Добавил:
Upload Опубликованный материал нарушает ваши авторские права? Сообщите нам.
Вуз: Предмет: Файл:

Der_Campus

.pdf
Скачиваний:
32
Добавлен:
24.03.2015
Размер:
2.49 Mб
Скачать

tete Bernie diese aus den Fugen geratene Inkarnation der geistigen Verelendung. Wie sollte er diesen Zombies nahebringen, was es bedeutet, eine Welt aus Sprache zu schaffen? Was ahnten sie von den sprachlichen Ligaturen und Gliederungen der Wahrnehmung, der verbalen Organisation der Sichtfelddimensionierung? Was konnten sie je begreifen von der Abgrün digkeit der Opakisie-

rungswirbel und dem blendenden

Glanz gestaffelter Kaskaden

von Oszillationsparadoxien? Bernie

blä tterte seine Themenliste

durch. Die meisten Referate waren schon vergeben.

»Die Erlebte Rede bei Flaubert. Das ist noch frei.«

Sie hatten in der letzten Sitzung die Erlebte Rede als eine Form der Bewuûtseinsdarstellung besprochen, die Flaubert im modernen Roman heimisch machte.

»Haben Sie verstanden, was das ist, die Erlebte Rede?« »Doch, irgendwie schon...«

»Dann kö nnen Sie das Thema bearbeiten. Lesen Sie dazu Wagner und Steinberg und Weinrich. Steht auf der Literaturliste.«

Sie strich sich die Haare zurü ck und nö lte: »Ich weiû nicht, ob ich da so drauf abfahre, das ist so formal. So wenig inhaltlich. So irgendwie nichts Gefüh lsmä ûiges. Wissen Sie, ich mach alles aus Gefüh l. Ich muû da irgendeine gefüh lsmä ûige Beziehung zu aufbauen zu so einem Thema.«

Bernie betrachtete seine Liste. Alle anderen Themen waren vergeben. Ach nein, er hatte ja vergessen, daû der stierköp fige Denkgestö rte gerade sein Thema zurü ckgegeben hatte.

»Gut. Dann nehmen Sie -Zolas Beteiligung an der Dreyfus-Af- faire¬.«

»An der was?«

Er blickte angewidert in ihr verhangenes Gesicht. »Sie haben noch nie von der Dreyfus-Affaire gehö rt?« Sie schü ttelte langsam den Kopf.

»Die Dreyfus-Affaire war ein Skandal, der in den neunziger Jahren...« Weiter kam er nicht, weil das Telefon klingelte. Er hatte schon oft daran gedacht, es wä hrend der Sprechstunde nach drau-

191

ûen auf die Fensterbank zu stellen oder aber einen abstellbaren Apparat zu beantragen. Die Leute riefen ihn an, gerade weil sie wuûten, daû er Sprechstunde hatte, denn dann konnten sie damit rechnen, daû er anwesend war. »Augenblick!« sagte er zu der Stu-

dentin und nahm den Hö rer ab.

 

»Ja, hier Weskamp. Ich habe gerade Sprechstunde.«

 

»Ich weiû«, hö rte Bernie die Stimme am anderen

Ende sagen;

sie gehö rte Hans Ternes, genannt »Pollux«, aus der

Pressestelle

der Universitä t. Als ein stä ndiges Mitglied der Feuerwehr war er ein Duzfreund Bernies und durfte sich freundschaftliche Freiheiten herausnehmen.

»Ich hä tte dich auch nicht gestö rt, wenn es nicht wichtig wä re. Wenn du es hö rst, hä ttest du selbst gewollt, daû ich dich stö re.«

»Mach's nicht so spannend.«

»Also, ich kriege gerade einen Anruf von so einem Journalisten, warte, wie heiût der noch gleich Ð ja, hier ist es: Sommer, Martin Sommer vom JOURNAL. Und er bittet mich um eine Stellungnahme zu diesem Fall sexueller Nö tigung. Was wir da untersuchen, und ob wir das unter den Teppich kehren. Und blablabia und so weiter.«

»Auwei, da hat die Wagner zugeschlagen.«

»Von der Wagner hat er nix gesagt. Vielmehr hat er mir aus deinem Bericht ü ber die Befragung von dieser Studentin vorgelesen. Da habe ich mich gefragt, wie kommt der an deinen Bericht?«

Bei Bernie schrillten die Alarmglocken. Die Hopfenmü ller! Die Wagner hatte die Hopfenmü ller dazu gebracht, den Bericht an die Presse zu geben. Daraus wü rde er ihr einen Strick drehen! Er wü rde sie schlachten, wie er den Rö ssner geschlachtet hatte. Und er berichtete Pollux, wie die Wagner ihn am Samstag abend noch angerufen hatte, um zu erfahren, was in dem Bericht stand, und dann damit gedroht hatte, sich hinter die Hopfenmü ller zu klemmen, als er ihr nichts sagte. »Leider hab ich die Hopfenmü ller nicht mehr erreicht, um sie zu warnen«, schloû er. Daû er es gar nicht versucht hatte, unterschlug er.

192

»Ja, aber du hast mir doch gesagt, im Bericht steht, daû an der Sache nichts dran ist. Das Mä dchen hä tte alles erfunden.«

Die Art, wie Pollux das sagte, lieû Bernie nichts Gutes ahnen.

»Ja sicher. Die ganze Sache kann man vergessen. Das ist eine Irre. Hat dieser Typ, dieser Journalist, etwas anderes erzä hlt?«

»Nach dem, was er mir am Telefon vorgelesen hat, klang das anders. -Der deutlich sichtbare Versuch, den Namen des Tä ters zu verschweigen... blablabia... Folge der tiefen Verstö rung... lä ût darauf schlieûen, daû die ursprüng liche Aussage ü ber den sexuellen Miûbrauch der Wahrheit entspricht... blablabla¬.«

»Was?« Bernie hatte gar nicht gemerkt, daû er gebrü llt hatte. Die Studentin auf dem Besucherstuhl wachte aus ihrem somnambulen Zustand auf und blickte ihn erschrocken an.

»Das ist das Gegenteil von dem, was wir festgestellt haben. Die Wagner hat die Hopfenmü ller dazu gebracht, den Bericht zu verfä lschen.«

»Na ja, aber nun steht's da drin«, stellte Pollux trocken fest. »Und ist an die Presse gegangen. Warum schreibst du auch nicht deine Berichte selbst!«

»Die Hopfenmü ller hat Protokoll gefüh rt, und ich hab sie extra mitgenommen, um eine weibliche Zeugin zu haben.«

Pollux blieb ungerüh rt. »Nun hast du ja eine. Aber was sag ich nun diesem Sommer, wenn er wieder anruft? Daû wir die Sache weiterverfolgen?«

»Wir verfolgen gar nichts weiter, Pollux, die Sache ist abgeschlossen. Statt dessen knöp f ich mir die Wagner vor. Sie hat das Vertraulichkeitsgebot verletzt. Das ist Bruch des Dienstgeheimnisses. Jetzt verpaû ich ihr einen Schlag mit dem Holzhammer.« Bernie fiel der Mann mit der Denkstö rung ein.

»So wie dem Rö ssner im Brockhaus-Fall?«

»So wie dem Rö ssner. Nach diesem Schlag wird sie Denkstö - rungen kriegen.«

»Die Wagner? Die hat jetzt schon Denkstö rungen. Das macht ihr nichts aus.«

193

»Wiedersehen, Pollux!« Bernie legte auf und starrte geistesabwesend die Studentin an, deren verhangenes Gesicht jetzt einen Widerschein von Lebendigkeit zeigte. Bernie fiel wieder ein, wor- ü ber sie zuletzt gesprochen hatten. »Lesen Sie doch gefä lligst selbst nach, was die Dreyfus-Affaire war. Und dann bearbeiten Sie das Thema oder lassen es ganz bleiben. Auf Wiedersehen, Frau...« Er hatte ihren Namen vergessen.

Die Studentin erhob sich. »Und sagen Sie drauûen, die sollten sich etwas gedulden, ich sag Bescheid, wenn's weitergeht.« Er griff zum Telefon. »Am besten sagen Sie, sie sollten zur näc hsten Sprechstunde wiederkommen.« Und wä hrend er die Nummer der Frauenbeauftragten wä hlte, murmelte die Studentin beim Hinausgehen, daû sie es echt beknackt fä nde, wenn jemand seinen Frust an anderen ausund den Macho heraushä ngen lieûe, und daû sie es noch nie abgekonnt hä tte, wenn jemand so eine Chauvi-Scheiûe abzö ge, und verschwand in der finsteren Vorhö lle des Flurs des Romanistischen Seminars.

Um achtzehn Uhr desselben Tages nutzte Martin Sommer die Tatsache, daû Frau Schell zur Toilette gegangen war, zu einem Telefonat. Sie hatten sich im Restaurant Ada neben dem Studentenreisebü ro verabredet, und Frau Schell war zu Martins Ü berraschung nicht alleine erschienen. In ihrer Begleitung war ein bulliger Kerl, den sie als Heribert Kurtz von der Abteilung »Deutsch fü r Auslä n- der« vorstellte. Martin wuûte nicht, aber er ahnte, daû sich beide unmittelbar vorher den Freuden des Geschlechtsverkehrs ü berlassen hatten, denn sie trugen denselben leichten Schimmer auf der Haut, jenes Nachglüh en, daû die intensive Sinnenfreude eine Zeitlang hinterlä ût. Sie hatten sich zu dritt an einen Ecktisch gesetzt, doch als Martin das Gespräc h auf Barbara brachte, war Kurtz verschwunden. Und als Frau Schell zur Toilette ging, wollte Martin demonstrieren, daû er als Journalist seine Zeit zu nutzen verstand,

194

und lehnte jetzt in der engen Telefonzelle am Ende des Ganges hinter der Toilette. Er wüh lte in seinem Notizbuch und wä hlte eine Nummer aus Nienburg an der Weser. Genaugenommen hatte er keine Ahnung, wo Nienburg eigentlich lag, auûer, daû es an der Weser sein muûte.

»Hallo, hallo, sprech ich mit Frau Clauditz?« Eine Frauenstimme antwortete: »Ja, hier ist Frau Clauditz. Wer ist da bitte?«

»Hier ist Martin Sommer vom JOURNAL.« »Kö nnen Sie etwas lauter sprechen?«

»Martin Sommer hier, vom JOURNAL. Das ist eine Zeitung in Hamburg.«

»Hamburg? Da studiert doch die Barbara.«

»Deshalb rufe ich Sie an, Frau Clauditz. Hat man Sie informiert, daû ihre Tochter in der psychiatrischen Klinik ist?«

Am anderen Ende herrschte Stille.

»Frau Clauditz?« Hatte sie vielleicht einen Herzanfall? »Frau Clauditz!«

»Wie bitte?«

»Ich weiû, das muû ein Schock fü r Sie sein, wenn Sie es noch nicht wuûten. Aber man hat ihre Tochter wegen eines Nervenzusammenbruchs in die psychiatrische Klinik eingeliefert.«

»Ich bin nicht die Mutter, ich bin die Tante. Wo hat man sie eingeliefert?«

»In die psychiatrische Klinik.« »Ist das nicht die Klapsmüh le?« »Nein, das ist...«

Ein gellender Ruf am andern Ende. »Hertha, Hertha, wo bist du? Barbara ist in der Klapsmüh le! Hier ist ein Herr am Telefon, der mö chte dich sprechen.« Wieder zu ihm zurü ck: »Sie kommt gleich, sie zieht sich nur eben die Stiefel aus. Sie war im Garten Unkraut jä ten. Hier ist alles ganz matschig. Hat es in Hamburg auch so geregnet?«

Dann eine etwas mildere Stimme: »Hier spricht Hertha Clauditz, was ist mit Barbara?«

195

»Sie hatte einen Nervenzusammenbruch und ist in der Psychiatrie in Eppendorf. Hat man Sie denn nicht benachrichtigt?«

»Das hat Barbara sicher nicht gewollt. Sie spricht schon seit Jahren nicht mehr mit mir.«

»Oh.« Martin war schockiert. Das hatte er nicht erwartet. Im Hintergrund erscholl die Stimme der Tante wie ein griechischer Chor. »Es ist deine Tochter, Hertha, denk dran! Deine Tochter!«

»Sei still, Luise, ich kann ja nicht verstehen, was der Herr sagt. Sind Sie der Arzt?«

»Nein, ich bin Journalist. Ich mö chte etwas ü ber Barbara schreiben.«

»Ü ber Barbara?«

»Ja. Ü ber ihre Herkunft, ihre Eltern, ihre Jugend.«

»Wir sind rechtschaffene Leute, sie hat alles gehabt, und nun dies!«

»Kö nnen Sie mir sagen, was Sie beruflich machen. Sie und Ihr Mann?«

»Warum wollen Sie das wissen?« Martin ü berging die Frage.

»Sie haben Barbara doch sicher eine gute Erziehung mitgege-

ben. Sie hat alles gekriegt, was sie brauchte, stimmt's?«

 

»Alles hat das Kind gekriegt,

alles.« Martin hö rte

einen unter-

drü ckten Schluchzer. »Das Kind

hat es gut bei uns

gehabt, das

kö nnen Sie mir glauben. Stimmt's, Luise?«

Im Hintergrund schrie Luise: »Verwö hnt hat er sie.« Von wem redeten sie jetzt?

»Das stimmt, verwö hnt hat er sie, als sie noch klein war. Die schö nsten Kleider muûten es sein, und immer schö ne Reisen. Das bildet, hat er gesagt. Dabei sind wir einfache Leute. Mein Mann war Briefträ ger. Wie lange ist Erwin jetzt schon tot, Luise? Zwö lf Jahre?«

»Elf«, schrie es im Hintergrund.

»Nein, zwö lf. Es war kurz nach Willis Hochzeit, daû er gestorben ist. Und die kleine Angelika ist jetzt genau zwö lf.«

196

»Darf ich noch eine Frage stellen, Frau Clauditz? Hatte Barbara als junges Mä dchen schon jemals Probleme mit ihrer Psyche?«

»Wie meinen Sie das?«

»Hatte sie schon mal Nervenzusammenbrü che oder... oder war durcheinander?« schloû er schwach.

»Nie. Nie. Sie war so ein liebes Mä dchen! Wir hatten so ein gutes Verhä ltnis, ein sü ûes Mä dchen war sie, und immer freundlich.«

Im Hintergrund schrie es: »Und immer ordentlich und hö flich!« »Und warum spricht sie seit Jahren nicht mehr mit Ihnen?« »Wer sind Sie?«

»Ich bin Martin Sommer vom JOURNAL.« »Sie sind nicht vom Krankenhaus?« »Nein, ich bin Journalist.«

-Klick¬ machte es, und sie hatte aufgelegt. Martin ging an die Theke, um die Telefonrechnung zu begleichen.

»Ist umsonst«, sagte der tü rkische Wirt. »Du bist Gast heute. Vielleicht mal du schreibst Artikel ü ber gutes Restaurant Ada.«

Martin streckte bestä tigend den Daumen hoch. »Wird gemacht!« sollte das heiûen. Die Geste gefiel ihm. Er wurde jetzt jemand, der etwas machte. Jetzt machte er noch das Interview mit der Schell zu Ende, und dann ging's zurü ck in die Redaktion. Als er sich umdrehte, sah er sie bereits wieder am Tisch sitzen. Eine attraktive Person fü r eine Professorin, und gut angezogen. Eher eine Art Managerin, dachte Martin, als er sich wieder setzte.

»Ich hab grad mit der Mama in Nienburg gesprochen. Die wuûte noch gar nichts davon. Na ja, jetzt weiû sie es.« Er schaute auf seine Notizen.

»Mein Gott, und wie hat sie es aufgenommen?« Frau Schell beugte sich vor.

»Das sind Gemü tsathleten; die Art Frau, die sagt: -Schieben Sie ihn unter der Tü r her¬, wenn man ihr erzä hlt, daû ihr Sohn plattgefahren wurde.« Martin lieû es klingen wie den Extrakt aus zehn Jahren Reportererfahrung. »Also, Sie sagen, sie war begabt?«

197

»Ja, sogar sehr.«

»Also hä tten Sie ihr eine Chance gegeben?« »Ja sicher, sie sollte ja die Hauptrolle spielen.«

»Aber Sie haben doch so einen rigorosen Numerus clausus?«

»Hä tte sie die Rolle gut gespielt, wä re sie in den näc hsten Jahrgang aufgenommen worden. Sie wollte ja umsatteln.«

»Wissen Sie, was sie vorher studiert hat?«

»Wenn Sie mich genau fragen, nein, Germanistik, nehme ich an.«

»Nein, Soziologie«, entgegnete Martin und schaute auf seinen Block.

»Woher wissen Sie das, waren Sie in der Klinik?«

»Nein, im Studentensekretariat. Da habe ich auch ihre Heimatadresse her.«

Sie wurden von Heribert Kurtz unterbrochen, der sich mit beträc htlicher Umstä ndlichkeit an ihrem Tisch niederlieû. Martin fiel auf, mit welcher beflissenen Dienstfertigkeit der tü rkische Wirt zu ihnen eilte und ihm die Krü cken abnahm; und als Kurtz seine schmutzige Hand auf den Oberschenkel von Frau Schell legte, die ihn nur dü mmlich anläc helte, wurde ihm klar, woran ihn Kurtz erinnerte: an einen Pascha. Ohne weitere Umstä nde schaltete er sich in das Gespräc h ein, so als ob alles bisherige nur Vorgeplä nkel gewesen wä re und es jetzt erst richtig losginge. »Sie mü s- sen mit dem Vorsitzenden des Disziplinarausschusses sprechen, der untersucht die Sache.« Er schoû seinen wurstigen Zeigefinger auf Martin ab und bestellte eine Runde Schnaps. »Hab ich schon.« Martin legte einen Ton auf, der bedeutete: »Meinen Sie, ich bin ein Anfä nger?«

»Und was sagt er?«

»Er hat gemauert. Er meinte, die Sache wä re vertraulich. Solange die Untersuchung dauert, kö nnte er nichts sagen. Aber er hat angedeutet, ich kö nnte die ganze Geschichte vergessen, es war nichts dran.«

»Siehst du?« Er wandte sich an Frau Schell. »Was habe ich dir

198

gesagt? Die wollen die Sache vertuschen!« Und fü r Martin wiederholte er: »Die wollen die Sache vertuschen! Schreiben Sie, daû die die Sache vertuschen wollen. Dann kö nnen sie es nicht mehr!«

Martin verstand nicht, was Kurtz fü r ein Interesse daran haben konnte, daû der Fall hochgespielt wurde. Bei Frau Schell hatte er dagegen eher eine gewisse Zurü ckhaltung bemerkt. Irgend etwas war ihr offenbar daran peinlich. Ü berhaupt schienen eine Menge Leute ein ganz unterschiedliches Interesse an diesem Fall zu haben. Er wandte sich wieder an Frau Schell: »Mir ist da noch ein Punkt nicht ganz klar. Bei der Befragung durch...«, er schaute auf seine Notizen, »... durch Herrn Weskamp hat Frau Clauditz ausgesagt, sie hä tte die ganze Geschichte erfunden, um die Rolle zu kriegen. Und zusammengebrochen ist sie erst dann, als Sie ihr die Rolle weggenommen haben. Jedenfalls steht es so in dem Bericht von Frau Dr. Hopfenmü ller. Das hö rt sich doch so an, als ob Sie erst den Zusammenbruch ausgelö st hä tten.«

Frau Schell warf Kurtz einen Blick zu und wandte sich dann wieder an Martin.

»Das habe ich mir auch schon gedacht, aber es sieht eben nur so aus. Die Geschichte mit der sexuellen Erpressung war nicht erfunden. Wieso sollte sie lüg en? Sie hatte die Rolle doch schon. Sie hä t- ten sie mal sehen sollen, wie sie das erzä hlte! Es gab einen richtigen Erinnerungsdurchbruch. Das konnte jeder sehen.«

Martin war fasziniert. »War das denn auf der Bühn e, mitten im Spiel?«

»Ja, das heiût, wä hrend des Beifalls. Sie hatte gerade die Vergewaltigungsszene hingelegt, da spendeten alle ganz spontan Beifall. Und wä hrend die noch klatschten, brach das in ihr durch. Jeder konnte sehen, daû sie plö tzlich von Erinnerungen ü berflutet wurde.«

»Toll.« Martin sagte das wie ein Mediziner, der einen besonders grün dlichen Leberschaden lobt. »Hat sie geweint?«

»Nein, sie hat hysterisch gelacht. Gekreischt hat sie vor Lachen, es war schlimm, sie konnte sich gar nicht wieder einkriegen. Es

199

war ungeheuer, was das Mä dchen fü r Spannungen in sich hatte. Nein«, schloû sie, »das war nicht gelogen! So kann niemand lü - gen.«

»Das ist doch klar«, mischte sich Kurtz wieder ein. »Sie will jemanden schü tzen.«

Das hatte Frau Hopfenmü ller auch gesagt.

»Aber warum tut sie das? Warum sollte sie ihren sadistischen Peiniger schü tzen?«

»Um das zu verstehen, mü ssen wir ihn erst finden.«

Wir mü ssen ihn finden! Was hatte Kurtz damit zu tun? Es war seine Geschichte, Martin Sommers. Ihm gehö rte sie ganz allein. Seine erste groûe Geschichte, und er wü rde dafü r sorgen, daû niemand anders sie sich unter den Nagel riû. Vielleicht war es jetzt besser, daû er ging, bevor dieser fettige Schmutzbold von einem Krü ppel seine wurstige Pranke auf sie legte. Martin winkte dem tü rkischen Wirt, aber der zeigte nur lachend die Zä hne. »Ist erledigt.« Martin blickte Kurtz an. Der Kerl grinste wö lfisch und zwinkerte ihm zu. »Viel Glü ck mit der Story!«

Martin dankte und ging. Ein paar Schritte weiter, die Schlü terstraûe hinunter, leuchtete der Eingang des Elysee-Hotels. Da bestieg Martin ein Taxi und lieû sich zur Redaktion fahren.

10

Der erste Mai fiel in diesem Jahr auf einen Dienstag, und an diesem Termin schloû die Universitä t zusammen mit ganz Hamburg ihre Pforten. Von der Arbeit befreit zogen alle Menschen am Tage der Arbeit ins Grün e hinaus. In endlosen Autokolonnen strö mten sie in die umliegenden Landschaften, in das Alte Land sü dlich der Elbe, die Harburger Berge und die Nordheide, in die Holsteinische Schweiz und an die Kü sten von Nordund Ostsee. Die ganz Reichen hatten sich am Montag sowieso nicht in ihren Bü ros blicken lassen und waren seit Freitag in ihren reetgedeckten Ferienhä usern

200

Соседние файлы в предмете [НЕСОРТИРОВАННОЕ]