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Der_Campus

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wissenschaftlicher Angestellter mit einem klä glichen Examen Leiter des Arbeitsbereichs -Deutsch fü r Auslä nder¬ sein.«

Wä hrend er sprach, hatte Kurtz auf sein Interkom-Gerä t gedrü ckt.

»Helga, gibst du mir mal die Frauenbeauftragte?« »Okay«, antwortete die Stimme.

»Wenn sie ihr die Geschichte mit Barbara erzä hlen wollen, die kennt sie schon.«

Jetzt war es an Kurtz, ü berrascht zu sein. »Sie haben sie ihr schon selbst erzä hlt?«

»Na ja, nicht persö nlich. Ich hab sie gerade telefonisch verpaût, als sie im Rechtsreferat war. Da habe ich sie dem Leiter der Rechtsabteilung, wie heiût er doch gleich, erzä hlt, und der hat mir versprochen, sie an Ursula weiterzugeben.«

»Sie haben mit Matte gesprochen?«

»Ja, wenn das der Leiter der Rechtsabteilung ist.« Da summte wieder das Interkom-Gerä t.

»Frau Professor Wagner auf Apparat zwei.« Kurtz nahm ab.

»Frau Professor Wagner? Hier ist Heribert Kurtz von der Abteilung -Deutsch fü r Auslä nder¬. Bei mir sitzt gerade Frau Professor Schell und mö chte sie sprechen. Einen Augenblick bitte.« Brigitte nahm den Hö rer, schlug die Beine ü bereinander, drehte sich ab und nahm ihre Telefonierstellung ein.

»Hallo, Ursula. Ja, ich hab versucht, dich im Rechtsreferat zu

erreichen. Hat der Leiter dir ausgerichtet, was

ich

ihm

erzä hlt

habe... er hat es aber versprochen... also es

geht

um

folgen-

des...« Sie erzä hlte noch mal die Geschichte

mit

Barbara und

schloû dann: »Weiût du, ich wuûte nicht, wie ich mich da richtig verhalten sollte und wollte deinen Rat. Schlieûlich ist sie vö llig zusammengebrochen, und ich füh lte mich irgendwie schuldig. Aber ich konnte sie in diesem Zustand nicht spielen lassen; sie hä tte womö glich spä ter alles geschmissen...«

Am anderen Ende der Leitung war Frau Ursula Wagner, die

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Frauenbeauftragte, auf dem Gipfel der Entrü stung. Ihre Stimme hatte die intensive Schä rfe einer Kreissä ge angenommen. »Diesen Dr. Matte kauf ich mir«, tobte sie. »Typisch fü r so 'nen Macho, mir so was zu verschweigen. Das ist ein Skandal! Eine richtige sexistische Verschwö rung. Die versuchen bestimmt, irgend etwas zu vertuschen. Einen Fall von sexueller Erpressung oder so. Das arme Mä dchen, sie muû uns sagen, wer es war.«

Brigitte versuchte, sie zu bremsen. Es war ihr gar nicht recht, wenn Ursula das sofort an die groûe Glocke hä ngte. Die Ö ffentlichkeit kö nnte meinen, daû auch sie sich nicht gerade besonders fein benommen hatte, als sie Barbara die Rolle gleich wieder wegnahm. Sie hatte eigentlich nur wissen wollen, wie sie sich in einem solchen Fall verhalten sollte.

»Ach was«, schnappte es am anderen Ende der Leitung. »Du bist doch nur der Auslö ser. Traumatisiert war sie doch schon vorher. Irgend so ein Macho-Schwein hat sie doch gequä lt. Sie ist in der Klinik? Auweiawei. Hoffentlich ist sie nicht vö llig durchgedreht!«

Als sie auflegte, rieb sich Kurtz begeistert die Hä nde.

»Sie haben die Gö tter geschickt. Denn die Gö tter wollen nicht, daû unsere Subventionen gestrichen werden. Und sie wollen auch nicht, daû der groûe bö se Wienholt Sie schluckt. Und wissen Sie, was die Gö tter wollen?« Er zeigte mit seinem wurstigen Zeigefinger an die Decke, wo die Gö tter wohnten. »Ich sage Ihnen, was die Gö tter wollen: Die Gö tter wollen, daû sich die Auslä nder, die armen Schweine, und die Frauen verbün den. Zwei entrechtete Minderheiten, zwei ausgebeutete, unterdrü ckte Gruppen in dieser machistischen, patriarchalischen Gesellschaft. Und die Auslä nder, das bin ich, und die Frauen, das ist Frau Wagner. Und Sie«, er stach seinen Finger wieder in Richtung Brigitte, »Sie sind das Bün dnis zwischen uns. Warum arbeiten Sie nicht mit Tews zusammen? Frauenstü ck und Auslä nderstü ck. Die einen helfen den anderen. Tews Meute kann bei Ihnen Statisterie spielen und Sie bei den Public Relations unterstü tzen. Und Sie bringen ihnen ein biû-

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chen das Handwerkszeug bei. Aber demonstrieren tun sie gemeinsam.«

»Wofü r?« wollte Brigitte wissen. »Oder wogegen?«

Kurtz lehnte sich zurü ck. »Tja, das ist ein entscheidender Unterschied. Wogegen ist immer besser.«

»Also wogegen?« wiederholte sie.

»Das fragen Sie noch? Nach dem, was Sie erzä hlt haben? Gegen Frauenunterdrü ckung, gegen sexuelle Belä stigung am Studienplatz. Malt schon mal Plakate!« wandte er sich an Tews, »Auslä n- der gegen das Patriarchat.«

»Aber die Tü rken sind die schlimmsten Machos«, gab Tews zu bedenken. Kurtz lieû nichts mehr gelten. Er war jetzt in seinem Element. Er war ein Veteran der Revolutionskriege, und fü r ihn waren Begriffe Regimenter, und Ideen waren Divisionen, die man richtig einsetzen muûte. Er lieû sie aufmarschieren, um zu sehen, wo sie die gröû te Wirkung erzielten. Dabei galt es, mö glichst viel vom ideologischen Gelä nde zu besetzen. Wer hier die strategischen Punkte wie Antifaschismus, Schutz der Natur, Demokratie, Chancengleichheit, humane Gesellschaft und Frieden eroberte, der drä ngte den Gegner in die faschistischen Sü mpfe der antidemokratischen Kriegshetze und Naturzerstö rung, in denen man nur noch untergehen konnte. Und seit dem Hö hepunkt der Revolutionskriege waren zwei semantische Felder dazugekommen, die die ermü dete Kampfeslust wieder beflüg elten: multikulturelle Gesellschaft und Frauenemanzipation. Die Gegner waren Nationalisten und Machos. Und waren die nicht wirklich letztlich dasselbe? fragte Kurtz und blickte in die Runde. Waren nicht beide militaristisch und phallokratisch? Waren nicht Auslä nderfeinde auch Frauenfeinde? Und waren nicht Frauen die friedlicheren Menschen und somit die natü rlichen Verbün deten der unterdrü ckten Auslä nder? Und war nationale Homogenitä t nicht eine typische chauvinistische Idee, bei der es nur um die Herrschaft des Patriarchats ging, das alles unterwarf? Reprä sentierten nicht dagegen die Frauen immer schon das Prinzip der Verschiedenheit und der To-

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leranz? Hieû Feminismus nicht schon an sich multikulturelle Buntheit? Gehö rte nicht dazu der Garten des Polytheismus, wä h- rend erst die Mä nner die Wü ste des Monotheismus hervorgebracht hatten?

»Das solltest du aber unseren tü rkischen Freunden lieber nicht sagen«, lachte Tews.

Kurtz war irritiert. Er war aus dem Tritt geraten.

»Scheiûegal«,

sagte er, »wir

machen

eine Demo.« Mit der

Krü cke malte

er die Aufschrift der Transparente in die Luft.

»-AUSLÄ NDER

UNTERSTÜ TZEN

FRAUEN¬,

-GEGEN VERTUSCHUNG

VON FRAUENBELÄ STIGUNG IN DER UNIVERSITÄ T¬.«

7

Martin Sommer blickte auf das leere Blatt Umweltpapier auf seinem Schreibtisch. Es war so fahl wie der Hamburger Himmel hinter seinem Fenster, und es war so leer wie sein Hirn. Zum hundertsten Mal stand er von seinem Schreibtisch auf, ging am Wandkalender vorbei, ü berzeugte sich, daû es immer noch Montag war, klemmte sich mit Rü cken und angezogenen Beinen lä ngs auf den breiten Fenstersims, so daû er links aus dem Fenster blickte, wä h- rend er rechts zum Zimmer hin den schweren Vorhang vorzog. Eine Weile saû er so zwischen dem dunklen Stoff und der durchsichtigen Fensterscheibe und suchte die Welt da drauûen nach einem Zeichen ab. Aber die Welt da drauûen bestand aus der kahlen Brandmauer gegenü ber und dem leeren Himmel ü ber ihr. Nachdem er diese immense Leere zum hundertsten Mal wieder durchgearbeitet hatte, schob er den Vorhang beiseite und kehrte an seinen Schreibtisch zurü ck, um zu prü fen, ob sein leeres Blatt Umweltpapier sich inzwischen verä ndert hatte. Die geringste Spur einer Einwirkung hä tte ihm genüg t. Ein Fliegendreck. Ein vorher nicht bemerktes Wasserzeichen. Alles wä re eine Botschaft gewesen, eine Nachricht von irgendwoher. Aber seit Wochen war das

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Blatt vö llig unverä ndert geblieben. Das einzige, was sich in Martins Zimmer verä nderte, waren die Tage auf dem Kalender, die er jeden Morgen durchstrich. Ü ber alles andere, die Berge von Bü - chern und Karteikarten in den Regalen und auf dem Fuûboden, die alte Schreibmaschine, den vergammelten Sä ulenkaktus, die alte Reisetruhe mit seiner Wä sche, die kleine Skulptur mit seinem Sternzeichen »Zwillinge«, die Susanne ihm geschenkt hatte, ü ber sie alle hatte sich wie eine sanfte Hand der Staub gesenkt. Martin starrte auf das leere Blatt. Er hä tte es gegen ein anderes leeres Blatt austauschen kö nnen. Er hatte noch Hunderte von der gleichen Sorte in einem Stoû direkt daneben liegen. Aber das hä tte nichts geä ndert. All diese Blä tter warteten noch darauf, von Martins Hand mit einer Magisterarbeit ü ber das Thema »Sinn und Bedeutung: Zur Rolle der phä nomenalistischen Semantik in der Kunsttheorie von Nelson Goodman« beschrieben zu werden. Aber dazu muûte Martin erstmal das erste Blatt beschreiben. Er muûte die gleichfö rmige Fahlheit dieser Wü ste entschlossen mit einer graphischen Spur markieren. Er muûte diese bleierne Stille mit einem ersten ursprüng lichen Laut zerteilen und so eine Form schaffen, die weiterwachsen konnte. Doch dazu brauchte Martin einen kleinen Hinweis, der ihm einen Grund gab, wenigstens die Spur eines Grundes, es so zu machen und nicht anders. Wo war dieser Grund? Er schaute intensiv auf das Blatt. War da vielleicht nicht doch ein Wä sserzeichen? Nein, es war nur die grobe Maserung des Papiers. Welcher Dä mon hatte ihn auch nur dazu getrieben, seine Magisterarbeit bei Hahn zu schreiben? Jeder wuûte doch, daû das ein scharfer Hund von einem Theoretiker war. Und als er ihm auf seinem fleckigen Besuchersofa in seinem Bü ro gegenü bergesessen hatte, warum hatte er da nicht protestiert, als ihm Hahn mit fun-

kelnden

Brillenglä sern

dieses wahnsinnige Thema

aufs

Auge

drü ckte?

Ganz unten

am Grunde der Schutthalde

seines

Ichs

wuûte Martin, warum: Er wollte zu den theoretischen Assen gehö ren, die sich um Hahn sammelten. Er wollte im Drachenblut ihrer Hochnä sigkeit baden und sich eine intellektuelle Panzerhaut

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zulegen, um den Feuilletonredakteuren der ZEIT zu imponieren, Denn wie alle Germanisten trä umte Martin davon, gleich nach dem Examen bei der ZEIT einzusteigen. Deshalb hatte er schon im vierten Semester ein Volontariat beim Abendblatt absolviert und seitdem immer mal wieder kleinere Reportagen geschrieben. Seine Spezialitä t waren Berichte ü ber Ausstellungen, Antiquitä tenmessen und Kunstauktionen, denn auûer Germanistik studierte Martin die Nebenfäc her Geschichte und Kunstgeschichte. Diese Berichte schrieb Martin zwischen leeren Kaffeetassen in Restaurants ohne Müh e herunter. Aber da brauchte er ja auch nur zu erzä hlen, was auûen in der Welt passierte. Da gab es lebendige Leute und hollä ndische Bilder und gesalzene Preise und spannende Versteigerungen bei Sotheby's und Schlü ter und Kenzia und die Vernissa - gen bei Wieners, die die Sehkraft mit teurem Wein befeuerten, so daû die Farben der Bilder um so intensiver leuchteten. Aber die phä nomenalistische Semantik von Nelson Goodman gab es nur in Form von Texten in Bü chern und Begriffen im Kopf. Die Bü cher lagen seit Monaten im ganzen Zimmer verstreut. Sie trugen Titel wie »The Concept of Mind«, »Sprachen der Kunst«, »Semantique structurale«, »The Structure of Appearance«, »Word and Object«, »Deutung und Notwendigkeit«, »Extensionale Semantik«, »Intension und Referenzsemantik«, »The Tyranny of Words«. Martin las sie zum hundertsten Mal. Er tat es, obwohl sein Hirn dabei implodierte. Es stü rzte in sich zusammen zu einem strukturlosen Haufen konturloser Brö sel, in dem keine Form mehr haften blieb. Intension, Referenz, meaning, Sinn, Bedeutung Ð wenn er ü ber diese Begriffe nachdachte, erhob sich in ihm ein Wü stensturm und begrub die Welt unter Sand. Wenn er die Unterschiede zwischen Referenz und Denotation, Interpretationsregeln und Anwendungsregeln oder diametralen und orthogonalen Oppositionen je geahnt hatte, waren sie dann wieder verschü ttet. Martin verfiel dann in einen desparaten Stupor, in eine lä hmende Verzweiflung, in der auch der letzte Unterschied zwischen der Auûenwelt und dem Innern seines Schä delssich in graue Indifferenz auf-

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lö ste. Er muûte sich dann eingestehen, daû er von phä nomenalistischer Semantik keinen Schimmer hatte und gar nicht wuûte, was diese Begriffe bedeuteten. Warum hatte er sich bloû nicht ein nettes, saftiges Thema geben lassen, wie »Heines -Bä der von Lucca¬ zwischen Assimilation und Protest«, oder Ð noch solider Ð »Die journalistischen Schriften von Gustav Freytag«? Dann wä re er lä ngst fertig. So aber hatte er nur das Deckblatt fertiggestellt. Als sä uberlicher Computerausdruck lag es ganz oben auf dem Haufen Papier: »Sinn und Bedeutung: Zur Rolle der phä nomenalistischen Semantik in der Kunsttheorie von Nelson Goodman. Wissenschaftliche Hausarbeit zur Erlangung des akademischen Grades eines Magister Artium der Universitä t Hamburg, vorgelegt von Martin Sommer aus Kamen«. Martin spü rte, wie sich beim Anblick des Titels sein Magen zusammenkrampfte. Die Frist war abgelaufen, und heute nachmittag muûte er im Oberseminar von Hahn daraus vortragen. Natü rlich hä tte er rechtzeitig sagen kö n- nen, er kä me mit dem Thema nicht zurecht. Aber in solchen Dingen war Martin ein Aristokrat des Geistes. Statt seine kleinen Sorgen herauszuposaunen und sich helfen zu lassen, lebte er auf Kredit. Er hob Vorschü sse von seinem Image-Konto ab. Und er hatte durchaus ein Image als Kenner der Theorieszene. Es beruhte aber

nur auf seiner Fä higkeit zur Mimikry. Manchmal war

das fast

schon ein Zwang. Wenn er jemandem zehn Minuten

zugehö rt

hatte, begann er im selben Duktus wiederzugeben, was dieser vor zehn Minuten selbst gesagt hatte, und stieû dabei zu seinem Erstaunen meist auf erfreutes Interesse. Die selbstverliebten Vielredner merkten offenbar nicht, daû sie in einen Spiegel schauten, und waren nur zu erfreut, daû jemand das gleiche sagte wie sie. So hatte er auch Hahn hingerissen. »Wir brauchen eine extensionale Semantik«, hatte er im Seminar verkün det, nachdem Hahn am Anfang der Stunde gefordert hatte: »Was wir brauchen, ist eine extensionale Semantik.« Seitdem hielt Hahn ihn fü r einen Star der modelltheoretischen Semantik. Also hatte Martin auf Hahns Frage nach seiner Arbeit stets geantwortet, es gä be keine Pro-

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bleme. Er mache präc htige Fortschritte. Sie sei kurz vor dem Ende. Sie sei praktisch schon fertiggestellt. Er wü rde ü bermorgen abgeben. Und als er dann gefragt wurde, ob er fü r heute vortragen kö nne, hatte er nonchalant gesagt: »Kein Problem, tue ich gerne.« »Wir freuen uns drauf«, hatte Hahn geantwortet und ihm einen freundschaftlichen Klaps auf den Oberarm gegeben. Das bedeutete fü r ihn soviel wie ein theoretischer Ritterschlag.

Als Martin Sommer den Raum 451 im Germanistischen Seminar betrat, in dem das Oberseminar von Professor Hahn tagte, war er dem Irrsinn nahe. Der Weg von seiner Wohnung in Eimsbü ttel bis zum Hauptgebä ude der Universitä t hatte er wie betä ubt zurü ckgelegt. Die Gerä usche der Stadt waren gedä mpft, und die Farben waren erloschen. Im weiûen Feld seiner Indifferenz hatte Martin eine unsichtbare Linie ü berquert. Er kam sich vor, als ob er nach einem Abschied noch einmal zurü ckblicke, um die Leere zu besichtigen, die er selbst hinterlassen hatte.

Die kleine, erlesene Mannschaft in Hahns Oberseminar war bereits vollzä hlig versammelt. Lonitz, das Alpha-Tier, und Beate, seine Partnerin in Theoriekenntnis, nickten ihm freundlich zu. Sie hatten den zentralen Platz an der Tü r genau gegenü ber Hahn freigelassen, wo die Referenten immer saûen. Martin stellte seine Tasche neben den Stuhl, setzte sich und packte den groûen Berg Papierbö gen mit dem fertigen Deckblatt vor sich auf den Tisch. »Donnerwetter, das ist aber ein Magnum Opus!« entfuhr es Lonitz, als er die ziegelsteindicke Masse Papier bemerkte. Und dann kam Hahn hereingetrottet, bebrillt und mit einer Frisur wie eine Mü tze, blickte sich um, bemerkte, daû Martin den Stuhl des Referenten besetzt hatte, läc helte und setzte sich.

»Guten Tag, meine Damen und Herren«, begann er. »Wir haben beim letzten Mal von Frau Karkosch gehö rt« Ð er läc helte der

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Referentin der letzten Stunde zu, und sie schaute bedeutend zurü ck Ð, »daû wir zwischen inhaltlichen Redeweisen der traditionellen Erkenntnistheorie und den formalen Redeweisen der modernen Theorie unterscheiden. Es hat sich herausgestellt, daû das von Vorteil ist, wenn wir nicht Urteile und Vorstellungen untersuchen, sondern sprachliche Ausdrü cke. Das ist der linguistic turn in der Wissenschaftstheorie.« Ð Neuer, jetzt neckischer Blick auf Frau Karkosch Ð »Das hö rt sich fü r uns an wie Antimetaphysik. Aber das Referat ü ber Quine von Herrn Rassmann hat gezeigt, hier wird krä ftig weiter ü ber Universalien gestritten.« Ð Wildes Nicken von Rassmann. Ð »Gibt es den Pegasus, von dem A sagt, er existiert, und B sagt, er existiert nicht?« Ð Rassmanns Augen schraubten sich in die Hö he intellektueller Ekstase, als wollte er sagen: Jetzt kommt's! Ð »Herr Rassmann hat nun mit Quine gezeigt, daû B die Kontroverse gar nicht formulieren kann. Denn dann redete er ü ber etwas, von dem er sagt, daû es es nicht gibt.« Ð Seht ihr? sagte Rassmanns Blick Ð »Als Lö sung des Problems ha-

ben Quine und Russell vorgeschlagen,

Prä dikate und logische

Ausdrü cke von Individuen-Variablen zu

trennen und damit Fra-

gen der Bedeutung und Existenzfragen auseinanderzuhalten. Das ist eine Form des Nominalismus.« Ð Natü rlich, das wuûten alle. Ð »Heute lernen wir nun einen extremen Nominalisten kennen, der wohl den interessantesten Vorschlag zur Wiederaufnahme der Diskussion gemacht hat, der in der letzten Zeit auf dem Markt war.« Ð Alle Augen richteten sich auf Martin. Seine Beine begannen unter dem Tisch unbeherrscht zu zittern. Hahn sagte: »Nelson Goodman hat einfach das semiotische Dreieck vereinfacht und verbindet einen extremen Extensionalismus mit einer radikalen Referenzsemantik. Wie das aussieht, das zeigt uns heute Herr Sommer. Herr Sommer, wir alle sind furchtbar gespannt.«

Zufrieden lehnte sich Hahn zurü ck.

Martin füh lte, wie sich ein irrsinniges Grinsen auf sein Gesicht stahl und dort festsetzte. In seinem Hirn herrschte dichtes Schneegestöb er. Von weitem hö rte er sich sagen:

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»Wir sprechen von Semantik. Semantik ist die Lehre von der Bedeutung. Niemand weiû, was das ist.«

Alle läc helten aufmunternd: So war's. Das durfte man im logi - schen Empirismus nicht wissen. Das Schneegestöb er in Martins Hirn wurde dichter.

»Deshalb mach ich jetzt eine Performance.«

Seine Nerven waren wie Feuerdrä hte. Er hatte keine Ahnung, was er vorhatte. Auf den Gesichtern der Zuhö rer spiegelte sich gespannte Aufmerksamkeit. Der Teufelskerl! Eine Performance! Welch eine originelle Idee fü r ein Referat ü ber Semantik.

In Martins Schä del lö ste sich donnernd eine Lawine.

Er stand auf, auf seinen Schultern lastete das Gewicht eines Kleiderschranks. Er packte den Stoû Papier mit der einen Hand und blä tterte mit der anderen vor aller Augen die leeren Seiten auf. Auf der letzten stand in Groûbuchstaben:

ALLES IST NICHTS. Er hatte ganz vergessen, daû er das dort hingekritzelt hatte! Aber jetzt stand es da in seiner tiefen metaphysischen Rä tselhaftigkeit, wie ein Menetekel. Er sah, wie sich die Gesichter um ihn herum mit Bestü rzung bezogen. Da begrub ihn die Lawine unter sich. Er dachte nur noch, daû er jetzt tot war und daû nun gar nichts mehr zä hlte.

»Es tut mir leid, Herr Hahn, ich habe keine Arbeit ü ber Nelson Goodman. Alles, was ich fertiggebracht habe, ist das hier.«

In töd lichem Schweigen nahm er seine Tasche vom Boden, drehte sich um und ging hinaus. Auf dem Flur packte ihn die Ü belkeit mit der Gewalt einer Sturmbö e. Er rannte den Gang hinunter zur Toilette und schaffte es gerade noch in die Kabine. Mit lautem Gewü rge ü bergab er sich in das Becken.

Es dauerte fast eine Viertelstunde, bis er sich wieder erholt hatte. Dann wusch er sich das Gesicht, nahm seine Tasche, stieg ü ber die Hintertreppe des Gebä udes hinunter zum Notausgang, ü berquerte die Binderstraûe und verschwand in einer gelben Telefonzelle gegenü ber der Post. Nachdem er seine Karte in den Schlitz gesteckt hatte, wä hlte er.

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