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Gute Gründe, in Deutschland zu promovieren
Unter ausländischen Promovierenden werden deutsche Hochschulen immer beliebter. Denn im Wettbewerb um die klügsten Köpfe wurden in Deutschland Graduiertenschulen gegründet. Die haben sogar einen Vorzug gegenüber den USA.
Welche Rolle spielen "transgouvernementale Netzwerke" bei der Abwehr von Bioterrorismus? Diese Fragestellung will Octavio Segovia in seiner Promotionsarbeit beantworten. Es geht darum, wie Regierungen sich untereinander verständigen, um den Terrorismus, der mit Biowaffen geführt wird, zu bekämpfen. Octavio Segovia kommt aus Mexiko und promoviert seit 2010 an der "Berlin Graduate School for Transnational Studies". Für ein Graduiertenstudium in Deutschland hat er sich bewusst entschieden: "Die Menschen hier sind kritischer als in anderen Ländern. Das war für mich wichtig, denn ich wollte nicht vorgegebene Modelle einfach nur reproduzieren", sagt Segovia. Deutsch hat er in seiner Heimat gelernt – auch das hat seine Entscheidung, zum Promotionsstudium nach Deutschland zu kommen, beeinflusst.
Graduiertenschulen machen Deutschland wettbewerbsfähig
Thomas Risse, Gründer der Berliner Graduate School
So wie Octavio Segovia entscheiden sich immer mehr Promovierende aus dem Ausland für deutsche Universitäten. Ihre Zahl hat sich in den vergangenen zehn Jahren verdoppelt. 2010 haben fast 4000 ausländische Studierende in Deutschland promoviert. "In der Vergangenheit war Deutschland für Promovierende nicht so attraktiv, aber das hat sich durch die Einrichtung der Graduiertenschulen geändert", sagt Thomas Risse, Gründer der Berlin Graduate School for Transnational Studies.
Die Graduiertenschulen sind strukturierte Promotionsprogramme. Etwa 700 gibt es schon in Deutschland. Die Doktoranden besuchen im ersten Jahr Kurse und haben dann für ihr Forschungsprojekt ein ganzes Betreuungsteam mit bis zu drei Professoren. Außerdem wird der Austausch unter den Promovierenden durch gemeinsame Veranstaltungen gefördert. Hinzu kommt, dass die meisten Graduiertenschulen Stipendien vergeben. "Der Vorteil gegenüber den USA ist, dass man hier kürzer studiert", sagt Risse. Ein Graduiertenstudium dauere dort zwischen sieben und neun Jahren. "In den meisten Graduiertenschulen in Deutschland versucht man, die Promovierende innerhalb von drei bis vier Jahren zum Abschluss zu bringen", sagt Risse.
Mehr Werbung im Ausland notwendig
Doktorand Octavio Segovia
Octavio Segovia hat während eines Studienaufenthaltes in Asien zufällig von einem deutschen Professor über die Berlin Graduate School erfahren. "Obwohl es ein DAAD-Büro in meiner Stadt in Mexiko gibt, ist niemand an die Uni gekommen, um die Promotionsprogramme zu bewerben", sagt der Doktorand. Viele Studierende in Mexiko wüssten auch gar nicht, dass man in Deutschland auf Englisch studieren könnte. Um den Bekanntheitsgrad der deutschen Graduiertenschulen im Ausland zu steigern, hat der Deutsche Akademische Austauschdienst (DAAD) im vergangenen Jahr zwei Förderprogramme für Hochschulen ausgeschrieben: "Der DAAD möchte dazu beitragen, die Doktorandenausbildung in Deutschland internationaler zu gestalten", sagt Birgit Klüsener, Leiterin der DAAD-Gruppe für Internationalisierung der Forschung. Die ausländischen Promovierenden sollen einen Zugang zu strukturierten Promotionsangeboten in Deutschland bekommen. "Die Fördergelder kommen dabei in erster Linie den deutschen Hochschulen zugute, die international ausgerichtete Promotionsprogramme einrichten wollen", sagt Klüsener. Es stehen im Jahr pro Projekt 100.000 Euro zur Verfügung. Dieses Geld wird unter anderem für die Vermarktung des Promotionsprogramms im Ausland und für die Betreuung von ausländischen Doktoranden investiert. Auch die Berlin Graduate School for Transnational Studies profitiert von den Förderprogrammen des DAAD. Durch Werbung im Ausland wolle die Schule den Anteil der ausländischen Promovierenden erhöhen, sagt Thomas Risse.
Die Besten sollen nach Deutschland kommen
In diesem Jahr wurden insgesamt zehn Studenten zur Promotion an die Berlin Graduate School for Transnational Studies zugelassen. Drei davon kommen aus dem Ausland. Das Ziel sei aber, vor allem die ausländischen Promovierenden zu locken, die sonst nach Stanford, Oxford oder Berkeley gehen würden, sagt Risse. "Wir glauben nicht, dass wir in Deutschland gerade in den Sozialwissenschaften für amerikanische Doktoranden eine Alternative sind, aber ich möchte die hervorragenden Türken, Russen, Kirgisen, Usbeken, Kenianer, Mexikaner nach Deutschland holen. Da müssen wir hin."
Autor: Rayna Breuer Redaktion: Gaby Reucher
Karte 43. Leseverstehen: Aufgabe (1) Globales Lesen (742 Wörter; 5398 Zeichen) 10 Min.
Eltern zwischen Ehrgeiz und Überforderung
Wie viel Bildung braucht mein Kind? Welche Rolle spielt dabei die Erziehung zur Bildung? Diese Fragen haben zwei Studien untersucht, die neue Impulse für die Bildungsdebatte in Deutschland geben.
Klaus Hurrelmann: "Wir stecken in einer historischen wohlfahrtspolitischen Falle"
Eine gute Bildung ist entscheidende Voraussetzung für den beruflichen Erfolg eines Menschen. Das sehen 94 Prozent der Eltern in Deutschland so. Zu diesem Ergebnis kommt das renommierte Institut für Demoskopie Allensbach in seiner Studie zu Bildungsambitionen und Erziehungszielen von Eltern. Bundesweit wurden dazu rund 1200 repräsentativ ausgewählte Eltern befragt. "Das wichtigste Ergebnis der Studie ist, dass sie deutlich zeigt, wie ehrgeizig die Eltern in Deutschland sind", sagte Klaus Hurrelmann, wissenschaftlicher Begleiter der Studie und einer der führenden Bildungsforscher in Deutschland, bei der Präsentation der Ergebnisse am 11. Oktober 2011 in Berlin. Aus Jugendstudien der letzten Jahre wie der Shell-Jugendstudie wisse man, dass die Kinder und Jugendlichen äußerst ehrgeizig seien.
Bildung ist schichtenabhängig
Renate Köcher vom Institut für Demoskopie Allensbach (links)
Soweit die vermeintlich gute Nachricht. Doch es gibt auch eine schlechte Nachricht. Die Studie trägt den Titel "Zwischen Ehrgeiz und Überforderung". Viele Eltern seien überfordert, erläuterte die Allensbach-Geschäftsführerin Renate Köcher, weil sie meinten, dass nicht alle Kinder die gleichen Chancen hätten und sie selber nicht genug dagegen tun könnten. "Bildung ist in Deutschland schichtenabhängig", fasste Köcher zusammen. "Es gibt eine ganz enge Korrelation zwischen Bildungshintergrund, Elternhaus und Bildungskarriere der Kinder. Das ist unbefriedigend, weil es zeigt, dass Unterschichtkinder schlechtere Chancen haben und dies durch das Schulsystem unzureichend ausgeglichen wird."
Weil viele Eltern, besonders aus den unteren sozialen Schichten, ihren Kindern weniger helfen könnten als sie wollten, wünschten sie sich mehr staatliche Unterstützung und stärkere Erziehung in den Schulen. Doch hier stecke Deutschland in einer historischen wohlfahrtspolitischen Falle, sagte Klaus Hurrelmann: "Es ist unsere Tradition, dass die Entwicklung der Kinder, auch ihre Bildung, auf Gedeih und Verderb von den Eltern abhängig ist. Deshalb fällt es uns jetzt so schwer zu sehen, dass das keine kluge Politik ist."
Im internationalen Vergleich gibt es in Deutschland sehr hohe direkte Subventionen für die Familien, wie das Kindergeld. Öffentliche Einrichtungen wie Kindergärten und Kinderkrippen haben in Teilen der Gesellschaft ein familienfeindliches Image und werden weniger gefördert. Erziehung ist Privatsache, so lautet eine gängige Überzeugung, die sogar im Grundgesetz festgeschrieben ist. Dort heißt es in Artikel 6: "Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern."
Wunsch nach mehr Erziehung
Die durch die Studie verdeutlichten Schwachstellen im Bildungssystem zeigten, dass gesamtgesellschaftlich umgedacht werden müsse, hieß es nun in Berlin, und daraus wurden konkrete Forderungen abgeleitet: Es müsse mehr Geld für öffentliche Bildungseinrichtungen geben. Zudem solle eine bessere Kooperation zwischen Eltern und Schulen auf den Weg gebracht werden. Und Familienpolitik solle mit Bildungspolitik stärker verschränkt werden.
Zu denjenigen Eltern, die sich mehr Erziehung in der Schule wünschen, zählen viele türkische Eltern. Das hat das Institut für Allensbach in einer speziellen Stichprobe herausgefunden. Türken sind die größte Migrantengruppe in Deutschland und stehen derzeit besonders im Fokus vieler Medien, auch weil es teilweise große Integrationsprobleme gibt. Türkische Eltern können ihren Kindern, das ergab die Studie, oftmals nicht so helfen, wie sie wollten. Denn es mangele an entsprechenden Deutschkenntnissen. So entstünden besonders hohe Erwartungen an die Schulen.
Ahmet Toprak, Professor für Erziehungswissenschaften an der Fachhochschule Dortmund
Doch hier wird ein anderes Problem berührt, das die Konrad-Adenauer-Stiftung in der jüngst veröffentlichten Studie "Muslimische Kinder und Jugendliche in Deutschland" beschrieben hat. Viele türkische Eltern hätten demnach eine falsche Vorstellung von Schule und damit auch ein schwieriges Verhältnis zu Lehrern. "Das Problem besteht darin, dass beide Seiten, also Eltern und Lehrer, Wünsche haben, aber niemand von diesen Wünschen direkt weiß", sagt Ahmet Toprak, Erziehungswissenschaftler und Mitautor der Studie. "Die Schule erwartet von den Eltern, dass sie ihre Kinder vorerziehen und fertig in der Schule abgeben. Nur davon wissen die Eltern nichts und schicken ihre Kinder mit der Hoffnung in die Schule, dass die Schule sie anständig erzieht."
Wie gegensteuern?
Ungefähr ein Drittel der türkischen Eltern seien überfordert, schätzt Toprak. Gleichzeitig aber hätten sie hohe Anforderungen und wollten, dass ihre Kinder Abitur machen. Einen Lösungsweg sieht Toprak in mehr Ganztagsschulen und längerem gemeinsamen Lernen über die vierjährige Grundschule hinaus. "Wir selektieren sehr früh, und da scheiden vor allem Kinder aus ärmeren Verhältnissen und aus Migrantenfamilien aus, weil sie die Unterschiede in vier Jahre nicht kompensieren können." Deshalb müsse ernsthaft umgedacht werden, so Toprak: "Ob wir wollen oder nicht, Schule wird erziehen müssen. Das sagt unsere praktische Erfahrung."
Bildungspolitik wird in Deutschland seit zehn Jahren wieder groß geschrieben - auch weil in einer schrumpfenden Gesellschaft jeder kluge Kopf gebraucht wird. Die beiden vorgestellten Studien geben interessante Impulse für die laufende Debatte, wie Schulen in Deutschland effektiver werden könnten.
Autor: Kay-Alexander Scholz Redaktion: Svenja Üing
Karte 44. Leseverstehen: Aufgabe (1) Globales Lesen (742 Wörter; 5398 Zeichen) 10 Min.