit just zum Gegenspieler von Rö ssners SPD-Parteifreund Briegel geworden. Da er viel populä rer war als Briegel, hatte er Freund Rö ssner gebeten, die Notbremse zu ziehen und in die Schublade mit den Reservewaffen zu greifen. Und Rö ssner war wissenschaftlicher Assistent von Killer-Keller gewesen. Ja, so ging es. Er muûte es so drehen, daû Rö ssner das Vertraulichkeitsgebot verletzt hatte. Er dü rfte seine Kenntnisse gar nicht offiziell verwenden. Bernie wü rde den Ausschuû erst einmal dazu bringen, zu untersuchen, woher Rö ssner seine Kenntnisse hatte, womit er sie begrün dete und ob er sie verwenden durfte. Andererseits Ð Bernie war selbst in der SPD und schadete so vielleicht einem Partei-

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