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Der_Campus

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Das war ja hochinteressant! Bernie hatte mal etwas ü ber Selbstmord in der franzö sischen Tragöd ie verfassen wollen.

»Die haben das christliche Selbstmordverbot noch nicht internalisiert. Wuûten Sie, daû erst Augustinus die Tabuisierung des Selbstmords ins Christentum eingefüh rt hat? Die Urchristen begingen massenweise Kollektivselbstmord, wie die Juden in Massada. Auch die Kreuzigung Christi wurde durchaus als Selbstmord verstanden. Die Renaissance hat dann die Selbstmö rder...«

Aber Dr. Erdmann interessierte sich nicht dafü r, was die Renaissance mit den Selbstmö rdern gemacht hatte. Sie stand auf und füh rte sie durch einen Gang in ein kahles Besucherzimmer. In der Mitte stand ein langer Tisch mit einer grauen Kunststoffplatte, der den Raum in zwei Hä lften teilte. An den Wä nden und zu beiden Seiten des Tisches standen ein paar Stüh le. Durch ein kleines, hohes Fenster fiel scharf gebün deltes Licht und formte auf der Tischplatte ein schrä g verzerrtes Karree. Dr. Erdmann verschwand, und Alice setzte sich auf den Stuhl direkt neben dem Eingang, wä hrend Bernie noch zö gerte, ob er sich setzen sollte. Da ging auf der anderen Seite des Tisches die gegenü berliegende Tü r auf, und Dr. Erdmann füh rte Barbara herein. Bernie betrachtete sie mit einer gewissen Befangenheit. Sie trug Jeans und einen weiten Pullover. Ihre dichten Haare waren zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Sie hatte einen sinnlichen groûen Mund, krä ftige Hä nde und ein groûfläc higes Gesicht. Sicher gut fü r eine Schauspielerin, dachte Bernie. Aber ihre Augen konnte er fast nicht sehen, weil ihre Züg e ganz verquollen waren. Hatte sie geweint? Oder war das die Wirkung der Medikamente? Als Dr. Erdmann sie vorstellte und den Zweck ihres Besuches erklä rte, setzte sie sich gehorsam an den Tisch, faltete ihre Hä nde und wartete. Bernie setzte sich vorsichtig ihr gegenü ber, nachdem die Arztin sie allein gelassen hatte. »Frau Clauditz, glauben Sie mir, uns ist diese Unterredung ebenso peinlich wie Ihnen.«

Barbara sah ihn an. O Gott, hatte er jetzt schon alles verdorben, wenn er ihren Seelenschmerz als peinlich bezeichnete?

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»Ich mö chte, daû Sie genau verstehen, worum es sich handelt.« »Ich weiû. Frau Erdmann hat es mir erklä rt.« Ihre Stimme war

voll und angenehm. Aber was konnte ihr Dr. Erdmann schon erklä ren? Er wollte ein sä uberliches Protokoll haben, an dem die Wagner kein Haar mehr auszusetzen hatte. Ob sie durchdrehte, wenn er ihr widersprach?

»Uns ist klar, daû Sie das langweilen muû.« Wieso langweilen? Das war doch jetzt wirklich das falsche Wort! »Aber ich mö chte Ihnen nochmals die Voraussetzungen klarmachen, unter denen

dieses...« Was sollte

er

sagen? Interview? Befragung? Verhö r?

»... dieses Gespräc h

mit

uns stattfindet. Die Frauenbeauftragte,

Frau Professor Wagner, hat einen fö rmlichen Antrag an den Disziplinarausschuû der Universitä t gerichtet Ð und ich bin der Vorsitzende des Ausschusses...« Wie schrecklich sich das alles anhö rte. Aber Bernie brach jetzt rü cksichtslos weiter durchs Unterholz: »... und laut Aussage von Prof. Schell haben Sie erklä rt, daû Sie das, was die von Ihnen gespielte Figur in dem Stü ck alles erdulden muû, Ð daû Sie das alles persö nlich am eigenen Leibe von selten eines Hochschullehrers dieser Universitä t auch haben erdulden mü ssen. Dabei handelt es sich um sexuelle Nö tigung, Vergewaltigung...«

»Das war doch alles gelogen.« Barbara war aufgesprungen, hatte die Hä nde auf den Tisch gestü tzt und starrte ihn bö se an.

»Bitte beruhigen Sie sich, Frau Clauditz, ich flehe Sie an.« Bernie flehte wirklich. Zö gernd setzte sie sich wieder, indem sie einen Schuh auszog und das Bein unterschlug.

»Sie sagen, das war alles gelogen.« Barbara nickte. »Kö nnen Sie begrün den, warum Sie damals gelogen haben? Immerhin war das eine ziemlich schwere Beschuldigung.«

»Aber ich habe doch niemanden beschuldigt«, schrie sie laut. Ihre Stimme eignete sich wirklich fü r die Bühn e.

»So ganz kann man das nicht sagen. Sie haben einen Hochschullehrer dieser Universitä t beschuldigt.«

»Aber ich habe keinen Namen genannt«, sagte sie jetzt so leise,

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daû Bernie Müh e hatte, sie zu verstehen. Er schaute sie unschlü ssig an. Das Ganze war ihm furchtbar unangenehm. Er wün schte sich eigentlich, daû die Frauenbeauftragte ins Leere taumelte. Er wollte gern mit dem Nachweis weggehen, daû an der Sache nichts dran war. Aber jetzt gewann er langsam den Eindruck, daû sie irgend etwas verschwieg. Sei's drum, seine Sache war es nicht, das herauszukriegen. Sollte sie doch alles verschweigen, je mehr, desto besser. Er hatte keine Lust, sich in solch einem stinkenden Fall herumzuwä lzen. Mü ll war das, der ü bliche Mü ll.

»Ich komm noch mal auf die Frage von vorhin zurü ck. Kö nnen Sie begrün den, warum Sie angeblich... ich meine, warum Sie gelogen haben?«

Barbara hatte sich wieder gefaût und sprach jetzt ruhig und klar.

»Ich dachte, wenn ich das sage, dann bekomme ich die Rolle dieser Medea.«

»Aber Sie hatten sie ja schon.«

»Ja, sicher, aber dann war da plö tzlich dieser Beifall, und ich dachte... wissen Sie, fü r einen Moment habe ich mir eingebildet, so etwas schon erlebt zu haben.«

Bernie lehnte sich angeekelt zurü ck. »Fü r einen Moment?«

»Ja. Sie kö nnen das nicht verstehen, weil Sie nicht schauspielern. Aber das war so ein irres Gefüh l, und ich hatte das gerade neu entdeckt in mir; ich war wiedergeboren worden! Richtig angetö rnt war ich Ð ich bin nä mlich eine Mondfrau Ы

Sie brach plö tzlich ab.

»Sie sind eine Mondfrau«, stellte Bernie fest, wie wenn er Alice einen Hinweis fü rs Protokoll geben wollte. Barbara schwieg jetzt, als ob sie ihr ganzes Geld ausgegeben hä tte.

»Aber...« Bernie nahm Anlauf fü r die heikelste Frage. Wie sollte man mit einer Irren ü ber ihren Irrsinn reden? Er stocherte in den Reservoirs der Umschreibung nach Euphemismen. »Also...

Tatsache ist doch, daû Sie... wie soll ich sagen... einen Nervenzu-

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sammenbruch hatten... der kann doch nur aufgrund der Traumatisierung... durch die, also die sexuelle Nö tigung... oder die Vergewaltigung verursacht worden sein.«

»Sagt das die Brigitte?«

Bernie blickte sie verstä ndnislos an. »Frau Schell«, erklä rte Barbara.

»Ja, Frau Schell. So hat sie sich sinngemä û gegenü ber der Frauenbeauftragten geä uûert.«

»Sie lüg t auch.«

»Warum sollte sie das tun?« Bernie war jetzt wirklich verblü fft. Barbara hatte sichtlich Müh e, die Frage zu beantworten. Sie

blickte in alle Richtungen des Zimmers, stand dann auf, stellte sich hinter den Stuhl, packte die Lehne, knetete sie, lieû sie wieder los, bearbeitete ihre Finger, bis es schlieûlich aus ihr herausbrach:

»Durchgedreht bin ich, weil sie mir diese Rolle wieder weggenommen hat. Das war, das war so... das war so, wie wenn sie mir mein Kind weggenommen hä tte, verstehen Sie, wie wenn sie mir mich selber weggenommen hä tte, mein Leben, meinen Kö rper, meine Sinne, mein Gefüh l Ð alles. Ich hatte plö tzlich nichts mehr, gar nichts, und dafü r hatte ich alles... alles aufgegeben. Das war so ein irrsinniger Verlust, und das war nun alles umsonst, so ein irrsinniges Verlustgefüh l, wissen Sie? Das war so eine wahnsinnige Leere, und da bin ich dann nur noch reingefallen, und jetzt ist sowieso alles egal.«

In der bleiernen Stille, die diesem Ausbruch folgte, konnte man das Kratzen von Alicens Tintenkuli auf dem Papier hö ren. Barbara hob den Kopf, blickte hinü ber zur Tü r, wo Alice ihren Block auf den Knien bearbeitete. Als sie Barbaras Blick sah, hö rte sie abrupt auf, schraubte den Tintenkuli zu und läc helte.

»Schreiben Sie etwa auf, was ich sage?« schrie sie. »Ist das etwa ein Verhö r? Sie sind von der Polizei, oder? Sie haben mich reingelegt.«

Bernie war aufgestanden. »Nein, nein, wir sind nicht von der Polizei. Das sind nur ein paar Notizen als Gedäc htnisstü tze.«

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»Ich sage kein Wort mehr. Ich will hier raus.« Und sie ging zur Tü r. Aber da kam schon Dr. Erdmann.

»Sie haben mich reingelegt. Die sind von der Polizei!«

»Glaube mir, Barbara, die sind nicht von der Polizei, und wenn du nicht willst, muût du auch nicht mit ihnen reden. Das war ganz freiwillig.« Sie wandte sich an Bernie. »So, das Gespräc h ist jetzt zu Ende. Sie finden ja wohl allein hinaus. Ich rufe Sie dann an. Auf Wiedersehen.« Und sie füh rte Barbara zurü ck in das Innere der Klinik.

Allmä hlich wurde Alice Hopfenmü ller klar, warum sie so angenehm von der Atmosphä re im Historischen Seminar ü berrascht worden war. Wie bei jedem Neuen, der noch nicht durch Bün d- nisse und Seilschaften vereinnahmt war, witterten alle Angehö rigen des Instituts die Chance, die Macht ihres Bün dnisses durch ein weiteres Mitglied zu vergröû ern; also wurde Alice von einem nach dem anderen hofiert und umworben. Man ü berschlug sich geradezu mit Aufmerksamkeiten. Nicht nur, daû Schä fer ihr die Wohnung beschafft hatte, nein, man füh rte sie durch das Territorium des Instituts Ð wie Gallien war es in die drei Teile geteilt, in Alte Geschichte, Mediaevistik und Neue Geschichte. Man erklä rte ihr geduldig die Stammessitten, zeigte ihr die akademischen Futterstellen und Trä nkplä tze in der Umgebung des Campus, erzä hlte ihr die Lokalmythen und weihte sie in die Mysterien der Stammesreligion der Hamburger Historiker ein. Es war einfach wunderbar. Alice wuûte, daû das nicht dauern konnte. Daû eines Tages ihr Bün dniswert verbraucht sein wü rde, weil sie sich dann entweder einer der Cliquen angeschlossen oder sich als bün dnisunfä hige Einzelgä ngerin erwiesen hatte. Aber solange es dauerte, war es wunderbar, und sie war entschlossen, es dauern zu lassen. Wie die groûe Elisabeth von England wollte sie ihre Jungfrä ulichkeit teuer verkaufen und am Ende womö glich behalten. Und so begriff sie,

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daû die Freundlichkeit, mit der die alteingesessenen Mitglieder des Instituts eine Neue wie sie behandelten, im direkten Verhä ltnis zu der Intensitä t stand, mit der sie sich gegenseitig haûten.

So war Alice auch nicht sonderlich ü berrascht, daû ihre Mitassistentin Sibylle Sinowatz sie mit konspirativer Miene abfing, als sie am Morgen nach ihrem Ausflug in die Psychiatrie den Fahrstuhl im 8. Stock des Hauptgebä udes verlieû, wo das Historische Seminar untergebracht war. Alice war immer etwas verwirrt, wenn sie dort oben ankam. Sie hatte sich noch nicht an die schweinische Brutalitä t der Graffiti auf dem Hamburger Campus gewö hnt. Und besonders in diesem dicht bevö lkerten Fahrstuhl zu fahren und zu wissen, daû all die respektablen Akademiker um sie herum dieselben abstoûenden Filzstiftfresken betrachteten, die mit ihren grotesk gezeichneten Genitalien und ihren Inschriften von infernalischer Hemmungslosigkeit jedem die Sprache verschlugen, war fü r sie jedesmal ein Erlebnis von abgrün diger Absurditä t.

Wie ein kleines gerupftes Huhn trippelte Sibylle eifrig vor ihr her zu ihrem Bü ro, schloû die Tü r hinter Alice, drehte sich um und verkün dete:

»Wuûtest du, daû der Schä fer dich gestern den ganzen Nachmittag gesucht hat? Er war ganz aufgeregt. Weiût du, was er von dir will?«

»Nein, keine Ahnung.« Alice setzte sich gespannt auf die Ecke von Sibylles Schreibtisch, der fast gä nzlich mit Karteikä sten bedeckt war, die mit Exzerpten und Fuûnoten zur Geschichte der deutschen Freikorps vollgestopft waren. Sibylles Spezialgebiet war der deutsche Militarismus, aber ihr eigentliches Engagement galt der Verteidigung der Rechte der Assistenten.

»Also, du kannst das nicht wissen, weil das bei euch in Bayern noch anders ist.« Sie sagte »Bayern«, als ob sie von Obervolta spräc he. »Hier in Hamburg gibt's das nicht mehr, daû die Assi - stenten einem Professor zugeordnet sind. Das ist schon lä ngst ab-

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geschafft. Wir brauchen niemand mehr zuzuarbeiten. Der Schä fer hat dich also nicht herzubestellen. Der versucht es auszunutzen, daû du neu bist, und spielt sich als dein Chef auf. Auûerdem wird er immer verrü ckter.«

»Woran arbeitet er eigentlich?« wollte Alice wissen.

»Ha, woran arbeitet er?« Sibylle hob ihre Arme wie zwei Flüg el und trippelte einen kleinen Kreis. »Woran sie alle arbeiten, diese Hammel, an der Frage: -Wem gehö rt die deutsche Geschichte?¬ « Sie deutete durch die Wand auf einen imaginä ren Punkt im Gebä ude. »Der Partei der rechtglä ubigen Aufklä rer auf der Innenseite des Ganges oder Ы sie schwenkte den ausgestreckten Arm um 90 Grad Ð »den neokonservativen Sinnstiftern in patriotischer Absicht auf der rechten Seite hinter der Damentoilette?«

»Und wem gehö rt sie?« wollte Alice wissen.

»Das ist noch unentschieden. Die Aufklä rer klagen die Sinnstifter an, sie hä tten im Nato-Auftrag den Holocaust enttabuisiert und damit die deutschnationale Bü chse der Pandora geö ffnet. Und die Sinnstifter nennen die Aufklä rer Motivschnü ffler, manichä i- sche Moralisten und Mandarine der Mythen. Schö n, was? Da haben die Aufklä rer nur -Regierungsrevisionisten¬ entgegensetzen kö nnen.«

»Das klingt ja wie Wagner.« Alice muûte lachen.

»Die Konservativen sind eben immer etwas poetischer. Auf jeden Fall hat unser Weltbü rgerkrieg neuerdings eine neue Eskalationsstufe erklommen, weil der Paulsen den Schä fer einen akademischen Legastheniker genannt hat.«

»Ich glaube, ich gehe jetzt mal hinü ber zu ihm.« Bevor sie ging, knöp fte Sibylle ihr noch den obersten Knopf der Bluse zu.

»Zeig nicht zu viel Dekollete!« sagte sie. »Sonst will er dich stä n- dig sehen.«

Auf dem Weg zu Schä fers Bü ro kehrte Alice noch einmal auf der Damentoilette ein, um ihr Make-up zu ü berprü fen. Sie stand genau auf der Grenze zwischen Sinnstiftern und Aufklä rern, schoû es ihr durch den Kopf, als sie sich im Spiegel betrachtete. Sie wuûte

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nicht genau, warum sie Schä fer mochte, obwohl er sich etwas anmaûend benahm. Wahrscheinlich war es, weil er so klein war und dabei so wirkte wie ein tapferer Junge, der sich mit den Gröû eren herumprüg elte. In einem Anfall genetischer Launenhaftigkeit hatte ihm nä mlich das Schicksal nur ganz kurze Beine gegö nnt und obendrein verhindert, daû er einen Hals entwickelte. So steckte Schä fers Kahlkopf in seinem Brustkorb wie in einem Eierbecher. Und wenn er einen seiner weiten Pullover anzog, verwandelte er sich in eine wandelnde Wand, ü ber die er selber hinü berzugucken versuchte. Vielleicht war es dieses bizarre Ä uûere, das Schä fer zur Archivratte hatte werden lassen. Seine Spezialitä t war es, da noch weitere Quellen zu finden, wo andere schon aufgegeben hatten. In den Semesterferien verschwand er regelmä ûig in den Katakomben der gröû eren europä ischen Bibliotheken und Sammlungen. Alice hatte schon viele Insiderwitze gehö rt, die alle um die Vorstellung kreisten, Schä fer wü rde unbemerkt in den Archiven auch wohnen, weil die Bibliothekarin ihn nicht mehr von den Bü cherwä nden unterscheiden kö nnte, wenn er den Kopf einzog. Sie sah sich im Spiegel läc heln, als sie daran dachte.

Schä fer saû hinter seinem Schreibtisch, als sie sein Bü ro betrat.

»Da sind Sie ja endlich«, krä hte er. »Kommen Sie, schauen Sie sich dies mal an.« Er streckte ihr ein paar Ausleihscheine entgegen, die die Studenten ausfü llen muûten, wenn sie ü bers Wochenende

Bü cher aus der

Seminarbibliothek entliehen.

Examenssemester

oder Doktoranden

durften sogar wä hrend der

Woche ausleihen,

weil man festgestellt hatte, daû dann viel weniger Bü cher gestohlen wurden. Und wenn gröû erer Andrang herrschte, half die Bibliotheksaufsicht auch schon mal beim Ausfü llen der Leihzettel, weil es dann schneller ging. Schä fer sah Alice gespannt an, als sie die Leihscheine wie ein Blatt Pokerkarten spreizte.

»Das ist doch Ihre Schrift, habe ich recht?«

»Ja. Ich habe gestern die Bibliotheksaufsicht vertreten. Die sind ja stä ndig krank.«

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Schä fer ging nicht auf die Implikation ein, daû Alice sich im Dienste des Seminars aufopferte, indem sie Sklavenarbeit unter ih-

rer Wü rde

machte. »Fä llt

Ihnen

an

diesen Titeln etwas auf?«

Alice ging

sie

einzeln durch. Band

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der Mitteilungen fü r

Ö sterreichische

Geschichte,

Band

110

der

Blä tter fü r Landesge-

schichte, Band 48 der deutschen Geschichtsquellen, Fritz Fischer,

Griff nach der Weltmacht, Karl Dietrich Erdmann, War Guilt Reconsidered...

Nein, ihr fiel nichts auf. Was sollte daran auffä llig sein? Ü ber den Rand seines Brustkorbs sah Schä fer sie lange und prü fend an. Dabei stü lpte er seine wulstigen Lippen in einer unbewuûten Grimasse rhythmisch nach auûen und zerrte sie dann wieder in die Breite wie zwei feuchte Wienerle. Was hatte er nur? Hatte sie vielleicht einen Fehler gemacht?

»Wissen Sie, was Band 48 der deutschen Geschichtsquellen enthä lt?« Alice haûte diese Art Fragerei. Sie erinnerte sie an ihre Prü - fungen, und Historiker sind unangenehme Prü fer, weil sie stä ndig nach irgendwelchen Quellen fragen. Und leider wuûte Alice nicht, was Band 48 der deutschen Geschichtsquellen enthielt. Schä fer verschob den Kopf im Eierbecher seines Oberkö rpers und flü - sterte: »Die Riezler-Tagebü cher.«

Na und, was sollte daran so geheimnisvoll sein? Jeder Zeithistoriker wuûte, was mit den Riezler-Tagebü chern los war. Sie hatten ja im Kielwasser der Fischer-Kontroverse eine groûe Rolle gespielt. Bernd Sö semann hatte herausgefunden, daû Karl Dietrich Erdmann, der Kieler Herausgeber der Tagebü cher, einen schweren Fehler begangen hatte, weil er nicht gemerkt hatte, daû das Tagebuch von 1914 nicht echt war. Natü rlich war das eine gewaltige Blamage gewesen, aber seitdem hatte es neue Blamagen gegeben.

»Da leiht jemand die ganze Literatur zu Riezier aus.« Schä fer klopfte anklagend mit dem Knö chel auf die Ausleihscheine, die Alice wieder auf den Schreibtisch gelegt hatte. »Also schreibt er an irgendeiner Arbeit. Aber bei wem, mö chte ich wissen, bei wem?« Mit einem Arm, der viel zu lang fü r seinen kurzen Kö rper war,

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stieû er sich vom Schreibtisch ab und rollte auf seinem Bü rostuhl nach hinten. Also das war es, was ihn beunruhigte. Er wuûte nicht, welcher Kollege sich auf seinen Weidegrün den tummelte. Da machte er sich wahrscheinlich ganz umsonst Sorgen. Alice erinnerte sich an den Studenten, der die Riezler-Sachen ausgeliehen hatte. Ein Witzbold, der zum Gaudi der Umstehenden eine kleine Kabarettnummer mit einer Imitation von Alicens Bayrisch zum besten gab. Sie nahm einen der Leihscheine auf und betrachtete den Namen des Entleihers.

»Martin Sommer«, las sie. »Kennen Sie den?«

»Nein, eben nicht«, klagte Schä fer. »Ich habe schon in der Studentenkartei nachgesehen. Er studiert Geschichte im Nebenfach.« Er hä tte auch sagen kö nnen: -Sie wollen doch wohl nicht annehmen, daû solche Schmalspurhistoriker bei mir studieren?¬ »Deshalb glaube ich ja, daû jemand von meinen Kollegen hinter dem Riezler-Thema her ist.«

»Das glaube ich nicht«, sagte Alice. Als Schä fer sie ü berrascht ansah, fuhr sie fort: »Ich hab mir natü rlich seinen Studentenausweis zeigen lassen, und da hat er aus Versehen seinen Presseausweis gezeigt. Der recherchiert fü r irgendeinen Artikel.«

Ein elektrischer Schlag hä tte Schä fer nicht stä rker galvanisieren kö nnen. Er zuckte, stieû sich ruckartig vom Schreibtisch ab, geriet mit den Rollen seines Bü rostuhls auf die Teppichkante, und wä h- rend der fün fzehige Krallenfuû nach vorne ausglitt, krachte der Sitz in einem grotesken Durcheinander von Lehne, Armen und Beinen mit Schä fers Oberkö rper zu Boden.

»Um Himmels willen.« Alice war aufgesprungen und klaubte Schä fer aus den Trü mmern seines Bü rostuhls. »Ham'S sich ver - letzt?« Es war ihr etwas schaurig, diesen kleinen Kerl mit seinem verstauchten Oberkö rper zu berüh ren, aber er füh lte sich ganz hart und solide an. »Ham'S sich weh getan?« Sie hatte den Impuls, ihm ü ber den Eierkopf zu streicheln und seine fleischfarbene Ton-

sur zu glä tten, deren Haare sie jetzt erst

bemerkte, als sie

vom

Kopf abstanden. Schä fer schaute wirr und

benommen drein

wie

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