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Text 6. Zwiespalt ist unser nationalcharakter
Romantik ist allerdings „eine deutsche Affäre“, denn nirgends ist Ironie so nötig und in der Geschichte so gegenwärtig, wie bei uns!
Der hervorragende Zug im deutschen Nationalcharakter ist, spätestens seit dem dreißigjährigen Krieg, seine Zerrissenheit. Was ‘das Deutsche’ sei, war daher immer umstritten. Was hat nicht alles schon – und mit demselben Recht! – als „typisch deutsch“ gegolten: Pedanterie und Überschwang, Plumpheit und Poesie, Innerlichkeit und Aggression, gemütliches Selbstgefallen und himmelstürmender Größenwahn, Tiefsinn und Technik, Dumpfheit und Dialektik, Romantik und Realpolitik, der gottergebene Fleiß des Ackerviehs ebenso wie faustisches Genie; Beamtendünkel und versonnene Philosophen, Kunst und Ursprung, Dämon und Philister; Weltanschauung und Schrebergarten, Todesverachtung und Vollwertkost. Aber alles gründlich!
Gegensätze gibt es wohl auch bei den andern. Doch als typisch wird dort jeweils nur eins von beiden gelten. Bloß für uns sind die zwei Extreme immer gleich-charakteristisch: „Dass der Deutsche doch alles zum Äußersten treibet / Für Natur und Vernunft selbst, die nüchterne, schwärmt!“ heißt es in Goethes Zahmen Xenien, und die zwei Seelen, ach, in seiner Brust kann ein Deutscher gar nicht mehr nennen, ohne dass es abgedroschen klingt. ‘Das Deutsche’ ist immer auch… das Gegenteil; seinem Wesen nach offenbar unbestimmt, aber das mit aller Schärfe.
Die anderen großen Nationen schauen sich selbst in einem lebendigen verbindlichen Menschenbild an, in dessen charakteristischen Zügen die Spuren der gemeinsamen Geschichte lesbar sind. Der englische gentleman personifiziert die historische Vereinigung von Adel und Großbürgertum zur typisch britischen Oligarchie, im französischen citoyen verbinden sich der plebejische Stolz des Sansculotten mit römischer Staatsvergötzung, der amerikanische pioneer vereinigt den beengten Blick auf den nächstliegenden Vorteil mit einer kontinentalen Weite des Horizonts. Die tausendfach zersplitterten Deutschen haben als Nationaltype lediglich den Michel hervorgebracht, und zu ihrem legitimen Repräsentanten stieg er eben nach dem dreißigjährigen Krieg auf! Michel ist das anschauliche Symbol für die Verspätung der deutschen Nationwerdung. Er verkörpert die Selbstverachtung und das Selbstmitleid der Deutschen, er ist eine Negativfigur, derer man sich schämen muss.
Kein Wunder! Denn die Bildung eines Volkes zur Nation ist Sache eines um seinen freien Inneren Markt siegreich kämpfenden Bürgertums. Es waren aber die deutschen Städte, die vom dreißigjährigen Krieg verwüstet und entvölkert waren. Was an Bürgertum übrig war, duckte sich ängstlich unter den Stand der Duodez-“Reichsfürsten“, denen eine deutsche Nation ein Gräuel war. Das Problem der deutschen Verspätung war das Problem unserer rachitischen Bourgeoisie. An Emanzipation war nicht zu denken, als höchstes Lebensziel konnte unser Bürger davon träumen, „bei Hofe zugelassen“ zu werden. Und wie ging das? Durch Anbiederung an das höfische Beamtentum. Und das Mittel dazu war Bildung! In den Salons, in den Theatern und den Musiksälen konnten sich deutsche Bürger „gleichrangig“ fühlen mit den Edelleuten, und – wer weiß? – vielleicht wurde man wie Goethe und Schiller sogar geadelt. Bildung war der deutsche Ersatz für bürgerliche Befreiung.
Genau 200 Jahre nach dem westfälischen Frieden hat dann die Pariser Juniinsurrektion dem Professorenparlament in der Paulskirche einen solchen Schrecken eingejagt vor der „roten“ Revolution, dass unserer Bourgeoisie nichts anderes übrig blieb, als unter Bismarck dem preußischen Leutnant die Stiefel zu küssen. Das waren unsere Nationaltypen: der preußische Leutnant und der deutsche Professor, und dazwischen – wankend – der Korpsbursche; Vater, Sohn und hl. Geist: die Dreieinigkeit des deutschen Gesamtphilisteriums.
Dagegen erwuchs vor guten hundert Jahren der Wandervogel, der zur Jugendbewegung ausuferte, zu der Jugendbewegung, die das Beiwort „deutsch“ nicht braucht, weil sie sowieso einzig war. Sie knüpfte direkt und ausdrücklich an die Romantik an, und Ironie war ihr neben der Blauen Blume – wer weiß das schon noch? – gar nicht fremd; war doch ihr Ideal das vogelfreie Fahrende Volk, „ehrlos bis unter den Boden“!
Denn katzbuckelnde Spießer, rüpelhafte Leutnants und dünkelhafte Akademiker waren nie das ganze Deutschland. Nur – während die kraftstrotzenden Bourgeoisien der andern Nationen ihre produktive Energie frei in ihre Tagesgeschäfte verausgaben konnten, musste das gedemütigte niedere Volk in Deutschland seinen Drang gegen sich selber kehren, musste ‘das Ich sich setzen, indem es sich sich-selbst als Nicht-Ich entgegensetzt’! Später sollte Marx spotten, bei den Deutschen fänden Revolutionen immer nur im Geiste statt. Aber immerhin – dort fanden sie statt; statter als sonst wo!
Nein, der deutsche Michel ist nicht das ganze Deutschland. Dazu gehören noch Kant und Fichte, Marx und Engels, Schopenhauer und Nietzsche – lauter, mit Verlaub, radikale Denker! Diese Radikalität ist sicher nicht für jeden Deutschen typisch geworden. Aber sie kommt doch nur bei uns vor. Nämlich immer da, wo sich deutscher Tiefsinn mit abendländischem Scharfsinn paart.
Auch der Hang zu Endlösungen stammt freilich aus dieser Mischung, er vereint Radikalität mit Pedanterie, und das nennt er gründlich. Aber da liegt der Abgrund: Er vereint! Wirft sie zusammen in einen Topf und verrührt sie zu einer trägen Masse. Sie gehören zusammen, allerdings – aber so wie Licht und Schatten, nicht als Grauton, sondern als Spannung, als Konflikt. Und das macht uns wiederum noch ein bisschen abendländischer als unsere Nachbarn.
Selbstverständlichkeit kennzeichnet nämlich nicht den Reichtum abendländischer Kultur, sondern die Fülle ihrer konkurrierenden Werte. Die reichste Kultur ist eine solche, wo die Anordnung, die Umordnung der Werte prozessierend immer wieder neu geschieht – im Meinungskampf der Öffentlichkeit. Es sind die Problematizität und der Widerstreit mannigfaltiger Gebote, die dieser Kultur ihren Tonus verleiht und dem Einzelnen die eigne Wahl, nämlich eine persönliche Bildung (da ist sie wieder!) zumutet. Das gibt es nur im Abendland, und in diesem Sinne kann man sagen, nirgends sei das Abendland abendländischer als zwischen Rhein und Oder, zwischen Baum und Borke; bei uns. Da, wo alles, was gilt, stets voll und ganz gelten will, und sich ipso facto in der Schwebe hält.
Ich sage nicht, dass jeder Deutsche zum Ironiker taugt. Aber die deutsche Kultur als Ganze, ich meine: als ganzer Strom, ist selbst ironisch. Wenigstens, wenn man sie mit Abstand betrachtet. Aber dann – ja, dann wird man selbst zum Ironiker.