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Der_Campus

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Gabrielle stammte aus dem Milieu des vertriebenen Landadels aus dem Osten, der nach dem Krieg alles verloren hatte. Ihr Vater, der Rittmeister, war irgendwo im 2. Punischen Krieg verschollen und sie selbst mit ihrer Mutter und ein paar hochnä sigen Schwestern in einer Flü chtlingsmansarde aufgewachsen. Doch der Familienschmuck und die Manieren waren vererbt worden. Anfangs hatte das Hanno beeindruckt. Im Einheitsbrei der Angestelltenkultur hatte ihn Gabrielle mit dem Abglanz der Belle Epoque verzaubert, wä hrend Mutter und Schwestern ihn umschmeichelten. Er war junger Assistent damals und Ð wenn auch kein Adliger Ð so doch keine schlechte Partie. Ü bler war schon, daû er wie ein Sozialist redete, und am schlimmsten war, daû er Bier zum Essen trank. Von

jeder Realitä t unkontrolliert wucherten die

Prä tentionen, bis sich

die Krautjunkermä dchen wie die Tö chter

des Zaren vorkamen.

Und allmä hlich war ihm der verkrampfte Snobismus auf die Nerven gefallen. Von der Generositä t der Noblesse Ð wenn es sie je gegeben hatte Ð war nichts ü briggeblieben. Das ganze Gehabe diente nur noch der sozialen Abgrenzung.

Doch war er nicht genauso? Die Betrachtung der U-Bahn-Insassen erfü llte ihn mit Ekel. Vor der Gewalt dieses Abscheus schmolzen alle linksliberalen Prinzipien dahin. Der Speichelfaden des Irren hatte seinen Oberschenkel erreicht, und mit der interessierten Sachlichkeit eines Menschenaffen zerrieb dieser ihn auf dem Stoff seiner Hose, wä hrend die U-Bahn ihre Hö llenfahrt fortsetzte. Er blickte verstohlen auf Gabrielle. Da bemerkte er, wie die Frau, die ihm direkt gegenü bersaû, durch ein eigenartiges Beben geschü ttelt wurde. Es war eine Riesin von geradezu ü berwä ltigender Leibesfü lle. Muûte sie sich ü bergeben? Das wü rde zu einer Sintflut füh - ren. Wieder lief das Beben durch sie hindurch. Nun versuchte sie aufzustehen. Beim zweiten Versuch schaffte sie es. Sie wuchs zu gewaltiger Hö he, wieder wurde sie von einem Zittern geschü ttelt, im selben Moment bremste der Zug, weil er in den Bahnhof einlief. Langsam wie das Schicksal fiel sie seitlich auf Hanno, wischte

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ihn vom Sitz und begrub ihn unter sich, zusammen mit all den leeren Bierdosen, Abfä llen und weggeworfenen Zeitungen, die dort auf dem Boden verstreut lagen. Hanno war erstaunt, wie weich sie sich trotz ihres gewaltigen Gewichts anfüh lte. Niemand unter den U-Bahn-Insassen regte sich, wä hrend er sich unter der Gigantin hervorarbeitete. Durch den direkten Kontakt war er der einzige, der die Schallmauer der Unverbindlichkeit durchbrochen hatte und sich zum Handeln aufgefordert füh lte. Er sprang zur offenen Wagentü r und rief dem aufsichtsfüh renden Beamten zu, daû er den Zug anhalten solle, es gä be einen Notfall. Dann befahl er dem jugendlichen Biertrinker mit den Tä towierungen:

»Los, fassen Sie mit an!«

Gehorsam packte der die Beine der Gigantin und drehte sie mit ihrem Rumpf zur Tü r. Immer noch liefen Wellen spasmischer Erschü tterungen durch ihren gewaltigen Leib. Als sie sie hochheben wollten, war sie viel zu schwer. So schleiften sie sie einfach wie einen Pferdekadaver ü ber den Boden in Richtung Wagentü r. In der Mitte der Tü r, die nach beiden Seiten hin aufging, ragte der Haltegriff vom Fuûboden herauf und lieû nur die halbe Tü rbreite frei. Sie paûte nicht durch. Sie steckte fest. Da sie den Fehler begangen hatten, den Rumpf mit den Beinen zuerst durchzuhieven, wurde nun durch ihr Gezerre das Kleid der Riesin ü ber die Hü ften bis unter die Achseln gezogen und legte einen gewaltigen Leib frei, blond wie ein Weizenfeld, durch den in regelmä ûigen Wellen die Spasmen liefen wie der Wind durchs Getreide. So lag sie halb noch im U-Bahn-Wagen und halb auf dem Bahnsteig. Die Passanten stiegen gleichgü ltig an ihr vorbei ein und aus. Der Aufsichtsbeamte starrte zu ihnen herü ber wie gelä hmt, wä hrend Hanno und der asoziale Biertrinker an der Gigantin zerrten und schoben. Plö tzlich, schlagartig und mit einem Ruck, hatten sie sie durch und wä lzten sie auf den Bahnsteig.

»Rufen Sie den Notarzt«, schrie Hanno dem Beamten zu, »und wo ist hier eine Bahre?«

Der Beamte zeigte auf die Tü r mit dem Rote-Kreuz-Zeichen in

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seinem Hä uschen, als

ob er weiter

nichts mit der Sache zu tun

hä tte. Hanno zerrte an

der Tü r. Sie

klemmte. Schlieûlich sprang

sie auf, und eine Lawine aus Plastikeimern, Schrubbern, Besen und Streugut schwappte ihm entgegen, doch eine Bahre war nicht dabei.

»Wo ist die Bahre?«

Der Beamte wies wieder stumm auf die Tü r, die Hanno gerade

geö ffnet hatte. Das verstand der Zugfüh rer der

U-Bahn offenbar

als Abfahrtssignal, denn er schloû plö tzlich die

Tü ren und setzte

die U-Bahn in Bewegung. Hanno sah nur noch die Rü cklichter. Ein Nervenschock schoû ihm in den Rü cken. Die Tasche mit dem Vortrag war in der U-Bahn neben seinen Sitz gestellt. Hoffentlich wü rde Gabrielle an sie denken. Er muûte die Riesin ihrem Schicksal ü berlassen. Ob vielleicht der Bahnbeamte durchtelefonieren konnte?

»Kö nnen Sie zu dem Zug durchtelefonieren, der gerade abgefahren ist?«

Der Beamte glotzte ihn verstä ndnislos an.

»Da ist eine wertvolle Tasche mit einem Vortrag von mir drin.« »Vortrag?«

Die Monotonie seines Berufes hatte den Mann offenbar geistig zerrü ttet.

»Nein, eine Tasche mit einer Million DM. Ich muû sie wiederhaben.«

»Wenden Sie sich an die Bahnpolizei. Da bin ich nicht zustä n- dig. Auûerdem dü rfen wir nicht mit Passagieren sprechen.«

Vielleicht nehmen sie fü r solche Jobs gleich geistig Unterbelichtete, Er konnte nichts anderes tun als beten, daû Gabrielle an seine Tasche dachte, und die näc hste U-Bahn nehmen. Als sie einlief, lag die Gigantin immer noch auf dem Bahnsteig, und die Passanten

fluteten um sie herum. Fün f Stationen

spä ter, am

Rathausmarkt,

hetzte Hanno in groûen Sprüng en die

Rolltreppe

hoch und bog

um die Marmormauer.

 

 

»Hallo, Hanno, warte mal.«

 

 

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Auch das noch. Ihm blieb heute nichts erspart. Neben ihm tauchte Norbert der Penner auf, der hier seinen Stammplatz hatte. Hanno hatte ihn glatt vergessen, sonst hä tte er den anderen U-Bahn-Ausgang genommen. In einer Stunde der Menschlichkeit hatte er ihn mal zum Bier eingeladen. Daraus waren zehn Bier geworden, und im Zuge des Besä ufnisses hatte ihm Norbert seine Lebensgeschichte erzä hlt. Als Revanche hatte Hanno ihm eine stilisierte Version seiner eigenen Geschichte erzä hlt. Norbert war ein begabter Zuhö rer, wä hrend er ein Bier nach dem anderen in sich hineinschü ttete, und so hatte Hanno mehr erzä hlt, als ihm lieb war. Nun konnte er Norberts Zutraulichkeit nicht mehr ertragen. Wenn er ihm gar nicht mehr ausweichen konnte, kaufte er sich jedesmal mit 10 DM frei. Aber das steigerte seine Popularitä t nur noch. »Hanno ist ein Gentleman«, pflegte Norbert zu sagen.

»Warte doch mal, Hanno, ich muû dir was erzä hlen.« Norbert machte alle Anstalten, ihm zur Akademie zu folgen. »Norbert, ein andermal, ich hab jetzt keine Zeit.«

Norbert hatte eine andere Beziehung zur Zeit. »Ja, aber das ist wichtig, Hanno.«

Hanno blieb stehen und blickte Norbert flehend an.

»Norbert, bitte, bleib jetzt hier stehen. Ich bin in Schwierigkeiten. Ich kann dir jetzt nicht zuhö ren.«

Damit raste er weiter. Aber das mit den Schwierigkeiten hä tte er nicht sagen sollen. Norbert holte ihn wieder ein.

»Schwierigkeiten?« keuchte er, »Was fü r Schwierigkeiten? Ich bin doch dein Freund, ich helf dir, Hanno, auf mich kannst du dich verlassen!«

Inzwischen waren sie am Jugendstilportal der Akademie angekommen. Ü ber ihnen leuchtete das golden ausgemalte Auge der Freimaurer und schaute auf sie herab. Hier hatte einmal die Loge residiert. Durch die Glastü ren konnte er die festlich gekleideten Gä ste zu den Garderoben fluten sehen. Gabrielle? Wo war Gabrielle? Er muûte sie sofort finden. Ob sie vielleicht gar nicht da war und noch an der U-Bahn auf ihn wartete? Er verwarf den Gedan-

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ken wieder, wä hrend er sich gleichzeitig hektisch mit dem Problem abmüh te, wie er Norbert loswerden konnte. Die Gä ste versammelten sich links und rechts vom Festsaal an zwei Garderoben, und oben auf der Galerie gab es noch eine dritte. Er trat durch die Glastü r und blieb unschlü ssig stehen. Hinter ihm quetschte sich Norbert in die Vorhalle. Da stakste ihm der Kollege Gün ter mit dem schlechten Mundgeruch entgegen. Er hatte die Angewohnheit, ihm Geheimnisse ins Ohr zu flü stern, die keine waren, und kam ihm deshalb immer zu nahe. Doch jetzt blieb er plö tzlich stehen, wä hrend sein Läc heln abstü rzte:

»Mein Gott, Hackmann, was ist Ihnen denn passiert?«

Hanno verstand nicht. Meinte er vielleicht Norbert, der schmutzig und grinsend hinter ihm stand? Doch dann ging ihm auf, daû Gün ter sich auf die Kratzspuren in seinem Gesicht bezog. Er hatte sie ü ber der Aufregung mit dem Manuskript beinah vergessen.

»Ach, das sind meine Stammesnarben. Hö ren Sie, Gün ter, haben Sie vielleicht meine Frau gesehen?«

Jetzt kam er doch nä her und raunte ihm anzüg lich ins Ohr:

»Sie haben wohl Streit mit ihr, was? Na ja, Civil Society ist Ihr Spezialgebiet. Ich freue mich schon auf den Vortrag.«

Er verschwand in der Menge.

Hyä ne! Aber Hanno hatte keine Zeit, die Gemeinheit der Bemerkung auszukosten, denn auf der anderen Seite nä herte sich der Silberschopf des Akademieprä sidenten Weizmann. Ein Elektroschock durchfuhr Hanno. Wie, wenn er Weizmann sagte, er solle die Veranstaltung absagen? Oder wenn er ihm einfach sagte, er werde ü ber ein anderes Thema vortragen? Wie, wenn er nicht ü ber den Florentiner Republikanismus und die Tradition der Civil Society sprechen wü rde, sondern ü ber den maroden Zustand der Universitä t? Eine Welle von republikanischem Mut quoll in ihm hoch, der ihm angst machte. Panik beschlich ihn wegen seiner eigenen verzweifelten Courage. Immer faselte er von Civil Society, warum sollte er nicht mal die Zivilcourage zeigen, die dazugehö rte?

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»Da sind Sie ja, mein Lieber.« Weizmann klopfte ihm auf den Rü cken. »Wo haben Sie denn gesteckt? Wir haben schon Ausschau nach Ihnen gehalten. Sind Sie unter die Schlagenden geraten?« ›Gott sei Dank, jokoser Ton‹, dachte Hackmann. »Die guten alten Traditionen, sie kommen alle wieder, habe ich recht?« Plö tzlich vertraulich: »Ehrlich gesagt, diese ganzen neuen Typen sind doch nichts als Neckermannprofessoren. Sie sind einer der wenigen, mein Lieber, der noch die Statur der alten Ordinarien wie Dibelius aufweist. Aber sagen Sie’s nicht weiter, sonst werde ich gekreuzigt.« Wieder klopfte er ihm auf den Rü cken. »Civil Society Ð das ist ein mutiges Thema fü r diese Feiglinge. Aber reden

Sie

nicht

zu schnell, meine

Frau

hö rt

nicht mehr so

gut.«

Da

drä ngte

sich jemand nach

vorn.

Um

Himmels willen,

Nor-

bert! Er stupste Hanno in die Seite und deutete auf Weizmann. »Macht er dir Schwierigkeiten? Soll ich ihm eine auf die Nuû geben?«

Weizmann schaute verdutzt auf Norbert.

Hannos Hirn raste. Nach einer Ewigkeit wandte er sich an Weizmann und hö rte sich sagen:

»Ich glaube, der Elektriker hat einen Fehler in der Tonanlage gefunden, den er mir zeigen will«, sprach’s und zerrte Norbert zur Seite. Da kam ihm die Idee.

»Hö r zu, Norbert: Du gehst zur linken Seite, Richtung Garderobe, und wenn du eine blonde Frau mit einem Riesenrü ckenausschnitt im schwarzen Kleid sichtest, dann sagst du ihr, sie soll sich nicht von der Stelle rüh ren, ich komme gleich. Ich gehe zur anderen Seite, und nachher treffen wir uns hier.«

Norbert legte die Hand an die imaginä re Mü tze, grü ûte wie ein Soldat, der einen Befehl entgegennimmt, drehte sich um und verschwand nach links, wä hrend Hanno sich nach rechts vorarbeitete.

Zu beiden Seiten nickte, grü ûte, winkte, scherzte, läc helte seine gelehrte Kollegenschaft und die Bildungssociety der Stadt. Da, der Rü ckenausschnitt!

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»Gabrielle!«

Sie drehte sich um.

»Mein Gott, da bist du ja. Ich hatte solche Sorge, sie wü rden dich auf der Polizei festhalten. Hier ist dein Vortrag.«

Eine Zentnerlast fiel ihm vom Herzen. Vor Erleichterung um-

armte er sie.

 

»Ich liebe dich.«

 

Die Umstehenden unterbrachen

ihre Konversation und läc hel-

ten. Einige flü sterten: »Das sind

Professor Hackmann und seine

Frau.« Fü r eine Sekunde sahen sie so aus wie ein glü ckliches Paar. Wä re da nicht der stinkende Atem des Kollegen Gün ter gewesen, der Gabrielle ins Ohr flü sterte:

»Na, wieder versö hnt?«

Hanno nahm einen Schluck Wasser. Wer ihn kannte, wuûte: Das war das Zeichen zum Endspurt. Jetzt begann die letzte Viertelstunde des Vortrags. Eingerahmt von den Buchsbä umen und Dekorationen des Festschmuckes, stand er auf dem intarsiengeschmü ckten Rostrum des historistischen Renaissance-Saales, eine schlanke Gestalt im Smoking, und lieû seine warme Stimme in Wellen gepflegter Modulation ü ber die Zuhö rer rollen. Eine halbe Stunde lang schon hatte er sie mit dem Rauschen seiner Beredsamkeit eingelullt; sie folgten ihm jetzt ü berall hin und fraûen ihm aus der Hand. Und er füh rte sie in die Zauberwä lder historischer Lebensformen, in die Hö hlensysteme vergangener Mentalitä ten und in die intellektuellen Labyrinthe bizarrer Denkmuster, bis er sie so verwirrt hatte, daû sich fü r die Dauer einer halben Stunde ihr vertrauter Alltag im Halbdunkel dieses rhetorischen Schattenreiches auflö ste und den Blick auf eine Hinterwelt freigab, in der intensive, aber opake Bedeutungen wie Edelsteine aus dem Erdinneren hervorleuchteten. Seine Zuhö rer waren in den Fä ngen ihrer Hingabebereitschaft. Sie traten aus ihren Chefbü ros, aus den Konferenzsä len und Reprä sentationsrä umen ihrer Versicherungsimperien und Bankkonsortien und wollten nun, daû die Korridore von

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den Echos der Bedeutung widerhallten. Welcher Bedeutung, war gleichgü ltig. Nur passen muûte sie zu ihrer Welt. Sie muûte sie mit Aura umhü llen, sie gleichsam doubeln durch eine zweite Welt der

Hintersinnigkeit

und Doppelböd igkeit. Geheime

Tü ren muûten

sich in der Tapete

ö ffnen und ü berraschende Zugä nge

zu neuen

Zimmerfluchten

der

Signifikanz erö ffnen. Und

Hanno

verstand

es, diese Tü ren mit der genau dosierten Geste erwarteter Ü berraschungen aufzustoûen. Das verlangte Takt, instinktives Balancegefüh l und genaue Einschä tzung des Gleichgewichts zwischen dem Zumutbaren und dem Stimulationsbedarf. Die meisten seiner Universitä tskollegen waren dazu viel zu fade; einige wenige waren brutal und grob: Die redeten dann von Unterdrü ckung, Naturausbeutung und dritter Welt, manche Dinosaurier sogar noch von der Arbeiterklasse. Hanno dagegen badete die ermü deten Gemü ter seiner Zuhö rer in Kulturtraditionen. Wä hrend ihre Kö rper bequem in den Sesseln des groûen Saals der Akademie ruhten, füh rte er ihre Seelen ü ber die Meere der Vergangenheit, in denen sich die Probleme der Gegenwart auflö sten. Und jetzt lieû er das Wunder von Florenz im 15. Jahrhundert wiedererstehen; er sprach bewegend und bewegt vom Kampf der Republik gegen die Tyrannen der Visconti von Mailand (er wuûte, die alten Honoratioren erglüh ten jetzt alle in Erinnerung an den Widerstand gegen Hitler, den geleistet zu haben sie sich inzwischen fest einbildeten) und malte die Geburt eines neuen Konzepts der Staatsverfassung so leuchtend aus wie Botticelli die Geburt der Venus. Das Schiff seiner Rhetorik flog mit vollen Segeln ü ber die Wasser. Er stand am Steuer und schaute auf die See der Semantik. Die andäc htigen Gesichter vor ihm zerflossen zu den Schaumkronen der Wellen, die sein Geist durchteilte. Ü ber ihm wö lbte sich der Abendhimmel der Geistesgeschichte, an dem die Sterne zu funkeln begannen. Guicciardini, Leonardo, Bruni, Ficino, Machiavelli, Bacon, Shakespeare, Fludd, John Dee Ð das war der Punkt, an dem er sich selbst und seine Zuhö rer in einen Rausch geredet hatte... er beschwor jetzt geradezu die Geister der Vergangenheit, sie alle das Staunen

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zu lehren ü ber das Wunder der Geburt der Demokratie aus dem Geiste der Paradoxie... Permanenz des Konflikts und gemischte Verfassung... Bü rgerhumanismus und Engagement... Dreiheit der Stä nde und Einheit des Gemeinwesens... Drei und ein Viertes Ð eine zwingende Ordnungsvorstellung des wilden Denkens Europas... der Vielheit der Drei wird ein Viertes als Prinzip der Einheit hinzugesellt... literarische Kaballistik... jetzt muûte er dick auftragen: Wie hieûen die drei Musketiere bei Dumas? Athos, Porthos und Aramis. Sie reprä sentierten die drei Stä nde Adel, Klerus und Bü rgertum, aber sie genüg en nicht. Gä be es nur sie, wü rde die Gesellschaft zerfallen. Deshalb füg t Dumas ihnen einen vierten hinzu: D'Artagnan, das Prinzip ihrer Einheit. Einer fü r alle und alle fü r einen, heiût dieses Prinzip. Das ist die literarische Darstellung des Engagements, meine Damen und Herren! So wie die Trinitä t der klassischen Fakultä ten Jura, Medizin und Theologie durch die vierte vereinigt wird, die Philosophie (das paûte sowohl den Reaktionä ren als auch den leninistischen Revolutionä ren...). Auch Marxens welthistorische Mission fü r den vierten Stand, die Entfremdung der anderen drei aufzuheben, verdankt sich diesem Muster. Das stand zwar im Manuskript, aber er lieû es lieber weg. Kant war sicherer: »Auch das trinitarische Schema der Kantschen Fragen ›Was soll ich tun?‹ ›Was kann ich wissen?‹ ›Was darf ich hoffen?‹ wird in der vierten Frage zur Einheit gebracht: ›Was ist der Mensch?‹ « Die Segel seiner rhetorischen Caravelle blä hten sich. Er sprach ü ber den Wiederentdecker des politischen Humanismus, Hans Baron, und seine Flucht vor den Nazis ins amerikanische Exil. Ü ber das Rosenkreuzertum der Nova Atlantis. Ü ber Harringtons Demokratie-Utopie »Oceana«. Ü ber die vier Tempe-

ramente und die

Vierstimmigkeit

des vollendeten

Gleichklangs,

ü ber Quadrivium und Trivium, und er war gerade

beim

vierfa-

chen Schriftsinn,

da wurde ihm

plö tzlich bewuût,

was

ihn die

ganze Zeit schon irritiert hatte: Die Gestalt neben Gabrielle in der fün ften Reihe, das war ja Babsi. Die ruhigen Strö me seines Hirns brachen sich und bildeten unruhige Wirbel. Was, zum Teufel,

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trieb sie hier? Wie war sie ü berhaupt hereingekommen? Er hatte sie erst gar nicht erkannt, denn sonst trug sie das Gammel-Outfit studentischer Alltagskluft. Jetzt aber hatte sie sich in eine helle Affaire eleganten Zuschnitts geworfen. Wieso saû sie ausgerechnet neben Gabrielle? Die Wirbel wurden tiefer, wä hrend sein Vortrag weiterdrö hnte. Hatte sie seiner Frau etwas verraten? Wollte sie drohen? Die Idee schoû ihm durch den Kopf, daû sich die beiden hinter seinem Rü cken schon lä ngst verstä ndigt hatten. Beide sahen merkwü rdig friedlich und aufmerksam aus. Wahrscheinlich hatten sie noch gar nicht miteinander gesprochen. Sicher waren sie zufä llig nebeneinandergeraten. Aber nach dem Ende des Vertrags wü rden beide gleichzeitig auf ihn zukommen. Dabei wü rde ihn Babsi unter dem Deckmantel der Begeisterung umarmen, und Gabrielle wü rde mit der untrüg lichen Sicherheit ihres Instinkts sofort alles erraten. Er durfte Babsi keine Gelegenheit geben, ihn in Gegenwart von Gabrielle anzusprechen. Sein Vortrag rauschte dem Ende zu. Ob die Zuhö rer seine Verwirrung bemerkt hatten? Gabrielle sicher. Sie bemerkte alle seine Schwäc hen. Sie war darauf spezialisiert, sie auszunutzen. Wenn sie bö se war, wurde sie intelligenter, als es ihrer Natur entsprach. Langsam fing er sich wieder. Seine Sä tze begannen ihm wieder verstä ndlich zu werden, und am Ende stand er wieder am Steuer und lief mit vollen Segeln triumphal in den Hafen ein: »Porthos, Athos und Aramis, jeder an seinem Platz, und doch jeder von uns ein D'Artagnan: Einer fü r alle und alle fü r einen. Dieses politische Vermäc htnis des Bü rgerhumanismus von Florenz ist das Herz, das den Blutkreislauf unserer Demokratie in Bewegung setzte. Lassen Sie uns Musketiere sein, meine Damen und Herren, Musketiere nicht mehr im Dienste des Kö nigs, sondern im Dienste der Demokratie!« Ein leichtes Nikken, und der Beifall brandete los. Er hatte es wieder geschafft, der Hohepriester der Semantik. Er hatte den Kelch gehoben, und der Gott war erschienen. Er war ein Olympier. Jetzt muûte sein Gesicht die Andeutung eines Tizian-Läc helns zeigen und seine Augenlider mit einem flü chtigen Senken dem Publikum seine Dank-

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