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Remarque, Erich Maria - Arc de Triomphe

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08.06.2015
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»Wenn du ihn angefallen hättest, ohne Überlegung, wäret ihr in einer Minute getrennt gewesen. Du wärest jetzt auf der Polizei, und er hätte wahrscheinlich nur ein paar blaue Flecken, das weißt du, wie?«

»Ja.« Ravic starrte auf die Straße.

Morosow dachte nach.»Du hättest höchstens versuchen können,ihn an einer Kreuzung unter die Autos zu stoßen. Aber das wäre auch unsicher gewesen. Er hätte mit ein paar Schrammen davonkommen können.«

»Ich werde ihn nicht unter ein Auto stoßen.« Ravic starrte auf die Straße.

»Das weiß ich. Ich werde es auch nicht tun.« Morosow schwieg eine Weile. »Ravic«, sagte er dann.

»Wenn er es war und wenn du ihn tri st,dann mußt du todsicher sein,das weißt du? Du hast nur eine einzige Chance.« »Ja, das weiß ich.« Ravic starrte weiter auf die Straße.

»Wenn du ihn sehen solltest, folge ihm. Nichts anderes. Folge ihm nur. Finde heraus, wo er wohnt. Weiter nichts. Alles andere kannst du später überlegen. Laß dir Zeit. Mach keinen Unsinn, hörst du?«

»Ja«, sagte Ravic abwesend und starrte auf die Straße. Ein Pistazienverkäufer kam an den Tisch. Ihm folgte ein Junge mit künstlichen Mäusen. Er ließ sie auf der Marmorplatte tanzen und auf seinem Ärmel emporlaufen. Der Geigenspieler erschien zum zweitenmal. Er spielte jetzt »Parlez moi d’amour« und trug einen Hut. Eine alte

Frau mit syphilitischer Nase bot Veilchen an.

Morosow sah auf seine Uhr. »Acht«, sagte er. »Zwecklos, weiter zu warten, Ravic. Wir sitzen schon über zwei Stunden hier.Der Mann kommt um diese Zeit nicht mehr zurück. Jeder Mensch in Frankreich ißt im Augenblick irgendwo zu Abend.«

»Geh ruhig, Boris. Wozu sollst du überhaupt mit mir hier ’rumsitzen?«

»Das hat nichts zu tun. Ich kann mit dir hier sitzen, solange wir wollen.Aber ich will nicht,daß du dich verrückt machst. Es ist sinnlos, daß du hier noch stundenlang wartest.DieWahrscheinlichkeit,ihn zu tre en,ist jetzt überall gleich. Im Gegenteil: Sie ist jetzt sogar größer in jedem Restaurant, in jedem Nachtklub, in jedem Bordell.«

»Ich weiß, Boris.«

Morosow legte seine große, behaarte Hand auf Ravics Arm.»Ravic«,sagte er.»Hör mich an.Wenn du den Mann tre en sollst, wirst du ihn tre en – und wenn nicht, dann kannst du Jahre auf ihn warten. Du weißt, was ich meine. Halte deine Augen o en – überall. Und sei auf alles vorbereitet. Aber sonst lebe so, als hättest du dich geirrrt. Wahrscheinlich hast du das auch. Das ist das einzige, was du tun kannst. Du machst dich sonst kaputt. Ich habe das auch schon gehabt. Vor ungefähr zwanzig Jahren. Glaubte alle Augenblicke, einen der Henker meines Vaters zu sehen; Halluzinationen.« Er trank sein Glas aus. »Verdammte Halluzinationen. Und jetzt komm mit mir. Wir wollen irgendwo essen gehen.«

»Geh du essen, Boris. Ich komme später.« »Willst du hier sitzen bleiben?«

»Nur noch einen Augenblick.Ich gehe dann zum Hotel. Habe da noch etwas zu tun.«

Morosow sah ihn an.Er wußte,was Ravic im Hotel wollte.Aber er wußte auch,daß er nichts mehr tun konnte.Dies ging Ravic allein an.»Gut«,sagte er.»Ich bin bei der ›Mère Marie‹.Später im ›Bubilshki‹.Ruf mich an oder komm.« Er hob seine buschigen Augenbrauen. »Und riskiere nichts. Sei kein unnötiger Held! Und kein verdammter Idiot. Schieße nur, wenn du bestimmt entkommen kannst. Dies ist kein Kinderspiel und kein Gangsterfilm.«

»Das weiß ich, Boris, sei unbesorgt.«

Ravic ging zum Hotel International und von da gleich zurück. Unterwegs kam er am Hotel Milan vorbei. Er sah auf die Uhr. Es war halb neun.

Er konnte Joan noch zu Hause tre en.

Sie kam ihm entgegen. »Ravic«, sagte sie überrascht. »Du kommst hierher?«

»Ja …«

»Du bist noch nie hiergewesen, weißt du das? Seit damals, als du mich abgeholt hast.«

Er lächelte abwesend. »Es ist wahr, Joan, wir führen ein sonderbares Leben.«

»Ja.Wie die Maulwürfe oder Fledermäuse. Oder Eulen. Wir sehen uns nur, wenn es dunkel ist.«

Sie ging mit langen, weichen Schritten im Zimmer hin und her. Sie trug einen dunkelblauen Dressing-gown, der wie der eines Mannes geschnitten und mit einem Gürtel fest um die Hüften gezogen war. Auf dem Bett lag das schwarze Abendkleid,das sie in der Scheherazade brauchte. Sie war sehr schön und unendlich weit weg.

»Mußt du nicht gehen, Joan?«

»Noch nicht.Erst in einer halben Stunde.Dies ist meine beste Zeit. Die Stunde, bevor ich fort muß. Du siehst, was ich dann habe. Ka ee und alle Zeit der Welt. Und nun bist du sogar da. Ich habe auch Calvados.«

Sie brachte die Flasche. Er nahm sie und stellte sie ungeö net auf den Tisch. Dann nahm er behutsam ihre Hände.

»Joan«, sagte er.

Das Licht in ihren Augen erlosch. Sie stand dicht vor ihm. »Sag mir nur gleich, was es ist…«

»Warum? Was soll es sein?«

»Irgend etwas. Wenn du so bist, ist es immer irgend etwas. Bist du deshalb gekommen?«

Er fühlte, daß ihre Hände von ihm wegstrebten. Sie bewegte sich nicht.Auch ihre Hände bewegten sich nicht. Es war nur, als ob in ihnen sich etwas fortzöge von ihm. »Du kannst heute abend nicht kommen,Joan.Heute nicht und vielleicht morgen und einige Tage nicht.«

»Mußt du in der Klinik bleiben?«

»Nein. Es ist etwas anderes. Ich kann nicht darüber

sprechen. Aber es ist etwas, das nichts mit dir und mir zu tun hat.«

Sie stand eine Weile regungslos. »Gut«, sagte sie dann. »Du verstehst es?«

»Nein. Aber wenn du es sagst, wird es richtig sein.« »Du bist nicht böse?«

Sie sah ihn an. »Mein Gott, Ravic«, sagte sie. »Wie könnte ich dir jemals für etwas böse sein?«

Er blickte auf. Ihm war, als hätte eine Hand sich fest auf sein Herz gelegt. Joan hatte ohne Absicht gesagt, was sie gesagt hatte, aber sie hätte nicht mehr tun können, um ihn zu tre en. Er gab nur wenig auf das, was sie in den Nächten stammelte und flüsterte; es war vergessen, wenn der Morgen grau vor dem Fenster rauchte. Er wußte, daß die Hingerissenheit in den Stunden, wenn sie neben ihm hockte oder lag,ebensoviel Hingerissenheit über sie selbst war,und er nahm es als Rausch und leuchtende Konfession der Stunde, aber nie mehr als das. Jetzt zum erstenmal, wie ein Flieger, der durch einen Riß glänzender Wolken, auf denen das Licht Verstecken spielt, unten plötzlich die Erde grün und braun und glänzend erblickt, sah er mehr. Er sah unter Hingerissenheit Hingabe, unter Rausch Gefühl,unter dem Geklirr der Worte einfaches Vertrauen.Er hatte Mißtrauen,Fragen undVerständnislosigkeit erwartet

– aber nicht dieses.Es waren immer die kleinen Dinge,die Aufschluß gaben,nie die großen.Die großen lagen zu nahe der dramatischen Geste und der Verführung zur Lüge.

Ein Raum. Ein Hotelraum. Ein paar Ko er, ein Bett, Licht, vor dem Fenster die schwarze Öde der Nacht und derVergangenheit – und ein helles Gesicht hier mit grauen Augen und hohen Brauen und dem kühnen Schwung des Haares – Leben, biegsames Leben, ihm o en zugewandt, wie ein Oleanderbusch dem Licht – da war es, da stand es, wartend, schweigend, ihm zurufend: Nimm mich! Halte mich! Hatte er nicht einmal, vor langer Zeit, gesagt: Ich werde dich schon halten?

Er stand auf. »Gute Nacht, Joan.« »Gute Nacht, Ravic.«

Er saß vor dem Café Fouquet’s.Er saß an demselben Tisch wie vorher. Er saß Stunde um Stunde da, vergraben in der Finsternis der Vergangenheit, in der nur ein einziges schwaches Licht brannte: die Ho nung auf Rache.

Man hatte ihn im August 1933 verhaftet. Er hatte zwei Freunde, die von der Gestapo gesucht wurden, vierzehn Tage bei sich verborgen gehalten und ihnen dann geholfen, zu fliehen. Einer davon hatte ihm 1917, vor Bixschoote in Flandern, das Leben gerettet und ihn, als er langsam verblutend im Niemandsland lag, unter gedecktem Maschinengewehrfeuer zurückgeholt. Der zweite war ein jüdischer Schriftsteller,den er seit Jahren kannte.Man brachte ihn zum Verhör; man wollte wissen, in welcher Richtung beide geflohen wären, was für Papiere sie hätten und wer ihnen unterwegs behilflich sein würde. Haake hatte ihn

verhört. Nach der ersten Ohnmacht hatte er versucht, Haake mit seinem Revolver zu erschießen oder ihn zu erschlagen. Er sprang in eine krachende, rote Dunkelheit hinein.Es war ein sinnloserVersuch gegen vier bewa nete, kräftige Leute gewesen. Drei Tage lang tauchte dann aus Ohnmacht, langsamem Erwachen, rasenden Schmerzen immer wieder das kühle, lächelnde Gesicht Haakes auf. Drei Tage dieselben Fragen – drei Tage derselbe Körper, zerschlagen, fast unfähig, mehr zu leiden. Und dann, am Nachmittag des dritten Tages, brachte man die Frau. Sie wußte von nichts. Man zeigte ihn ihr, damit sie aussagen solle. Sie war ein luxuriöses, schönes Geschöpf, das ein spielerisches, belangloses Leben geführt hatte. Er erwartete, daß sie schreien und zusammenbrechen würde. Sie war nicht zusammengebrochen. Sie war auf die Henker losgefahren. Sie hatte tödliche Worte gesagt.

Tödlich für sie,und sie wußte es.Haake hatte nicht mehr gelächelt. Er hatte das Verhör abgebrochen.Am nächsten Tage hatte er Ravic erklärt, was mit ihr geschehen würde im Konzentrationslager für Frauen, wenn er nicht gestehen würde.Ravic hatte nicht geantwortet.Haake hatte ihm dann erklärt, was vorher mit ihr geschehen würde. Ravic hatte nichts gestanden, weil nichts zu gestehen war. Er hatte Haake zu überzeugen versucht, daß die Frau nichts wissen konnte.Er hatte ihm gesagt,daß er sie oberflächlich kannte. Daß sie wenig mehr in seinem Dasein bedeutete als ein schönes Bild. Daß er sie nie zu irgend etwas ins

Vertrauen hätte ziehen können. Alles war wahr gewesen. Haake hatte nur gelächelt. Drei Tage später war die Frau tot. Sie hatte sich im Konzentrationslager für Frauen erhängt.Einen Tag darauf brachte man einen der Flüchtlinge wieder.Es war der jüdische Schriftsteller.Als Ravic ihn sah, kannte er ihn nicht wieder, selbst an der Stimme nicht. Es dauerte noch eineWoche unter Haakes Verhör,bis er ganz tot war. Dann kam für ihn selbst das Konzentrationslager. Das Hospital. Die Flucht aus dem Hospital.

Der Mond stand silbern über dem Arc de Triomphe. Die Laternen die Champs-Elysées hinauf wehten im Wind. Das mächtige Licht spiegelte sich in den Gläsern auf dem Tisch.Unwirklich,diese Gläser,dieser Mond,diese Straße, diese Nacht und diese Stunde,die mich anweht,fremd und vertraut, als wäre sie schon einmal dagewesen, in einem anderen Leben,auf einem anderen Stern – unwirklich diese Erinnerungen an Jahre, die vergangen sind, versunken, lebendig und tot zugleich,die nur noch in meinem Gehirn phosphoreszieren und sich zu Worten versteint haben

– und unwirklich dieses, das durch das Dunkel meiner Adern rollt, ohne Ruhe, 37,6 Grad warm, etwas salzig schmeckend,vier Liter Geheimnis undWeitertreiben,Blut, Spiegelung in Ganglienzellen, unsichtbarer Storeraum im Nichts,Gedächtnis genannt,Stern um Stern,Jahr um Jahr hochwerfend,das eine hell,das andere blutig wie der Mars über der Rue de Berry und manches düster schimmernd

und voll Flecken – der Himmel der Erinnerung,unter der die Gegenwart unruhig ihr konfuses Wesen trieb.

Das grüne Licht der Rache.Die Stadt,leise schwimmend im späten Mondlicht und dem Sausen der Automobilmotoren.

Häuserreihen,lang,endlos sich dehnend,Fensterreihen, und hinter sie gepackt Bündel von Schicksalen, straßenweit. Herzklopfen von Millionen Menschen, unaufhörliches Herzklopfen,wie von einem millionenfältigen Motor, langsam,langsam die Straße des Lebens entlang,mit jedem Klopfen einen geringen Millimeter näher dem Tode zu.

Er stand auf. Die Champs-Elysées waren fast leer. Ein paar Huren lungerten an den Ecken herum. Er ging die Straße herunter, an der Rue Pierre Charron, der Rue Marbeuf, der Rue de Marignan vorüber, bis zum Rond Point und zurück bis zum Arc de Triomphe. Er stieg über die Ketten und stand vor dem Grab des Unbekannten Soldaten. Die kleine, blaue Lampe flackerte im Schatten. Ein verwelkender Kranz lag davor. Er überquerte den Etoile und ging zu dem Bistro, vor dem er Haake zuerst gesehen zu haben glaubte. Ein paar Chau eure saßen darin. Er setzte sich an das Fenster, wo er damals gesessen hatte, und trank einen Ka ee. Die Straße draußen war leer. Die Chau eure unterhielten sich über Hitler. Sie fanden ihn lächerlich und prophezeiten ihm ein rasches Ende, wenn er sich an die Maginotlinie wagen sollte. Ravic starrte auf die Straße.Wozu sitze ich hier noch, dachte er. Ich könnte

überall in Paris sitzen: die Chance ist gleich. Er sah auf die Uhr. Es war kurz vor drei. Zu spät. Haake – wenn er es war – würde um diese Zeit nicht mehr auf der Straße herumlaufen.

Er sah draußen eine Hure herumschlendern.Sie blickte durch das Fenster hinein und ging weiter. Wenn sie zurückkommt, gehe ich, dachte er. Die Hure kam zurück. Er ging nicht.Wenn sie noch einmal wiederkommt, gehe ich bestimmt, beschloß er. Haake ist dann nicht in Paris. Die Hure kam zurück. Sie winkte ihm mit dem Kopf und ging vorüber.Er blieb sitzen.Sie kam noch einmal zurück. Er ging nicht.

Der Kellner stellte die Stühle auf den Tisch. Die Chauffeure zahlten und verließen das Bistro.Der Kellner drehte das Licht über der Theke aus. Der Raum sank in schmutzige Dämmerung. Ravic sah sich um. »Zahlen«, sagte er.

Draußen war es windiger und kälter geworden. Die Wolken zogen höher und rascher. Er kam an Joans Hotel vorbei und blieb stehen. Alle Fenster waren dunkel, bis auf eines, in dem eine Lampe hinter den Vorhängen schimmerte. Es war Joans Zimmer. Er wußte, daß sie es haßte, in ein dunkles Zimmer zu kommen. Sie hatte das Licht brennen lassen, weil sie heute nicht zu ihm kam. Er blickte auf und begri sich plötzlich nicht mehr. Wozu hatte er sie nicht sehen wollen? Die Erinnerung an jene Frau war längst verschollen; nur die Erinnerung an ihren Tod war geblieben.

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