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Der_Campus

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Um zwei Uhr mittags desselben Tages saû Bernie Weskamp schon eine Stunde mit Rebecca Roth aus der Senatskanzlei im Restaurant des Alsterclubs. Natü rlich hatte er einen Tisch bestellt. Eine halbe Stunde zu früh war er dann in dem rotem Sunbeam, den er sich von seinem Kollegen Breitner geliehen hatte, in den Parkplatz voller Mercedesse, Jaguare und BMWs eingebogen. Dann war er, als ob er es alle Tage tä te, aufrecht ü ber den roten Teppich durch die Sä ulen vor dem glä sernen Eingang geschritten, die der weiûge-

tün chten Fassade

des Alsterclubs das klassische Aussehen

eines

Sü dstaatenhauses

verliehen. In der ovalen Lobby mit der

oben

umlaufenden Galerie hatte er den Mantel an der Garderobe abgegeben und war schlieûlich an der Bar vorbei, aus der man auf das

achtzehnte Loch des Golfplatzes blickte,

ü ber ein

paar

Stufen in

das Alsterrestaurant getreten. Von hier

aus hatte

man

ü ber das

Grün des Golfplatzes mit der Pitch-und-Putt-Anlage hinweg einen freien Blick auf die Alster. Bernie hatte auf die weiûen Segel geblickt, als er plö tzlich einen Hauch von Chanel No. 5 spü rte. Er schaute auf, und da stand sie hochhackig vor ihm und läc helte ihn an. Ihre Haare, die sie bei ihrer ersten Begegnung hochgesteckt hatte, fielen ihr in brün etten Locken auf die Schultern. Sie trug ein enges schwarzes Kleid und eine weiûe Jacke mit schwarzem Revers. Um den Hals hatte sie mehrmals einen weiûen Seidenschal geschlungen, der von den goldenen Kreolenringen gestreift wurde, die an ihren Ohren baumelten. An der linken Hand blitzten zahllose Ringe. Als sie ihre Jacke auszog, entblöû te sie zwei glatte

Schultern, von

denen

die Spaghettiträ ger haltlos abzurutschen

drohten. Bernie

war

aufgesprungen, um ihren Stuhl

zurechtzu-

rü cken, und hatte vor

Ü

bereifer dabei seinen eigenen

umgewor-

fen. Aber als sie sich gesetzt hatten und der Kellner an den Tisch getreten war, hatte er das wieder gutgemacht, indem er mit weltmä nnischer Nonchalance die Bestellung aufgab. Die halbe Stunde hatte er nä mlich dazu benutzt, die Speisekarte fast auswendig zu lernen. Er wuûte, die Kü che war Wienerisch, denn der Chef war Werner Bergmoser. »Wie ist heute der Savarin vom Silberlachs?

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Oder kö nnen Sie das Steinpilzgericht in Veltliner empfehlen? Vielleicht fü r die Dame die pochierten Rinderfiletscheiben im Schnittlauchfond, nein?« Am Ende hatte sie das Menü mit dem Zander im Strudelteig genommen, dazu Wirsing eingewickelt, mit Paradeisersauce, Schwammerlgulasch mit Serviettenknöd eln und als

Vorspeise

Kalbsrahmbeuscherl. Fü r

sich

hatte Bernie im Ü ber-

schwang

etwas zuviel vorgesehen:

als

Vorspeise

mit

Krautern

ü berbackene Waldpilze,

Kaviar mit

Rotkrautgelee

auf

Sellerie-

mus, Bachsaibling mit

Kartoffelpü ree

und Waldspinat, eine

Taube in Lebersauce sowie ein Stü ck vom steirischen Milchkalb mit Ziegenkä se. Und wä hrend sie dazu einen Weiûburgunder vom Neusiedlersee tranken und Bernie in Rebeccas blaues und grün es Auge schaute, erzä hlte er von seinen drei literarischen Lieblingsgestalten: Bernie dem Furchtlosen, Bernie dem Humorvollen und Bernie dem Erfahrenen. »... Sie waren noch nicht in Andalusien? Da mü ssen Sie unbedingt hin! Die Heimat des Stierkampfs! Als ich als Student dahinkam Ð ja, um Spanisch zu lernen Ð ja, das muû man als Romanist Ð na ja, nicht flieûend, nicht so gut wie Italienisch oder Rumä nisch Ð, also, da hatte ich noch keine Ahnung von der Grandezza dieser Landschaft. Maurisch und europä isch zugleich. Lieblich und dü ster. Aber immer heroisch. Nobel. Der Stierkampf drü ckt das aus. Sicher, zuerst dachte ich wie Sie. Eine Tierquä lerei, Machismo. Aber da lernte ich Manolete kennen. Ein junger Stierkä mpfer, der mich mit auf eine groûe Estanzia nahm. Er ist heute schon tot.« Halt! rief da von ganz weit Bernie der Wahrhaftige. Jetzt reicht's aber! Weder kennst du Manolete, noch ist er tot. Aber Bernie der Tollkühn e hö rte nicht auf ihn. Als er beim Bachsaibling war, erklä rte er die einzelnen Phasen des Stierkampfs. Und bei der Taube half er den Arbeitern der Estanzia auf der Viehweide beim Zusammentreiben der wilden Stiere. Eine neue Gestalt war geboren: Bernie der Torrero.

»Olé «, sagte Rebecca mit leichter Ironie und hob ihr Glas. Das rief Bernie den Humorvollen auf den Plan.

»Na ja. Sie haben mich zu furchtbaren Ü bertreibungen provo-

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ziert. In Wirklichkeit bin ich ganz feige. Und wenn ein Stier sich umgedreht hat, habe ich Reiûaus genommen.«

Ob er Manolete auch wiederauferstehen lassen sollte? Bevor er das entscheiden konnte, sagte Rebecca plö tzlich:

»Ich schä tze Mä nner, die warten kö nnen.«

Bernie sah sie ü berrascht an. Warten worauf, fragte er sich. Nun gut, er wü rde weiterwarten, wenn sie das schä tzte. Oder meinte sie etwa...? Eine Blutwelle rollte durch Bernies Hirn.

»Sie haben kein einziges Mal gefragt, warum ich Sie sprechen wollte?«

Richtig, das hatte er ganz vergessen. Ü ber seinen Erzä hlungen von Bernie dem Tollkühn en war ihm entfallen, daû nicht er sie ausgefüh rt, sondern sie ihn zu einem Busineû-Lunch gebeten hatte. Am besten sagte er jetzt nichts mehr.

»Der Senator schä tzt diskrete Leute«, fuhr sie fort.

Aha, daher wehte also der Wind. Der Senator wollte etwas von ihm. Vielleicht fing jetzt die Politik an. Wenn die Besuche in Nobelrestaurants erst zur Gewohnheit avancierten, wurde die Korruption richtig stilvoll. Vage betrachtete Bernie die Seebilder von Johannes Holst und Alfred Jensen, die an den Wä nden des Restaurants hingen.

»Er hat mich beauftragt. Ihnen in aller Form zu danken.«

Sie wurden vom Kellner mit dem Kä sewagen unterbrochen. Rebecca lieû sich einen Tête de moine, ein Stü ck Chèvres und einen Gruyeres geben, wä hrend Bernie genü ûlich einen Eisbecher lö f- felte. Nach der Schlemmermahlzeit füh lte er sich wie ein Knöd el, der in der Brüh e seines kö rperlichen Wohlbehagens schwebt. Bernie der Furchtlose und Bernie der Erfahrene hatten sich zur Ruhe gelegt und Bernie dem Behaglichen Platz gemacht, der mit seliger Ergebenheit auf die den Exzeû abrundenden Wohltaten eines funkelnden Cognac und eines schaumigen Espresso schaute.

»Die Art, wie Sie den Fall Brockhaus abgebogen haben, war ü beraus gekonnt. Den Rö ssner ins eigene Messer laufen zu lassen, das war geradezu elegant. Und so diskret!«

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Ach, darum ging es also. Aber was hatte der Senator damit zu tun? Bernie läc helte, hob sein Cognacglas wie zur Andeutung eines Zuprostens und schaute sie ü ber den Rand vielsagend an.

»Er wird Ihnen das nicht vergessen. Das war's, was ich Ihnen sa - gen sollte. Aber natü rlich muû dieses Gespräc h unter uns bleiben. Sie verstehen.«

Bernie verstand nicht und nickte. Rebecca wüh lte in ihrer Handtasche. Das weckte ihn aus seiner Lethargie. Wenn sie jetzt ging, wü rde er nicht erfahren, was das alles zu bedeuten hatte.

»Der Senator fand es also richtig, daû ich den Brockhaus gerettet habe?« fragte er noch mal. Sie sah ihn ü berrascht an.

»Aber ja. Wundert Sie das etwa?«

»Nein, nein. Aber was hat der Brockhaus mit dem Senator zu tun?«

Ihre Augen wurden rund.

»Er ist sein unehelicher Sohn, wuûten Sie das denn nicht?«

Nein, das hatte Bernie nicht gewuût. Welch ein idiotischer Fehler! Da bewahrte er den Sohn des Senators davor, daû ihm mit Schimpf und Schande der Doktorgrad wieder aberkannt wurde, und jetzt vermasselte er wieder alles! Wieso sollte der Senator ihm dafü r dankbar sein, wenn Bernie gar nicht gewuût hatte, daû es sein Sohn war. Das wuûte ja offenbar jeder. Er muûte das wieder ausbüg eln. Bernie der Geheimnisvolle muûte jetzt an die Front. Er schwenkte sein Cognacglas, schaute es an, lieû seinen Blick zu ihrem Gesicht schweifen und versuchte seiner Miene den Ausdruck der Sphinx zu geben. Dann schaute er sich um, um sicherzugehen, daû kein Vertreter des KGB und des CIA hinter ihm stand.

»Ich weiû nur, was ich wissen darf.«

Er stellte die Worte eins nach dem anderen auf den Tisch, schwer und dampfend vor Bedeutung. Damit muûte er jetzt weitermachen. »Aber da Sie's jetzt offen ausgesprochen haben, kann ich es ja auch offen aussprechen: Bis dahin schien es mir besser, so zu tun, als wü ûte ich von gar nichts.«

So hatte Bernie nun doch sein Geheimnis ausgeplaudert. Aber

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sie war die einzige, die es kannte. Die Zö gerlichkeit, mit der er es sich entlocken lieû, war ein Maû seiner Diskretion. Die Widerwilligkeit, mit der er selbst ihr grün es und blaues Auge einen Blick auf den Grund seiner Seele tun lieû, war ein Indiz seines politischen

Tiefgangs.

Hatte er

nicht eben noch eine Lüg engeschichte nach

der ä ndern

erzä hlt?

Bernie der Machiavellist lehnte sich bedeu-

tungsvoll zurü ck und spielte mit seinem Serviettenring. Da ergriff sie plö tzlich seine Hand ü ber den ganzen Tisch, so daû der Spaghettiträ ger des Kleides ihr von der Schulter rutschte.

»Danke, Professor Weskamp, auch in meinem Namen persö n- lich. Dr. Brockhaus ist nä mlich auch der Mann meiner Schwester.«

Und als die Rechnung ü ber 182,- DM kam und sie darü ber stritten, wer zahlen durfte, gewann sie die Debatte, indem sie darauf verwies, daû es auf Kosten des Justizetats ging. Schlieûlich hatten sie ja nur im Dienste der Gerechtigkeit einen kleinen Lunch eingenommen.

»Warten Sie, warten Sie, warten Sie.« Der Chefredakteur des JOURNAL streckte seine Hand beschwö rend aus und schloû die Augen in angestrengter Konzentration. In seiner ovalen Glatze spiegelten sich die hundert Lampen, die die Kantine auf der Dachterrasse des Pressehauses erleuchteten. Nur wenige Tische waren zu dieser Zeit noch besetzt. Am Tisch des Chefredakteurs Bü lhoff hatten die beiden Mitarbeiter Patrick und Irene keinen Blick ü brig fü r das näc htliche Stadtpanorama, das man durch die Terrassenfenster sehen konnte, weil das Theater ihres Chefs sie vö llig in Anspruch nahm. Immer noch hielt er die Augen geschlossen wie ein Medium und forderte schlieûlich nachdrü cklich:

»Sagen Sie etwas, irgend etwas, ganz egal, was.«

Sein blinder Blick richtete sich auf Martin Sommer, den Schrö - der gerade an seinen Tisch gefüh rt hatte.

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»Guten Abend, Herr Bü lhoff, ich freue mich ehrlich, daû Sie

schon mal ein paar Sekunden Zeit fü r mich haben.«

 

Martin

sprach diesen

Satz im

dick

aufgetragenen

Jargon des

ö stlichen

Ruhrgebiets.

ICH FROI

MICH

EALICH. Denn

kurz bevor

sie aus dem Fahrstuhl gestiegen waren, hatte ihn Schröd er gewarnt, daû ihr Chef bei jedem Neuen versuchte, die Herkunft an der Dialektfä rbung zu erraten. »Wie dieser Phonetiker aus My Fair Lady«, hatte er erklä rt, »nur er schafft es selten. Und er mag es nicht, wenn er es nicht schafft! Aber bei dir hat er eine Chance, weil du aus der gleichen Gegend bist. Also mach es ihm leicht!«

»Dortmund!« schrie Bü lhoff in Ekstase und riû die Augen auf in freudiger Erwartung der Bestä tigung.

»Fast genau«, rief Martin, »Kamen, am Kamener Kreuz.« Bü l- hoffs Ekstase steigerte sich nochmals.

»Was?« jubelte er, »Sie kommen aus Kamen?« Jetzt verfiel er selbst in breitestes Ruhrgebietlerisch. »Junge, setz dich. Du auch, Manni. Darauf mü ssen wir einen heben! Das hier ist Irene, ach, ihr kennt euch schon? Komm, Patrick, hol mal noch 'ne Runde Pils mit Klarem. Ich bin nä mlich auch von Kamen weg.« Es klang wie WECH. »Da staunste, watt? Bei Bierkä mper vonne Westfalenpost hab ich als junger Spunt angefangen. Da war ich noch auffe Penne. Bisse auch in Kamen auffe Penne gegangen?«

Dieser gemü tliche Bü lhoff kam Martin vor wie der wiedergefundene Papi, den er nie gehabt hatte. Er kippte den Klaren, den Patrick gebracht hatte, und lieû sich in das Ruhrgebietsdeutsch gleiten wie ins Badewasser.

»Auffe Kamener Penne? Jau, da hab ich Abi gemacht.« »Gibt's den Terboven noch mit der Hasenscharte?«

»Micha mibts mem moch.« Martin gab eine hemmungslose Imitation von Terboven im Hasenschartenwestfä lisch und erntete den jubelnden Beifall der ganzen Runde. Wiehernd schü ttelte sich Bü lhoff in einem Wiedererkennungsspasmus.

»Ja, so hat er gesprochen, genau so! Aber den alten Grevenbroich, den Mathelehrer, habt ihr den auch noch gehabt?«

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»Aber das war doch ein Rheinlä nder, der kam bei uns immer rein und sagte erst Ð Martin gab jetzt eine perfekte Imitation eines Rheinlä nders Ð: »Meine Herrschaften, isch warne oisch. Isch habe noch jeden von oisch kleinjekrischt.«

Wieder ging Bü lhoff aus dem Leim. »Genau, genau!« schrie er. Und als er sich etwas erholt hatte, fuhr er fort, indem er auf Martin zeigte: »Da seht ihr, was ich immer sage.« Patrick und Schröd er muûten grinsen. »Ja, ich weiû wohl, daû ihr euch ü ber mich lustig macht. Aber den Leuten aufs Maul schauen, das muû der Reporter, das ist sein Beruf. Wissen, was die Leute reden, dann weiû man auch, was sie lesen wollen.« Mit weiten Schlä gen ruderte er hinaus auf die hohe See der Zeitungsmacherphilosophie. »Guckt euch die ZEIT an. Die Leitartikel liest kein Mensch. Wer die ZEIT kauft, lä ût sie eine Woche abhä ngen, und bis er sich durch das Feuilleton gequä lt hat, ist die Woche um und die neue ZEIT da, und er kann die alte wegschmeiûen. Die Leute kaufen die ZEIT, um sie wegzuschmeiûen. Sie ist das Nullmedium der A-13-Kultur; unlesbar wie eine Magisterarbeit in Germanistik.«

Der letzte Satz traf Martin wie ein Pfefferkorn die frische

Wunde eines gerade gezogenen Zahns.

 

 

»Weitschweifig«,

Bü lhoff beschrieb

mit weitausholender Ge-

ste, was weitschweifig war, »geschwä tzig. Zwar keine

Informa-

tionen, aber dafü r

fläc hendeckendes

Moralangebot bei

unsittli-

chen Berüh rungen

der Leserschaft. Ein Komposthaufen

fermen-

tierender Betulichkeit und fauler Betroffenheitsappelle. Eine Zeitung fü r chronisch Verstopfte.«

Martin muûte lachen. Welch eine Befreiung! Seit seiner Katastrophe mit der Magisterarbeit füh lte er sich frisch wie nach einer

krä ftigen Dusche.

 

 

 

 

»Und die taz?« fragte er.

 

 

 

»Ja,

die taz.« Bü lhoff

schü ttelte

traurig

sein kahles

Haupt wie

ü ber

einen miûratenen

Zö gling,

der die

schö nsten

Hoffnungen

enttä uscht hat.

»So kann man einfach keine Zeitung machen«, nahm Schröd er

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den Faden wieder auf, den Bü lhoff hatte hä ngen lassen. »Nur Schocks und Inkompetenz, das geht nicht. Oder hast du schon mal einen Artikel ü ber Wirtschaftspolitik oder Bildungspolitik in der taz gelesen?«

»Aber sie sind wenigstens furchtlos und aggressiv«, warf Irene ein.

»Wie die akademischen Lumpenproletarier, die sie reprä sentieren, wolltest du sagen?« Patrick hatte kurz fü r die taz gearbeitet und war dann im Krach geschieden.

»Sie ist so infantil wie ihr Milieu. Sie schockiert durch schlechtes Benehmen.«

Bü lhoff stand auf: »Kinder, laût uns eine richtige Zeitung machen. Mit Reportagen. Zu euren Zelten, o Israel! Zurü ck an die Arbeit!« Sie waren jetzt alle aufgestanden. »Was ist ü brigens mit den Kammerspielen?« fragte er Patrick, als sie zum Fahrstuhl gingen. »Warst du bei der Belegschaftsversammlung?«

»Ich hab den Wirtschaftsbericht gelesen. Die sind pleite, und die Kultursenatorin lä ût sie hä ngen.«

»Weiût du das sicher?« »Informantin in der Kulturbehö rde.«

»Dann unterstü tzen wir das. Schluû mit den Subventionen fü r diese Scheiûtheater.« Wä hrend sie auf den Fahrstuhl warteten, wandte er sich an Schröd er. »Die mietfreien Luxusvillen fü r Senatsmitglieder. Wann bist du mit der Sache fertig?«

»Hab ich ü bermorgen im Kasten.«

»Geht das nicht schneller? Nicht, daû uns einer den Knü ller noch wegschnappt! Irene Ð fü r dich hab ich was Neues. In der CDU gibt es Ä rger, weil die Mandatsinhaber die anderen nicht in die Mitgliederkarteien gucken lassen. Datenschutz Ð sagen sie. Nur, in Wirklichkeit sichern die sich so ihre eigene Wiederwahl,

weil nur sie wissen, wen sie ansprechen

kö nnen,

um wiederge-

wä hlt zu werden. Und die drauûen vor

der Tü r

haben keine

Chance. Na, und deshalb rebellieren die jetzt! Mach dich doch mal an den Militzki ran, der weiû sicher, was da los ist.«

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Sie waren jetzt im groûen Redaktionsbü ro angekommen. »Und wir zwei gehen jetzt erst mal in mein Bü ro.« Bü lhoff legte Martin den Arm um die Schulter, wä hrend die anderen zu ihren Laptops zurü ckgingen und nach den Telefonen griffen.

Im Vergleich zu dem plebejischen Durcheinander im groûen Redaktionsraum war Bü lhoffs Bü ro eine Oase vornehmer Gentlemankultur. Sessel und Schreibtisch waren aus Mahagoni, an den Wä nden hingen Karikaturen von Daumier, Cruikshank und Grandville neben Graphiken von Kubin und Bargheer.

»So«, sagte Bü lhoff, als sie sich gesetzt hatten, »jetzt wollen wir mal. Ihr Freund Schröd er hat mir erzä hlt« Ð Martin bemerkte, daû Bü lhoff ihn wieder siezte Ð, »daû Sie einen Job suchen. Und Sie haben schon mal beim Abendblatt gearbeitet.«

Martin nickte. »Ja, im Volontariat. Und ich schreibe regelmä - ûig ü ber Ausstellungen und Kunstauktionen.«

»Theaterkritiken?« fragte Bü lhoff.

Am besten wurde Martin jetzt etwas undeutlich: »Gelegentlich

mal. Ich kenne das Milieu jedenfalls.«

 

»Kennt das Milieu, kennt das Milieu«, murmelte

Bü lhoff laut

vor sich hin. »Sie sind Historiker, sagt

Schröd er?«

Martin nickte.

 

»Was wissen Sie ü ber die Riezler-Tagebü cher?«

 

O Gott, das wurde ja wie im Examen! Was wuûte er ü ber die Riezler-Tagebü cher? Muûte er das wissen? Was wuûte er ü ber Referenzsemantik? In seinem Hirn begann es ganz leise zu rieseln.

»Ü ber die Riezler-Tagebü cher?« wiederholte er. »Da weiû niemand etwas.«

Bü lhoff stand auf und zeigte mit dem Finger auf Martin: »So ist es. Niemand weiû etwas darü ber. Das heiût, ü ber den Teil, der fehlt.« Er ging jetzt auf und ab. »Wie Sie wissen, war Riezler beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs persö nlicher Sekretä r des Reichskanzlers Bethmann-Hollweg.«

Martin wuûte es nicht, aber er nickte. »Klar.«

Bü lhoff blieb stehen und sah ihn an. »Dann wissen Sie auch, daû

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bei den Besprechungen des Reichskanzlers kein Protokoll gefüh rt wurde. Wir haben dafü r nur Riezlers Tagebuch.«

Also gab es doch eins?

»1938 emigrierte Riezler in die USA und kam 1953 nach Deutschland zurü ck. Direkt am Ende des Zweiten Weltkriegs wollte er sein Tagebuch publizieren, als ein Haufen deutscher Historiker unter der Füh rung von Hans Rothfels das verhinderten, weil sie wuûten: Das Tagebuch bewies die deutsche Schuld am Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Weil schon klar war, daû sie am Zweiten Weltkrieg schuld waren, sollten sie nicht auch noch am Ersten schuld sein. Rothfels und Konsorten unterdrü ckten die historische Wahrheit.«

Den letzten Satz lieû Bü lhoff schwer reiûend vom Lö ffel tropfen. Wollte er ein historisches Kolleg halten, oder verfolgte er eine tiefere Absicht?

»Sie sind doch Historiker?« fragte er wieder und unterbrach seine Wanderungen.

»Im Nebenfach.«

»Im Nebenfach, im Nebenfach, im Nebenfach.« Er hatte die Angewohnheit, einfach die letzten Worte zu wiederholen, als ob er damit Anlauf nehmen wollte. »So, so, im Nebenfach. Also, um es kurz zu machen, dieser Riezler hatte auf dem Sterbebett bestimmt, daû seine Tagebü cher verbrannt werden sollten. Aber bevor das geschah, lieû sein Bruder eine Abschrift anfertigen. Und die wurde dann von einer deutschen Historikerkommission publiziert. Aber, jetzt kommt's Ð da fehlte die Zeit vom Juni/Juli 1914, also genau die Zeit der Serbienkrise. War einfach nicht dabei.«

»Und wo war sie?« fragte Martin.

»Ja, wo war sie? Sie kennen ja diese endlosen Historikerkontroversen ü ber den deutschen Sonderweg; und füh rt eine gerade Linie von Luther ü ber Bismarck zu Hitler? Das ist alles Scheiûe! Weil die Deutschen keine anstä ndige demokratische Tradition haben, haben sie statt dessen Historiker; und die kloppen sich dann darum, wie die Tradition aussieht. Sie balgen sich wie Kö ter um die Ge-

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