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Remarque, Erich Maria - Arc de Triomphe

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»Haben Sie das Bein abgenommen?« fragte Jean-

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not.

Sein schmales Gesicht war blutlos und weiß wie eine alte Hauswand. Die Sommersprossen stachen so dunkel daraus hervor, als gehörten sie nicht dazu und wären mit Farbe übergesprenkelt. Der Beinstumpf lag unter einem Drahtkorb, über den die Decke gebreitet war.

»Hast du Schmerzen?« fragte Ravic.

»Ja. Im Fuß. Der Fuß tut sehr weh. Ich habe die Schwester gefragt. Der alte Drache will es mir nicht sagen.«

»Dein Bein ist amputiert«, sagte Ravic. »Über dem Knie oder unter dem Knie?«

»Zehn Zentimeter darüber.Das Knie war zerschmettert und nicht zu retten.«

»Gut«, sagte Jeannot. »Das gibt ungefähr zehn Prozent mehr bei der Versicherung.Sehr gut.Ein künstliches Bein ist ein künstliches Bein, über oder unter dem Knie. Aber fünfzehn Prozent mehr sind etwas, was man jeden Monat in die Tasche stecken kann.« Er zögerte einen Augenblick. »Besser, Sie sagen es meiner Mutter vorläufig nicht. Sehen kann sie es ja nicht mit diesem Papageienkäfig über dem Stumpf da.«

»Wir werden ihr nichts sagen, Jeannot.«

»Die Versicherung muß eine Rente fürs Leben zahlen. Das stimmt doch, nicht wahr?«

»Ich glaube.«

Das käsige Gesicht verzog sich zu einer Grimasse. »Die werden staunen. Ich bin dreizehn Jahre alt. Die werden lange zahlen müssen.Wissen Sie schon, welche Versicherung es ist?«

»Noch nicht. Aber wir haben die Nummer des Autos. Du hast sie dir ja gemerkt. Die Polizei war schon hier. Sie will dich vernehmen.Du schliefst noch heute morgen.Sie will heute abend wiederkommen.«

Jeannot dachte nach. »Zeugen«, sagte er dann. »Es ist wichtig, daß wir Zeugen haben. Haben wir welche?«

»Ich glaube, deine Mutter hat zwei Adressen. Sie hatte die Zettel in der Hand.«

Der Junge wurde unruhig.»Sie wird sie verlieren.Wenn sie sie nur nicht schon verloren hat. Sie wissen, wie alte Leute sind. Wo ist sie jetzt?«

»Deine Mutter hat die Nacht über bis heute mittag an deinem Bett gesessen. Dann haben wir sie wegschicken können. Sie wird bald wiederkommen.«

»Ho entlich hat sie sie noch. Die Polizei …« Er machte eine schwache Geste mit der abgezehrten Hand.»Gauner«, murmelte er.»Alles Gauner.Stecken mit denVersicherungen zusammen.Aber wenn man gute Zeugen hat …wann kommt sie zurück?«

»Bald. Reg dich nicht auf deswegen. Es wird schon in Ordnung sein.«

Jeannot bewegte den Mund, als kaue er an etwas. »Manchmal zahlen sie das Geld auch auf einen Schlag

aus. Als Abfindung. Statt einer Rente. Wir könnten ein Geschäft damit anfangen, Mutter und ich.«

»Ruh dich jetzt aus«, sagte Ravic. »Du kannst darüber noch immer nachdenken.«

Der Junge schüttelte den Kopf.»Doch«,sagte Ravic.»Du mußt frisch sein, wenn die Polizei kommt.«

»Ja, richtig. Was soll ich denn machen?« »Schlafen.« – »Aber dann …«

»Man wird dich schon wecken.«

»Rotes Licht. Es war bestimmt rotes Licht.« »Bestimmt. Und nun versuche, etwas zu schlafen. Da

ist eine Klingel, wenn du etwas brauchst.« »Doktor …«

Ravic drehte sich um.

»Wenn alles klappt …« Jeannot lag in seinen Kissen,und etwas wie ein Lächeln ging über sein altkluges,verkrampftes Gesicht … »Manchmal hat man doch Glück, was?«

Der Abend war feucht und warm. Zerrissene Wolken zogen niedrig über die Stadt.Vor dem Restaurant Fouquet’s waren runde Koksöfen aufgestellt. Ein paar Tische und Stühle standen darum herum. An einem Morosow. Er winkte Ravic zu. »Komm, trink was mit mir.«

Ravic setzte sich zu ihm.»Wir sitzen zuviel in Zimmern«, erklärte Morosow. »Ist dir das schon mal aufgefallen?«

»Du nicht. Du stehst ja dauernd auf der Straße vor der Scheherazade.«

»Knabe, laß deine armselige Logik. Ich bin abends eine Art zweibeiniger Tür zur Scheherazade,aber kein Mensch im Freien. Wir sitzen zuviel in Zimmern, sage ich. Wir denken zuviel in Zimmern.Wir leben zuviel in Zimmern. Wir verzweifeln zuviel in Zimmern. Kann man im Freien verzweifeln?«

»Und wie!« sagte Ravic.

»Nur weil man zuviel in Zimmern lebt.Nicht,wenn man es gewohnt ist. Man verzweifelt anständiger in einer Landschaft als in einem Zimmer-Appartement mit Küche.Auch komfortabler.Widersprich nicht!Widerspruch zeigt abendländische Enge des Geistes.Wer will schon recht haben? Ich habe heute meinen freienAbend und will das Leben spüren. Wir trinken übrigens auch zuviel in Zimmern.«

»Wir pissen auch zuviel in Zimmern.«

»Bleib mir mit deiner Ironie vom Leibe. Die Fakten des Daseins sind simpel und trivial. Erst unsere Phantasie gibt ihnen Leben. Sie macht aus den Wäschepfählen der Tatsachen Flaggenmaste der Träume. Habe ich recht?«

»Nein.«

»Selbstverständlich nicht. Will ich auch gar nicht.« »Natürlich hast du recht.«

»Gut, Bruder. Wir schlafen auch zuviel in Zimmern. Wir werden Möbelstücke. Die Steinhäuser haben unser Rückgrat gebrochen.Wir sind wandelnde Sofas,Toilettentische,Kassenschränke,Mietkontrakte,Gehaltsempfänger, Kochtöpfe und Wasserklosetts geworden.«

»Richtig. Wandelnde Parteiprogramme, Munitionsfabriken, Blindenanstalten und Irrenhäuser.«

»Unterbrich mich nicht dauernd. Trink, schweige und lebe, du Mörder mit dem Skalpell. Sieh, was aus uns geworden ist! Soviel ich weiß, hatten nur die alten Griechen Götter für das Trinken und die Lebenslust: Bacchus und Dionysos. Wir haben dafür Freud, Minderwertigkeitskomplexe und die Psychoanalyse – Angst vor zu großen Worten in der Liebe und viel zu großeWorte in der Politik. Ein trauriges Geschlecht?« Morosow blinzelte.

Ravic blinzelte. »Alter, braver Zyniker mit Träumen«, sagte er.

Morosow grinste. »Elender Romantiker ohne Illusion

– für eine kurze Zeit auf Erden Ravic genannt.«

»Für eine sehr kurze Zeit. Was Namen anbelangt, ist dieses bereits mein drittes Leben. Ist das polnischer Wodka?«

»Estnischer. Von Riga. Der beste. Schenk dir ein – und dann laß uns ruhig hier sitzen und auf die schönste Straße der Welt starren und diesen milden Abend loben und gelassen der Verzweiflung in die Schnauze spucken.«

Die Feuer in den Koksöfen knackten. Ein Mann mit einer Violine stellte sich am Rand des Bürgersteiges auf und begann »Auprès de ma blonde« zu spielen. Die Vorübergehenden stießen ihn an. Der Bogen kratzte, aber der Mann spielte weiter, als wäre er allein. Es klang dürr und leer. Die Violine schien zu frieren. Zwei Marokkaner

gingen zwischen den Tischen umher und boten Teppiche aus greller Kunstseide an.

Die Zeitungsjungen kamen mit den letzten Ausgaben vorbei. Morosow kaufte den »Paris Soir« und den »Intransigeant«. Er überflog die Überschriften und schob dann die Zeitung beiseite. »Falschmünzer«, knurrte er. »Hast du schon mal bemerkt, wie wir im Zeitalter der Falschmünzer leben?«

»Nein. Ich dachte, wir lebten im Zeitalter der Konserven.«

»Konserven? Wieso?«

Ravic zeigte auf die Zeitungen. »Wir brauchen nicht mehr zu denken. Alles ist vorgedacht, vorgekaut, vorgefühlt.Konserven.Nur aufzumachen.Dreimal am Tage ins Haus geliefert. Nichts mehr selbst zu ziehen, wachsen zu lassen, auf dem Feuer der Fragen, des Zweifels und der Sehnsucht zu kochen. Konserven.« Er grinste. »Wir leben nicht leicht, Boris. Nur billig.«

»Wir leben als Falschmünzer.« Morosow hob die Zeitungen hoch. »Sieh dir das an. Ihre Wa enfabriken bauen sie,weil sie Frieden wollen; ihre Konzentrationslager,weil sie die Wahrheit lieben; Gerechtigkeit ist der Deckmantel für jede Parteiraserei; politische Gangster sind Erlöser, und Freiheit ist das große Wort für alle Gier nach Macht. Falsches Geld! Falsches geistiges Geld! Die Lüge der Propaganda. Küchenmacchiavellismus. Der Idealismus in den Händen der Unterwelt.Wenn sie noch wenigstens

ehrlich wären …« Er knüllte die Blätter zusammen und warf sie fort.

»Wir lesen auch zuviel Zeitungen in Zimmern«, sagte Ravic.

Morosow lachte. »Natürlich. Im Freien braucht man sie, um Feuer …«

Er hielt inne. Ravic saß nicht mehr neben ihm. Er war aufgesprungen und drängte sich durch die Menge vor dem Café in der Richtung zur Avenue George V.

Morosow saß nur eine Sekunde überrascht da. Dann zog er Geld aus der Tasche, warf es in einen der Porzellanuntersätze unter den Gläsern und folgte Ravic. Er wußte nicht, was los war, aber er folgte ihm auf alle Fälle, um dazusein, wenn er ihn brauchte. Er sah keine Polizei. Auch nicht,daß ein Zivildetektiv hinter Ravic her war.Der Bürgersteig war gepackt voll von Menschen. Gut für ihn, dachte Morosow.Wenn ein Polizist ihn wiedererkannt hat, kann er leicht entwischen.Er sah ihn erst wieder,als er die Avenue GeorgeV.erreichte.DerVerkehr wechselte gerade, und die gestauten Wagenreihen schössen vorwärts. Ravic versuchte trotzdem, die Straße zu überqueren. Ein Taxi fuhr ihn fast um. Der Chau eur tobte. Morosow packte Ravic von hinten am Arm und riß ihn zurück. »Bist du verrückt?« schrie er. »Willst du Selbstmord begehen? Was ist los?«

Ravic antwortete nicht. Er starrte zur anderen Seite hinüber. Der Verkehr war sehr dicht. Wagen schob sich

an Wagen, vier Reihen tief. Es war unmöglich, durchzukommen.Ravic stand am Rande des Trottoirs,vorgebeugt und starrte hinüber.

Morosow schüttelte ihn. »Was ist los? Polizei?« »Nein.« Ravic ließ die Augen nicht von den gleitenden

Wagen.

»Was denn? Was denn, Ravic?« »Haake …«

»Was?« Morosows Augen verengten sich. »Wie sieht er aus? – Rasch!«

»Grauer Mantel …«

Der schrille Pfi des Verkehrspolizisten kam von der Mitte der Champs-Elysées her.Ravic stürzte los,zwischen den letzten Wagen hindurch. Ein dunkelgrauer Mantel

– das war alles, was er wußte. Er überquerte die Avenue George V. und die Rue de Bassano. Es gab plötzlich Dutzende von grauen Mänteln. Er fluchte und drängte sich weiter, so rasch er konnte. An der Rue de Galilée war der Verkehr gestoppt. Er überquerte sie eilig und schob sich rücksichtslos vorwärts durch die Menschenmasse, weiter die Champs-Elysées entlang. Er kam an die Rue de Presbourg,er lief über die Kreuzung weiter und stand plötzlich still: Vor ihm lag der Place de l’Etoile, riesig, verwirrend, voll Verkehr, mit Straßenmündungen nach allen Seiten. Vorbei! Hier war nichts mehr zu finden.

Er kehrte um,langsam,aufmerksam die Gesichter in der Menge immer noch beobachtend – aber die Aufregung

schlug um.Er fühlte sich plötzlich leer.Er hatte sich wieder getäuscht – oder Haake war ihm zum zweitenmal entschlüpft.Aber konnte man sich zweimal täuschen? Konnte jemand zweimal vom Erdboden verschwinden? Da waren noch die Seitenstraßen. Haake konnte abgebogen sein. Er blickte die Rue de Presbourg entlang. Wagen, Wagen, und Menschen, Menschen. Die geschäftigste Stunde des Abends. Es hatte keinen Zweck, sie noch zu durchsuchen. Wieder zu spät.

»Nichts?« fragte Morosow, der ihm entgegenkam. Ravic schüttelte den Kopf. »Ich sehe wahrscheinlich

wieder einmal Gespenster.« »Hast du ihn erkannt?«

»Ich glaubte es. Eben noch. Jetzt … ich weiß überhaupt nichts mehr.«

Morosow sah ihn an. »Es gibt viele Gesichter, die sich ähnlich sehen.«

»Ja, und manche, die man nie vergißt.«

Ravic blieb stehen.»Was willst du denn machen?« fragte Morosow.«

»Ich weiß es nicht. Was soll ich schon machen?« Morosow starrte auf die Menschenmenge. »Verdammtes Pech! Gerade um diese Zeit. Geschäfts-

schluß. Alles voll…« »Ja …«

»Und dazu noch dieses Licht! Halbdunkel. Hast du ihn genau gesehen?«

Ravic antwortete nicht.

Morosow nahm ihn am Arm. »Hör zu«, sagte er. »Weiter hier durch die Straßen und Querstraßen zu rennen, hat keinen Zweck mehr. Wenn du in einer bist, wirst du glauben, er sei gerade in der nächsten. Keine Chance. Laß uns zurückgehen zu Fouquet’s. Das ist der richtige Platz. Von da kannst du besser beobachten, als wenn du herumläufst.Wenn er zurückkommen sollte,mußt du ihn von da sehen.«

Sie setzten sich an einen Tisch,der am Rande stand und frei nach allen Seiten war. Sie saßen lange da. »Was willst du machen,wenn du ihn tre en solltest?« fragte Morosow schließlich. »Weißt du das schon?«

Ravic schüttelte den Kopf.

»Denk darüber nach. Besser, du weißt es vorher. Es hat keinen Zweck,überrascht zu werden und Dummheiten zu machen. Besonders nicht in deiner Lage. Du willst doch nicht für Jahre ins Gefängnis.«

Ravic sah auf. Er antwortete nicht. Er sah Morosow nur an.

»Mir wäre es auch egal«,sagte Morosow.»Mit mir.Aber es ist mir nicht egal mit dir.Was hättest du getan, wenn er es jetzt gewesen wäre und du ihn erwischt hättest drüben an der Ecke?«

»Ich weiß es nicht, Boris. Ich weiß es wirklich nicht.« »Du hast nichts bei dir, wie?«

»Nein.«

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