Добавил:
Upload Опубликованный материал нарушает ваши авторские права? Сообщите нам.
Вуз: Предмет: Файл:

Der_Campus

.pdf
Скачиваний:
32
Добавлен:
24.03.2015
Размер:
2.49 Mб
Скачать

Professor Schell vom Studiengang Schauspiel gegenü ber dem JOURNAL. Auch sie hielt Claras Begabung fü r auûerordentlich. Daû sie vorher noch ein anderes Fach studiert hatte, habe ihr Talent reifen lassen, sagte sie.«

Matte lieû das Journal sinken und sah zu, wie Pollux die Backen aufblies und dann ganz langsam die Luft ablieû.

»Wie hat er nur die Adresse der Mutter herausgekriegt, mö chte ich wissen?«

»Das ist jetzt vö llig gleichgü ltig, Wie er das rausgekriegt hat«, sagte Pollux. »Lies weiter.«

In der Lobby des Hauptgebä udes saû um die gleiche Zeit Frau Professor Wagner inmitten einer Gruppe aufmerksamer Studentinnen an einem Tisch der Cafeteria. In der einen Hand hielt sie einen Plastikbecher mit Kaffee und in der anderen einen Kugelschreiber. Auf ihren Knien lag aufgeschlagen das JOURNAL, und sie war beim Vorlesen fast schon bis zum Ende des Artikels gekommen. Dabei hatte sie nicht bemerkt, daû ihre gleichmä ûig schneidende Stimme die Konversation an den umliegenden Tischen allmä hlich zum Verstummen gebracht hatte, so daû sie zuletzt ihre Worte in den Untergrund aufmerksamer Stille nagelte.

»Der Pressesprecher der Universitä t, Hans Ternes, erklä rte gegen- ü ber dem JOURNAL, mit der Befragung von Clara C. und der Entgegennahme des Berichts durch den Disziplinarausschuû werde der Fall abgeschlossen. Es gebe keinen Tä ter, die Studentin sei offensichtlich verwirrt, und im ü brigen stehe in solchen Fä llen, in denen keine Zeugen ausfindig zu machen seien, Aussage gegen Aussage. Auf weitere Anfragen des JOURNAL verwies er auf den Datenschutz und die Verschwiegenheitspflicht der Universitä tsbediensteten. Die Aussagen der Frauenbeauftragten wollte er nicht

211

kommentieren, ä uûerte aber Zweifel darü ber, ob es mit ihren Dienstpflichten zu vereinbaren sei, vor dem Abschluû schwebender Verfahren mit so eindeutigen Urteilen ü ber die Absichten der Verwaltung an die Ö ffentlichkeit zu treten. Damit werde dem inneren Frieden der Universitä t kein guter Dienst geleistet, füg te er hinzu, und der sei nun einmal unabdingbar fü r die Erfü llung der Hauptaufgabe der Universitä t, nä mlich Forschung und Lehre.«

Als sie geendet hatte, erhob sich ein solch vielstimmiges Geschrei des Protests, daû der afghanische Cafeteriawirt instinktiv seine Kasse schloû und der Hausmeister in seiner Glasloge auf der anderen Seite der Lobby seinen kurzgeschorenen Quaderkopf von der Lektü re der Sportnachrichten hob und sein Hinterteil vom Sitz lü ftete, um besser sehen zu kö nnen, was in der Cafeteria los sei.

In derselben Minute saû Hanno Hackmann auf einem hochgekanteten Plastikbierkasten in der Lebensmittelabteilung des Kaufhauses Preûler am Markt in Ahrensburg. Er hatte Frau Gö rü san nach dem feiertä glich verlä ngerten Wochenende zum Groûeinkauf gefahren und sich wie immer die Zeit ihres Einkaufs damit vertrieben, die Zeitschriftenauslagen durchzublä ttern. Als er im JOUR-

NAL auf die Ü berschrift »DIE UNIVERSITÄ T Ð EINE HÖ LLE FÜ R DIE

FRAUEN?« gestoûen war, muûte er sofort wieder an den infernalischen Hexenritt mit Babsi in seinem Bü ro denken. Er hatte den Impuls, die Zeitung zuzuschlagen. Er durfte sich nicht in Obsessionen hineinsteigern, am besten, er versuchte, seine eigenen Zwangsvorstellungen zu ignorieren. Er wollte sie aushungern, mit gezieltem Vergessen wollte er versuchen, die Bilder von ihrem Anblick auf dem Schreibtisch und den lachenden Bauarbeitern zu lö - schen, bis diese Orgie in seiner Vorstellung vö llig unwirklich geworden war. Nur so konnte er seine Unbefangenheit wiedergewinnen. Aber dann hatte ihn ein zweiter Blick auf die Ü berschrift in den Abgrund gerissen. Als er zu Ende gelesen hatte, muûte er sich setzen, weil der Fuûboden unter ihm nachgab. Er fiel und fiel

212

und fiel. Der Abgrund war endlos. Und als er nach einer Ewigkeit unten aufschlug, hatte sich alles verä ndert: der Druck hinter den Augen, das Gewicht seines Kö rpers, die Temperatur seiner Haut, der ganze Aggregatzustand seines Daseins war mit einem Schlag ein anderer. Die Welt war entfä rbt; er selbst verdorrt. Es schien ihm, als ob er raschele. Und dann begann das Zittern. Plö tzlich machten sich seine Knie selbstä ndig und fuhren unbeherrschbar hin und her. Hanno sah es mit Beschä mung und mit Verwunderung. Er konnte es nicht abstellen. Es geschah. Es war geschehen. Das, was er ein Leben lang gefü rchtet hatte, war geschehen. Unter seinem Erfolg hatte sich der Abgrund aufgetan und hatte ihn verschlungen. Hanno hatte immer gewuût, daû dieser Abgrund da war. Aber er hatte den Blick davon abgewendet. Und zuletzt hatte er gar nicht mehr so recht an ihn geglaubt. Angesichts des wohlgeordneten Lebens hatte seine monströ se Schrecklichkeit ihn mehr und mehr wie ein Hirngespinst wirken lassen. Und jetzt war er in ihn hineingestü rzt. Daû es so unwirklich wirkte, machte es um so schrecklicher. Im Inneren seines Schä dels breitete sich ein fahler Hohlraum aus, und in ihm vollfüh rten die wirbelnden Gedanken einen Geistertanz um eine obsessive Vorstellung: Man hatte ihn erwischt! Er war durchschaut! Man hatte ihm die Maske vom Gesicht gerissen und seine Veräc htlichkeit entdeckt! Kein Zweifel, der Artikel handelte von Babsi. Die Geschichte mit dem Theaterstü ck, ihre Herkunft aus Nienburg, der Anfangsbuchstabe C. ihres Nachnamens, alles stimmte. Hanno erinnerte sich plö tzlich sogar an den Namen der Theaterprofessorin, den sie erwä hnt hatte: Brigitte Schell. Auch sie wurde in dem Artikel erwä hnt. Gott sei Dank hatte die Redaktion den Vornamen geä ndert. Hanno kontrollierte noch einmal, daû er vorher richtig gelesen hatte: Ja, da stand es, Clara C. Und in einer Fuûnote: »Der richtige Name des Opfers ist der Redaktion bekannt.« Aber warum war sie zusam-

mengebrochen? Ein Kä lteschauer

rieselte ihm

das Rü ckgrat

hinab. Doch wohl nur, weil er ihr

Verhä ltnis so

abrupt beendet

hatte. Ob er noch mal mit ihr sprechen sollte? Lieber nicht, dann

213

wü rde sie bestimmt wieder einen Anfall kriegen. Bis jetzt hatte sie ja offenbar geschwiegen. Hannos wirbelnde Gedanken ordneten sich etwas. Er las noch einmal das Ende des Artikels. Es gab keinen Tä ter und keinen Zeugen. Da stand seine Aussage gegen ihre; und wü rde man einem angesehenen Hochschullehrer nicht eher glauben als einer durchgedrehten Studentin, die wegen eines Nervenzusammenbruchs in der Psychiatrie saû? Noch einmal ü berflog Hanno den Artikel von Anfang an. Und wieder liefen ihm Schauer den Rü cken hinunter, als er die blutrün stigen Aussagen der Frauenbeauftragten las. Er lieû das JOURNAL sinken. Hä tte er doch den verdammten Artikel nicht gelesen! Dann hä tte er nichts gewuût, nichts geahnt, gut gegessen und gut gearbeitet. Nichts hä tte ihn gestö rt, wenn er von ihrem Zusammenbruch nichts erfahren hä tte. Sie hä tte fü r ihn nicht mehr existiert. Und langsam wä re es so gewesen, als ob es sie nie gegeben hä tte. Er wä re seinen Pflichten nachgegangen und hä tte gut geschlafen. Doch nun wü rde keine Schlaftablette dieser Welt ihm den festen Schlaf wiedergeben, dessen er sich immer so gerüh mt hatte. Und wieder las er die Ü berschrift: »EINE HÖ LLE FÜ R DIE FRAUEN?« Hanno lachte trokken auf. Was hatte Babsi da fü r Lüg en ü ber sexuelle Nö tigung erzä hlt? Jetzt fing die Hö lle fü r ihn an!

Um die gleiche morgendliche Stunde war Martin Sommer schon seit zwei Stunden auf. Hastig hatte er sich angezogen, war zum Kiosk an der Ecke getrabt, hatte das JOURNAL gekauft und noch direkt am Kiosk nach seinem Artikel durchgeblä ttert. Da stand er, auf Seite 3, in wunderbaren Versalien prangte die Ü berschrift:

»DIE UNIVERSITÄ T Ð EINE HÖ LLE FÜ R DIE FRAUEN?« Von Martin

Sommer. Martin Chrysostomos! Er war ein Journalist! Der Tag begann mit dem JOURNAL. Mit jedem Sonnenaufgang erschien das Journal, fü r das er schrieb. Introibo ad altare dei. Die Nacht ging, und Martin Sommer kam! Er und seine Zunftgenossen wa-

214

ren das Licht, das sich jeden Morgen in die Stadt ergoû Ð ihre Strahlen leuchteten die Schatten der Gesellschaft aus und erhellten, was verborgen war. Und obwohl er den Artikel gut kannte Ð schlieûlich hatte er ihn selbst geschrieben Ð, hatte er die ganze Taxifahrt zur Redaktion damit verbracht, ihn immer wieder zu lesen. Und so saû Martin erwartungsvoll im Allerheiligsten in einem der Mahagonisessel und betrachtete seinen Chefredakteur.

»Junge, Junge, Junge, Junge! Das ist ein Volltreffer!« Bü lhoff hielt in der linken Hand das neue Heft des JOURNAL und klopfte mit der Rechten, zwischen deren Mittelund Ringfinger eine Zigarre qualmte, auf den aufgeschlagenen Artikel, wobei er den knö cheltiefen Teppich mit Asche bestreute, wä hrend er hinter seinem Schreibtisch auf und ab tigerte. »Der Telefondienst kann sich vor Anrufen kaum retten, und das schon am früh en Morgen!« Er blieb stehen und sah Martin an.

»Mit dem Riezler-Tagebuch hast du wohl recht. Junge. Da hä t- ten wir schö n in die Scheiûe geraten kö nnen.« Er schwenkte seine Zigarrenhand so, als ob er sich einen Finger geklemmt hä tte und nun den Schmerz abschü tteln mü ûte. »Soll ich dir sagen, wo ich den Tip herhabe? Von einem Kollegen der Konkurrenz. Was sagst du nun, Martin?«

Er erinnerte sich also an seinen Vornamen.

»Sicher.« Martin schlug die Beine ü bereinander. »Der wollte Sie ins Messer laufen lassen. Wahrscheinlich gibt es das Tagebuch irgendwo wirklich, oder es wird noch gemacht. Aber dann sind es Fä lschungen. Diese Fä lscherwerkstä tten streuen erst die Gerü chte, und wenn sie einen Interessenten gefunden haben, dann stellen sie die Ware her. Und natü rlich versuchen sie's zuerst bei den Medien, weil die am besten zahlen. Ich glaube, da sollten wir sehr vorsichtig sein!«

Wir! Der Chefredakteur Bü lhoff und ich! Sie waren eben ein Team. Freigebig lieû Martin ihn an den Erkenntnissen teilhaben, die er bei Schä fer aufgeschnappt hatte. Bü lhoff sah Martin jetzt mit echter Bewunderung an.

215

»Martin«, sagte er schlieûlich, »ich glaube, du bist wirklich ein cleverer Junge!« Dann klopfte er wieder auf das JOURNAL: »Und hiermit hast du gleich einen wirklichen Knü ller gelandet. Da ist Musik drin, Martin, Musik, Musik, Musik.« Er sang jetzt fast selber in Parodie eines Früh lingslieds. »Da freut sich die Auflage, da freuen sich die Inserenten, da bleiben wir dran. Wie willst du ü brigens weitermachen, Martin?« fuhr er fort. »Hast du noch was in Reserve? Man muû bei solchen Sachen immer etwas in Reserve halten, damit man eine Fortsetzung in der Tasche hat.«

»Na klar.« Martin hatte wirklich etwas in Reserve gehalten. »Sie hat doch Soziologie studiert. Und diesen Aspekt habe ich noch ganz drauûen gehalten. Ü brigens scheint das niemand zu wissen. Die meinen alle, sie ist eine Germanistin oder so was und hä tte von da aus in den Theaterbereich gewechselt. Weil diese Schauspielstudenten meistens wirklich aus der Germanistik kommen ... und wenn sie Soziologin war, dann wird ja wohl der Prof, der sie sexuell erpreût hat, auch aus der Soziologie kommen, oder? Vielleicht wollte sie deshalb wechseln.«

»Soziologie, Soziologie, Soziologie Ы Wie ein Funker stellte Bü lhoff wieder seinen Peilsender ein, um auf der neuen Wellenlä nge weiterzumachen. »Soziologie Ð ich hab selbst mal etwas Soziologie studiert. Soll ich dir was sagen? Wir sind die richtigen Soziologen, wir, die Journalisten! Wir sagen, was in der Gesellschaft los ist.«

»Gut, dann mach ich jetzt etwas Soziologie der Soziologie.« Martin kannte schon die Vorliebe seines Chefredakteurs fü r logische Loopings.

»Metasoziologie«, schrie Bü lhoff, »Martin der Metasoziologe! Wo hast du ü brigens Schreiben gelernt?« fragte er plö tzlich.

»Na, genau da, wo Sie es gelernt haben«, antwortete Martin spontan.

Bü lhoff sah ihn verblü fft an. »In Kamen auffe Penne!«

»Junge, Junge, du bist vielleicht 'ne Marke. Aber wir verstehn

216

uns.« Er blickte zur Uhr. »Oh, schon zwanzig vor neun.« Er griff zum Telefon. »Maria, gib mir mal den Bruno. Bruno Ð wir haben da heute einen heiûen Artikel ü ber die Uni auf Seite 3. Hast du schon gesehen? Spitze, was? Ganz frische Schreibe, sage ich auch. Ich schick dir mal eben den Autor rü ber. Der fä ngt bei euch im Bildungsressort an. Na, ist ja gut, daû wir dasselbe denken. Ja, der will da am Ball bleiben. Ja, Martin Sommer. Er kommt gleich rü - ber. Und Bruno Ð laû diese Witze sein, die ihr immer sonst mit den Neuen macht, bei dem ist das unangebracht.«

Als Martin hinausging, tastete er suchend nach dem neuen Heft des JOURNAL in seiner Jackentasche und dachte daran, daû Susanne nun sicher seinen Artikel zum Früh stü ck lesen wü rde. Und nicht nur sie! Professor Hahn wü rde ihn lesen, und Lonitz, der Theoriestar, und Beate und Rassmann und all die Cracks im Seminar, die seinen Untergang mit angesehen hatten, die wü rden jetzt sehen, wo er wieder aufgetaucht war. Und wirkte nicht in diesem Licht sein Zusammenbruch wie eine spektakulä re Selbstversenkung? Wie die flamboyante Inszenierung eines dramatischen Abgangs, ALLES IST NICHTS. Hey, Leute Ð ich geh jetzt, Martin Sommer! Und ihr werdet sehen, wo ich wieder auftauche. Ob er nicht vielleicht Susanne mal anrufen sollte?

Ungefä hr drei Stunden spä ter standen Alice Hopfenmü ller und Professor Schä fer am Fenster von dessen Bü ro und schauten acht Stockwerke tief auf die Schlü terstraûe. Von dort erscholl ein unregelmä ûiges Gerä usch empor. Es war die durch ein Megaphon ver-

stä rkte

Stimme von Professor Ursula Wagner, deren Widerhall

von der

Hochhausfront des Hauptgebä udes zurü ckflutete, auf die

gegenü berliegende Wand des Rechtshauses prallte und dann vom gewalttä tigen Lokalwind in Fetzen zu ihnen emporgeschleudert

wurde. WERDEN

WIR

UNS NICHT GEFALLEN

LASSEN ... RUFEN

ALLE

STUDENTINNEN

UND

STUDENTEN AUF...

SOLIDARISIERT

EUCH

217

MIT DEN OPFERN... schrie der Wind, schrie die Frauenbeauftragte. Unter ihnen klumpten sich zirka dreiûig Studenten, die ei-

nen dichten

Wald

von Schildern

und Transparenten trugen.

STOPPT

SEXUELLE GEWALT IN DER UNI

Ð AUSLÄ NDER UNTERSTÜ T-

ZEN FRAUENKAMPF Ð GEGEN SEXUELLE BELÄ STIGUNG AM STUDI-

ENPLATZ

Ð SEX GEGEN SCHEINE IST

PROSTITUTION Ð HAUT DEN

MACHOS

AUF

DIE

SCHWÄ NZE Ð WEIBLICHE WISSENSCHAFT IST

WEICHE WISSENSCHAFT.

Von oben sahen sie aus wie ein versprengtes Hä ufchen Landsknechte, die enger zusammenrü cken und dabei ihre Spieûe senkrecht stellen. Aber sie hatten einen furchtlosen Hauptmann. Ein

langbeiniger Kerl mit

lockiger

Mä hne

hatte

sie mitten auf die

Schlü terstraûe gefüh rt,

so daû

sich zu

beiden

Seiten unü berseh-

bare Autoschlangen gebildet hatten. Der Hauptmann schickte ein paar Demonstranten an den Kolonnen entlang, um den wartenden Fahrern Zettel ins Fenster zu reichen. Alice schien es so, als ob sie auf einigen das Layout des JOURNAL wiedererkannte. Aber nicht alle Autofahrer schien das zu beruhigen. Zwischen den Parolenfragmenten klang zerfetztes Autogehupe zu ihnen herauf. Inzwischen hatten sich am Straûenrand eine Menge Zuschauer gesammelt, die um ein Vielfaches gröû er war als der Demonstrationszug.

»Das ist also die Frauenbeauftragte.« Alice fand sie chicer als erwartet.

Doch Schä fer schien mit seinen Gedanken beschä ftigt. »Emergenz«, sagte er. »Hier kö nnen Sie sie beobachten. Wie

aus der Vogelperspektive.«

Alice schaute sich nach ihm um.

»Creatio ex nihilo. Ein kleiner Anfang, und er wird zum Kristallisationspunkt eines gewaltigen Wachstums.« Er zeigte nach un-

ten auf die Straûe. »Das haben wir ausgelö st.«

 

Ein Polizeiwagen kä mpfte sich mit Blaulicht durch den

Stau.

Zwei Polizisten stiegen aus und versuchten, den Zufluû des

Ein-

218

bahnstraûenverkehrs aus der Binderstraûe umzudrehen und in einen Abfluû zu verwandeln. Deutlich konnten sie die vergeblichen Wendemanö ver beobachten, bis mehrere Autos vö llig querstanden und schlieûlich alles blockiert war.

»Ja mei, was macht der denn jetzt?« Alice sah, wie der Landsknechtshauptmann kurzerhand auf die Ladefläc he eines Pritschenwagens sprang, die Frauenbeauftragte zu sich hinaufzog und selbst zum Megaphon griff. Wie es schien, gab er praktische An-

weisungen. Sie hö rten Fetzen wie HELFT DER

POLIZEI... ZIEHEN

JETZT

ZUM

VERWALTUNGSGEBÄ UDE... Dann gab

er das

Mega-

phon

an die

Frauenbeauftragte zurü ck. Offenbar

hatten

sie sich

die Arbeit geteilt wie Lenin und Trotzki. Wä hrend sie die ideologische Marschrichtung festlegte, organisierte er die praktische

Durchfüh rung. Langsam quä lte

sich das

Hä uflein Demonstranten

durch die Autos, wä hrend die

Menge

der Studenten auf ihrem

Wege zur Mensa immer mehr anschwoll.

 

Heribert Kurtz saû in seinem Bü ro in der Schlü terstraûe, als der

Demonstrationszug

sich langsam nä herte. Plö tzlich bekam er

ei-

nen

Wutanfall

und

drü ckte auf den Knopf seines Interkom-Ge-

rä ts:

»Monika,

ich

brauche Holischek vom NDR! Ralph,

ich

bin's, Sahib. Sag mal, wo bleibt denn euer Kamerateam? Der Tews hat hier die schö nste Demo laufen, und ihr seid nicht da. Du hast doch gesagt, du schickst den Ð wie heiût der noch, mit seiner Crew Ð, den Kalthoff. Aber nix ist zu sehen. Was sagst du, sie stehen im Stau? Hö r mal, was ist denn das fü r eine Truppe von Eunuchen, die sollen einen Menschenauflauf filmen, und sie sagen, sie kommen nicht durch, weil da ein Menschenauflaufist? Da kö nnt ich ja gleich meine Groûmutter schicken. Nein, das ist nicht unfair, Ralph, ihr Ö ffentlich-Rechtlichen seid einfach zu bequem geworden. Das ist, was los ist, mein Junge! Ich sage: zu bequem, ja, zu faul! Geschieht euch ganz recht, daû die Privaten euch die Hosen ausziehen. Was ist, kannst du diese Truppe mit dem Autotelefon erreichen? Gut, dann sag ihnen, sie sollen nicht durch die

219

Schlü terstraûe kommen, sondern von der anderen Seite, ja, von der Grindelallee, und dann an der Staatsbibliothek vorbei einfach die Einbahnstraûe rauf. Ja, da kommt jetzt nichts durch, da ist alles leer. Ach was, die Bullen stecken auch fest. Und hö r mal, Ralph, ihr bringt das doch gleich heute abend in der Landesschau, ja Ð Monika faxt dir gleich den Text rü ber. Nein, Scheiûe, Ralph Ð daû ihr das nicht durcheinander kriegt! Das ist nicht wegen der Sprachkurse, die haben wir im Sack. Das ist wegen sexueller Belä - stigung am Studienplatz Ð sexuelle Belä stigung, ja! Gibt's hier dauernd. Das ist doch klar, ich werd auch stä ndig belä stigt! Nein, die Wagner kocht hier so einen Fall hoch. Prof vergewaltigt Studentin, erpreût sie sexuell, blablabla Ð du kriegst ja gleich den Text. Na sicher ist das saftiger! Da kannst du einen drauf lassen! Oh, Ralph Ð vergiû das Autotelefon, ich seh deine Crew, tut mir leid, sie sind doch nicht so lahm. Sie sind schon von selbst durch die Einbahnstraûe gekommen. Der Tews schleppt die Meute jetzt zum Vergewaltungsgebä ude Ð Scheiûe, das war aber eine Freudsche Fehlleistung. Ja, da wird sich der groûe Hä uptling aber freuen. Der guckt immer sowieso die Landesschau, ob er nicht drin ist. Das ist das mediengeilste Schwein, das ich kenne. Weiût du, daû der drei Fernsehschirme in seinem Bü ro hat? Ja, die hat er in seinem Aktenschrank. Also wenn er da die Tü r aufmacht, guckt er in die Rö hre. Oh, der Kalthoff ist aber sportlich, der ist gerade mit der Kamera auf so einen Kleinlaster gesprungen, und sein Schlepper hinterher. Na, groû ist die Menge nicht, aber eine Menge Zuschauer. Und ihr schneidet's doch so, daû es wie eine Riesendemo aussieht, da kann ich mich drauf verlassen? Okay, Ralph Ð bis zum näc hsten Mal.« Er legte auf und betrachtete zufrieden das Chaos aus Demonstranten, Autos und Zuschauern, das sich langsam in Richtung Altes Universitä tsgebä ude bewegte.

220

Соседние файлы в предмете [НЕСОРТИРОВАННОЕ]