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Hanno Hackmann las natü rlich regelmä ûig

seine

Fachzeitschrif-

ten wie die Kö lner Zeitschrift fü r Soziologie

und

Sozialpsycholo-

gie, das Journal of Sociology, die Rév ue de Sociologie und Social Research von der New School in New York; in der letzten Zeit hatte er sogar verstä rkt die Soziologische Zeitschrift aus Bielefeld gelesen, weil er sich zunehmend mit der Systemtheorie befaût hatte, obwohl er sich selbst als Tenbruck-Schü ler füh lte. Neben diesen und etlichen anderen Zeitschriften las Hanno auch noch als Tageszeitungen das Abendblatt fü r die lokalen Meldungen und die FAZ fü r die richtigen Nachrichten. Das Abendblatt war eigentlich keine Zeitung, sondern eher eine Volksbelustigung, in der die Hamburger immer wieder erfahren durften, daû Hamburg der Nabel der Welt war und sü dlich der Elbe der Balkan anfing. Deshalb blä tterte Hanno sie in wenigen Minuten durch. In der FAZ las er nur das Feuilleton und den Wissenschaftsteil, den allerdings grün dlich. Heute, am Donnerstag, kaufte er noch zusä tzlich DIE ZEIT, um fü r seine Examenskandidaten nach Stellenanzeigen zu schauen, weil er den Verdacht hatte, daû sie es selbst nicht taten. Hanno grä mte sich nä mlich, daû die Universitä t praktisch keine Stellen fü r begabte Nachwuchswissenschaftler zur Verfügung stellte. Sie konnte das auch nicht, weil sie ihre ganze Reserve in einem einzigen Schub fü r die ü bergeleiteten Professoren verbraucht hatte. Statt einen Korridor von Stellen fü r die gleichmä ûige Vergabe an die Begabtesten der jeweils nachrü ckenden Generation offenzuhalten, hatte die Universitä t sie alle auf einmal verramscht, mit dem Ergebnis, daû nun eine Menge mittelmä ûiger Professoren die Stellen blockierten, wä hrend der begabte Nachwuchs vor der Tü r stand. Hanno fand das unmoralisch. Er konnte sich jedesmal maûlos darü ber empö ren. Fü r ihn war dies nicht nur ein Fehler der Wissenschaftspolitik Ð denn jeder konnte die katastrophalen Folgen voraussehen Ð, sondern eine bewuûte Verschwendung von

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Talenten und gesellschaftlichen Reichtü mern, eine skrupellose Selbstbedienung des BdH und seines Füh rers, des Prä sidenten der Universitä t, der einfach alle zu Professoren ernannt hatte, die ihn wä hlten. Zum Ausgleich sah Hanno es als seine Pflicht an, wenigstens fü r seine begabten Absolventen nach wissenschaftlichen Mitarbeiterstellen und Graduiertenkollegstipendien an anderen Universitä ten Ausschau zu halten, und die wurden nun einmal in der ZEIT angezeigt.

Hanno kaufte seine Zeitungen, wenn er die Brö tchen holte. Sein Bäc ker hatte erkannt, daû der Mensch nicht von Brot allein lebt, und deshalb sein erstaunliches Angebot von Bauernbrö tchen, Franzbrö tchen, Schrippen, Kielern, Roggenbrö tchen, Laugenbrö tchen, Mohnbrö tchen und Milchbrö tchen auch noch durch die wichtigsten Zeitungen ergä nzt. Aber am heutigen Donnerstag kaufte Hanno nicht nur die FAZ und das Abendblatt und die ZEIT, denn als er seine Zeitungen einsammelte, starrte ihm das Titelblatt des JOURNAL entgegen: Wie unter Zwang griff er nach dem neuesten Heft und blä tterte es auf. Er wollte es schon beruhigt zurü cklegen, da bemerkte er, daû er eine Seite ü berschlagen hatte. Als er sie aufschlug, traf es ihn mit der Gewalt eines Faustschlags:

SOZIOLOGISCHES INSTITUT Ð EIN SUMPF SEXUELLER ERPRES-

SUNG?

Darunter stand in kleineren Buchstaben: Neue Erkenntnisse im Fall Clara C.

Hanno hatte das Gefüh l, daû seine Beine ihn nicht mehr tragen wü rden. Panik befiel ihn. Gab es hier nichts zum Sitzen? Er lehnte sich an die Wand neben dem Zeitungsstand und klemmte seine Ellbogen auf den umlaufenden Mauervorsprung in der Wand. Von ferne hö rte er die Stimme des Bäc kers.

»Das Ü bliche, Herr Professor? Drei Milch, drei Mohn und drei Schrippen?«

Hanno nickte. Kein Zweifel, es war derselbe Verfasser, Martin

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Sommer. Er muûte mit Babsi gesprochen haben. Hanno versuchte zu lesen.

»Bevor Clara C. Theater studierte, war sie Studentin der Soziologie. Das wurde bekannt, nachdem das JOURNAL in seiner gestrigen Ausgabe von ihrer schweren sexuellen Traumatisierung durch einen Hochschullehrer der Universitä t Hamburg berichtet hatte. Der Direktor des Soziologischen Instituts, Professor Rudowsky, befindet sich augenblicklich auf einer Tagung in Cornell und war fü r eine Stellungnahme nicht zu erreichen.«

»Wä re das alles, Herr Professor?« erscholl es von der Bäc kereitheke herü ber.

»Was? Jaja, alles. Danke.«

»Nehmen Sie das JOURNAL auch mit den ü brigen Zeitungen?«

»Wie? Jaja, bitte.« Hanno legte den Finger in die Seite des Journals, klemmte die ü brigen Zeitungen unter den Arm und stellte die Tü te mit den Brö tchen auf die Leiste vor der Theke.

»Das macht 17,80 DM.«

Hanno zahlte geistesabwesend, nahm seine Brö tchen und ging lesend hinaus. In seinem Unterbewuûtsein registrierte er mit groûer Klarheit das Vogelgezwitscher in den Gä rten ringsum. Es wü rde wieder ein wunderschö ner Tag werden. Auf seinem Hintergrund zeichnete sich das gedruckte Todesurteil in seiner Hand mit der Schä rfe einer Tä towierung ab, und Hanno Hackmann stü rzte langsam und unaufhaltsam die drei Stufen der Bäc kerei hinab und fiel krachend auf das Pflaster davor. Seine Zeitungen flatterten auf den Platz vor den Stufen, die Brö tchen verteilten sich ü ber die ganze Einfahrt, und eins rollte auf die Straûe, wo es die Rä der eines vorbeirasenden Audi sofort zu Krü meln zermalmten. Um Hannos Beine aber wickelte sich die Hundeleine eines Yorkshireterriers, der ihn mit hysterischem Geklä ffe in immer engeren Zirkeln umkreiste, bis er unmittelbar vor ihm stehenblieb und knurrte. Hanno setzte sich auf. Merkwü rdigerweise hatte er das JOURNAL noch in der Hand, mit seinem Zeigefinger zwischen

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den Seiten. Aus der Bäc kerei lief die Besitzerin des Yorkshireterriers, stü rzte sich auf ihren Liebling und hob ihn auf den Arm. Dabei zog sie Hannos Beine wieder hoch, so daû er zurü ckfiel und sich mit den Ellbogen abstü tzen muûte.

»Mutzischnutzitutzi« Ð das Frauchen drü ckte ihr Gesicht in das Fell ihres Lieblings, der gellend auf Hanno herabbellte. Ihm kam seine groteske Lage langsam zu Bewuûtsein. Seine beiden Beine schwebten gefesselt in der stramm gespannten Hundeleine, deren eines Ende mit einem Karabinerhaken in den Haltering neben dem Eingang der Bäc kerei eingehakt war, wä hrend das andere am Halsband des Hundes hing. Hanno deutete auf den Hund. »Machen Sie das Halsband los! Sie ziehen mir ja die Beine weg!«

Das Frauchen schien nicht zu begreifen, sondern zog um so fester, wä hrend ihr Kö ter noch ein paar Takte rasender klä ffte. Da sah Hanno aus den Augenwinkeln, warum: Hinter ihm trottete der gewaltige Berner Hirtenhund seines Nachbarn Tietmeyer heran. Beilä ufig verpaûte er Hanno einen feuchten Begrü ûungskuû ins Ohr und fraû dann seelenruhig ein Brö tchen nach dem anderen auf, wä hrend das Frauchen ihren Terrier noch fester hielt und dieser sein Geklä ff zum Delirium steigerte.

»Machen Sie doch endlich die Leine los!« blaffte Hanno. Da trat eine junge Frau aus der Bäc kerei, bü ckte sich und lö ste mit einem Griff den Karabinerhaken. Hanno wickelte die Leine von seinen Beinen ab, rappelte sich hoch und hob die Zeitungen auf.

»Vielen Dank!« Die junge Frau sah ihn besorgt an. »Danke, es geht schon wieder. Ein läc herlicher Sturz, nichts weiter.«

Das Frauchen erhob plö tzlich ein Wehgeheul.

»Das ist aber auch zu dumm, ich sage ja immer, der Ring ist zu nahe an der Tü r. Tausendmal habe ich das Bäc ker Mossmann schon gesagt. Aber wo soll ich meinen Putzi denn anbinden, wenn sonst kein Ring da ist? Geh weg!« schrie sie plö tzlich den Berner Hirtenhund an und trat hysterisch mit dem Fuû nach ihm, so daû er in schwerem Trab langsam davontrottete. Dann sammelte sie das Ende ihrer Leine ein und ging mit ihrem klä ffenden Terrier zu-

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rü ck in die Bäc kerei. Als auch die junge Frau gegangen war, humpelte Hanno zu seinem Mercedes, warf die Zeitungen auf den Nebensitz und kontrollierte, ob er etwas zerrissen oder sich verletzt hatte. Aber abgesehen von ein paar Schü rfungen an den Handgelenken war alles in Ordnung. Dann griff er wieder zum JOURNAL. Merkwü rdigerweise war er jetzt viel ruhiger geworden. Er füh lte sich dem Text plö tzlich gewachsen. Er ü berflog ihn und stellte fest, daû weiter nichts Gefä hrliches darinstand. Sein Name wurde nicht genannt. Sie hatten eben herausgekriegt, daû Babsi Soziologin war. Wie sollten sie auch nicht, das war ja nicht sensationell. Daû sie bei ihm Examen machen wollte, wuûte eigentlich nur Frau Eggert, und er konnte sagen, daû er sie abgelehnt hatte. Viele erinnerten sich daran, wie er ihr Referat verrissen hatte. Er blickte wieder auf das JOURNAL und las das Ende des Artikels.

»Die Frauenbeauftragte, Frau Wagner, ist entschlossen, den Fall nicht auf sich beruhen zu lassen, sagte sie gestern auf einer Demonstration vor dem Verwaltungsgebä ude der Universitä t. Eine groûe Menschenmenge hatte sich eingefunden, um die Forderungen der Demonstranten zu unterstü tzen. Unter ihnen waren zahlreiche Hochschullehrerinnen einschlieûlich Professor Brigitte Schell vom Studiengang Sprechtheaterregie und Schauspiel. -Dies wird ein Prü fstein fü r alle Hochschullehrerinnen und Studentinnen, ob die Universitä tsleitung es ernst meint mit der Frauenfö rderung in der Universitä t sagte sie dem JOURNAL. -Das Amt des

Prä sidenten steht bald zur

Wiederwahl an. Und der amtierende

Prä sident hat versprochen,

die Frauen in ihrem Kampf zu unter-

stü tzen. Jetzt kann er zeigen, daû er sein Versprechen hä lt.¬ «

Es war klar, daû das eine Kampagne werden wü rde. Das war zwar einerseits gefä hrlich, aber andererseits konnte man alles auf eine ü berpersö nliche Ebene heben. Wenn es politisch wurde, lieûen sich Verdäc htigungen bezüg lich der Motive viel plausibler machen. Hanno war plö tzlich klar, was er zu tun hatte. Rudowsky, der gerade die Geschä fte füh rte, war nicht da, und das wü rde er dazu ausnutzen, fü r seine Abteilung die Politik festzulegen. Er

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wü rde so tun, als ob er das ganze Soziologische Institut vor Verdäc htigungen in Schutz zu nehmen hatte. Er wü rde an den korporativen Instinkt appellieren, an den Teamgeist und die Institutsso-

lidaritä t. Jetzt zahlte es sich aus, daû

er seiner Abteilung einen

Geist der Gemeinschaftlichkeit und

Kooperation eingehaucht

hatte. Er lieû seinen Wagen an, fuhr nach Hause und bat Frau Eggert telefonisch, fü r 16 Uhr die Abteilung fü r Kultursoziologie zusammenzurufen.

Als Hanno ins Bü ro kam, waren Veronika, Frau Kopp, die Verwalterin der Wissenschaftlichen Assistentenstelle, Dr. Seifert, die Bibliothekarin und die Hilfskrä fte schon in seinem Bü ro versammelt und hatten sich auf das Sofa, die Sessel und die Stüh le verteilt, die an den Wä nden fü r Gruppensitzungen bereitstanden. Frau Eggert holte noch gerade die Mitarbeiter der Arbeitsstelle fü r »Subkultur und Gegenkultur«, erfuhr er. Als sie kamen, wartete er, bis auch sie sich gesetzt hatten, trat dann etwas zurü ck und kam gleich zur Sache.

»Ich danke Ihnen«, begann er, »daû Sie alle Ihre Arbeit fü r diese kleine Zusammenkunft unterbrochen haben. Aber wir Soziologen finden ja nichts dabei, die Reflexion auf die Gesellschaft manchmal durch die Teilnahme an der Gesellschaft zu unterbrechen.« Sie läc helten milde ü ber diesen humorigen Appell an ihr Selbstverstä ndnis. »Dabei gehö rt der konkrete Anlaû eher zum Bereich subkultureller oder gegenkultureller Erfahrung. Die meisten von Ihnen werden gehö rt oder gelesen haben«, er schwenkte die Nummer des JOURNAL, »daû es in der Universitä t angeblich einen Fall sexueller Nö tigung gegeben hat. Die Details erspare ich Ihnen, Sie finden sie in den Spalten dieser Postille. Wenn ich richtig gelesen habe, ist gegenwä rtig der Disziplinarausschuû der Universitä t mit der Untersuchung des Falles befaût. Es handelt sich also um ein schwebendes Verfahren. Nun komme ich zum eigentlichen

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Grund, aus dem ich Sie hergebeten habe. In dieser Nummer des JOURNAL kö nnen Sie nachlesen, daû die Studentin, um die es sich handelt, an unserem Institut studiert hat. Deshalb richtet sich die Aufmerksamkeit aller derjenigen, die an dem Fall interessiert

sind, auf uns.« Wer vorher noch

nicht zugehö rt hatte, hö rte

jetzt

zu. »Natü rlich vor allem auf die

mä nnlichen Mitarbeiter«,

füg te

er mit einem nervö sen Lachen hinzu und erntete ein ebenso unbehagliches Lachen der anwesenden Mä nner. »Es sieht nun so aus, daû aus all dem eine Kampagne werden kö nnte. Wir sollten da vielleicht noch mal die Schriften des Kollegen Uhlig konsultieren, zu dessen Forschungsgebieten bekanntlich Skandale und Kampagnen gehö ren.« Wieder erntete er das pflichtschuldige Läc heln seiner Zuhö rer. »Mir schien es deshalb geboten, daû wir uns in unse-

rer Abteilung noch einmal versammeln und

unser Immunsystem

ü berholen, bevor

wir vielleicht schon durch

wechselseitige

Ver-

däc htigungen und

Unterstellungen

unheilbar

krank sind.«

Jetzt

füh lte er langsam

das magnetische

Feld des

Corpsgeistes.

»Wir

sind alle Soziologen, und ich habe mich manchmal gefragt, ob nicht unsere wissenschaftliche Erkenntnis dazu füh ren mü ûte, daû wir mit sozialen Krisen besser fertigwü rden. Nun, wir alle kennen die Mechanismen der Eskalation. Wir alle wissen, wie schwer unklare Unterstellungen dementiert werden kö nnen. Wir alle sind mit den internen Grenzen der Kommunikation vertraut, an denen jede Beteuerung der eigenen Unschuld auflä uft und im Selbstdementi endet. Wir alle haben auch Veronikas Artikel ü ber die korrodierende Wirkung des Verdachts bei Morduntersuchungen gelesen; um einen Schuldigen zu finden, muû man erst alle verdäc htigen.« Jetzt hatte er sie zu einem Bataillon zusammengeschweiût, ü ber dem das Banner der Soziologie wehte. Nur das Angriffsziel muûte noch benannt werden. »Ich schlage deshalb vor, daû wir den unvermeidlichen Anschlag auf unseren guten Ruf erst einmal durch wechselseitige Unschuldsvermutungen ins Leere laufen lassen. Es gibt keinen Mitarbeiter an unserem Institut, dem ich solch ein verwerfliches Verhalten zutrauen wü rde, wie es sexuelle Nö ti-

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gung darstellt. Solange unser Geschä ftsfüh render Direktor noch in Cornell ist, werde ich es deshalb als meine Aufgabe ansehen, mich vor jeden Kollegen zu stellen, den man verdäc htigen sollte. Solange nicht das Gegenteil bewiesen ist, gilt er als unschuldig.« Als Hanno eine Pause machte, standen alle Anwesenden auf und applaudierten. »Ich danke Ihnen, ich danke Ihnen! Nein, das ist keine Routinedanksagung, ich bin Ihnen wirklich dankbar, daû Sie in diesem Punkt mit mir ü bereinstimmen. Es ist nicht selbstverstä ndlich. Lassen Sie mich deshalb die Gelegenheit beim Schöp f ergreifen. Ihnen einmal zu sagen, wie sehr ich Ihnen allen fü r ihre Loyalitä t dankbar bin. Dies bedeutet mir mehr, als ich normalerweise ausdrü cken kann. Man braucht fast eine solche Gelegenheit wie diese hier, um so etwas einmal zu sagen.« Hanno war jetzt selbst gerüh rt, und einige Mitarbeiter bekamen glä nzende Augen. »Es gibt wenige Institute, in denen solch ein team spirit und so eine menschlich angenehme Atmosphä re herrschen wie in unserer Abteilung.« Wieder brach Beifall aus. »Danke, ich glaube, ich mache jetzt lieber Schluû, bevor ich Ihnen vor Rüh rung um den Hals falle.« Er sah sich um, und selbst die küh le Frau Eggert schien jetzt von innen zu leuchten. »Nur noch eins: Es wird vielleicht demnäc hst Demonstrationen vor unserem Institut geben. Lassen Sie sich bitte nicht provozieren. Ich will Ihnen da nicht hineinreden, aber ich persö nlich wü rde Ihnen raten, sich auf keine Debatten einzulassen. Vielleicht gibt es ja einen Schuldigen, und der muû gefunden und bestraft werden. Aber ganz unabhä ngig davon sind die Demonstranten auch in Pogromstimmung. Ihnen ist jeder Schuldige recht, und sie sind nicht wä hlerisch. Auch hier wissen wir ja als Soziologen, daû der kollektive Wunsch nach Vergeltung ganz andere Grün de hat als den Wunsch nach Gerechtigkeit. Und Analoges gilt ja wohl auch fü r die Presse Ð mit der Einschrä nkung, daû es hier die Jagd auf Sensationen ist, die den Wunsch nach einem Schuldigen beflüg elt. Von mir jedenfalls wird niemand etwas erfahren. Solange die Untersuchung universitä tsintern noch nicht abgeschlossen ist, sollten wir uns alle nach auûen Zurü ckhaltung

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auferlegen. Im ü brigen bin ich sicher, daû Kultursoziologen die sozialtechnischen Vorteile von Takt und Diskretion zu schä tzen wissen. Sie werden schon das Richtige tun. Ich danke Ihnen!«

Hanno hatte plö tzlich abgebrochen, weil mit

seinen Zuhö rern

eine deutliche Verä nderung vorgegangen war.

Er konnte es zu-

näc hst nicht deuten, bis er bemerkte, daû sie an ihm vorbeiblickten. Er drehte sich um und fuhr zurü ck. Hinter seinem Rü cken am Fenster standen zwei grinsende Bauarbeiter, und einer von ihnen hielt den Mittelfinger in seiner geballten Hand in einer eindeutigen Geste senkrecht nach oben gestreckt.

Am Abend desselben Tages wä lzte sich Bernie in seinem Fernsehsessel zu Hause herum und sah sich einen deutschen Kriminalfilm aus der Serie »Derrick« an. Als Professor hatte Bernie ein schlechtes Gewissen, wenn er fernsah. Das war reine Zeitverschwendung und eines geistigen Menschen nicht wü rdig. Denn wä hrend eines solchen Films hä tte er besser ein paar wissenschaftliche Aufsä tze lesen oder an seinem Aufsatz ü ber »Die ironische Verwendung der Erlebten Rede bei Flaubert« schreiben kö nnen. Aber Bernie dachte nicht gerne an seine Verö ffentlichungen, denn er hatte bis jetzt ü berhaupt nur seine Dissertation und vier weitere Aufsä tze publiziert. Als Publikationsliste war das erbä rmlich kurz und fü r einen richtigen Professor eigentlich zu wenig. Deshalb hatte er sich immer wieder vorgenommen, durch ein paar weitere Publikationen die Optik zu verbessern. Nicht, daû es irgend jemand gekü m- mert hä tte Ð aber es wä re fü r sein Selbstgefüh l gut gewesen. Dabei ging es fast allen seinen Kollegen genauso. Doch die suchten ihre Kompensationen in der Lehre. Die Lehrerfolge dokumentierten sie dadurch, daû sie volle Seminare hatten und dann unter der Ü berlastung stö hnten. Und die Seminare fü llten sie, indem sie die Leistungsstandards senkten, was ihrer Abstinenz in der Forschung wieder entgegenkam. Das schien Bernie zu erbä rmlich. Deshalb holte er sich seine Befriedigung in der Politik und reservierte seinen Forschungsehrgeiz fü r spä ter. Eines Tages wü rde er sein zwei-

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tes Buch folgen lassen: »Alltag und Banalitä t in Madame Bovary«, das ihn mit einem Schlag zu einem Kritiker von Statur machen wü rde. Aber mittlerweile muûte er diesen Kriminalfilm sehen. Deutsche Filme waren nä mlich die einzigen, die er ohne schlechtes Gewissen sah. Das lag daran, daû er von ihnen nicht unterhalten wurde. Im Gegenteil: Er wurde von ihnen in einen Zustand quä - lender und erbitterter Langeweile versetzt, die ihn so sehr aufregte, daû er schon wieder unterhalten wurde, ohne es zu merken. Im Geiste verglich er sie stä ndig mit amerikanischen oder franzö sischen Kriminalfilmen und konnte seine Wut dabei kaum beherrschen: Irgend etwas war mit den deutschen Filmemachern und Schauspielern nicht in Ordnung. Eine kollektive Seuche hatte sie unfä hig gemacht, Konflikte darzustellen. Wenn ein deutscher Schauspieler einen erbitterten Polizeikommissar spielte, dann spielte er nicht einen erbitterten Polizeikommissar, der die Leute beschimpfte und seine Untergebenen fertigmachte, sondern einen Schauspieler, der sich dafü r entschuldigte, daû er einen erbitterten

.Polizeikommissar spielte, indem er augenzwinkernd zu verstehen gab, daû er im Grund ein gutmü tiger Schauspieler war. Bernie konnte sich so sehr darü ber aufregen, daû er unfä hig war, mit anderen zusammen fernzusehen. Er ruinierte ihnen mit seinen bö sen Kommentaren jede Chance zu verstehen, worum es ging. Und deshalb muûte er sich alleine aufregen. So krü mmte er sich jetzt vor Schmerzen und wies mit ausgestrecktem Zeigefinger auf die sinnlosen Sequenzen, mit denen die Regisseure Zelluloid zu schinden suchten. »Oh!« schrie er, als der glotzä ugige Kommissar wie ein Lemure zur Tü r hereinkam, Tü r auûen Ð Bildschnitt Ð Tü r innen, jetzt griff er zum Telefon, wä hlte Ð Bildschnitt, Telefon am Ohr, tut-tut, niemand da, Bildschnitt, Hö rer wieder hingelegt. Wozu sollte diese Aktion gut sein, wenn der Kerl am anderen Ende des Telefons sowieso nicht da war? Und dieser traurige Froschblick des Kommissars, der grenzenloses Verstä ndnis ausdrü ckte! Das war es, was er an den deutschen Regisseuren so sehr haûte. Sie fü rchteten den Dissens, den Streit, den Konflikt, sie appellierten

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