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Der_Campus

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vom Baujerü st und verknacks mir den Fuû.« Zum Beweis hob er seinen Fuû. »Hier kö nnen Se noch sehen, wie er jeschwollen is. Ick habe immer schon matschige Knö chel vom Fuûballspielen. Den Rest muû Willi erzä hlen.«

Willi zeigte auf Hanno und begann eine Orgie des konvulsivischen Schluckens und Hechelns. »He-he-he-he er rammelt und rammelt und rammelt. Hi-hi-hi-hi ich denke, rammel nur, wir kriegen dich doch. Da-da-da-da-da sehe ich, wie-wie-wie Werner Sich den Fuû hä lt. Ge-ge-ge-gebrochen, denke ich, der me-me- me-me muû ins Krankenhaus. Und da bin ich runter vom Gerü st. Ke-ke-ke-ke Kollegen helfen geht vor.«

Hanno füh lte sich jetzt ruhig und kalt. Das Rauschen in seinem Inneren hatte sich gelegt. Er verstand sehr gut, was er hö rte. Das war ein abgesprochenes Szenario. Vier bis sechs Bauarbeiter hatten johlend auf dem Gerü st gestanden und applaudiert. Die Geschichte war ihnen eingetrichtert worden, um sie ü berhaupt zu einer Aussage zu bewegen. Hanno wuûte jetzt, man hatte ihn abschieûen wollen. Er war das Wild, das erlegt werden sollte. Die Meute war ihm die ganze Zeit auf der Spur gewesen und hatte ihn gejagt. Das hatte er nicht fü r mö glich gehalten. Er hatte die ganze Zeit geglaubt, man wä re ü ber ihn gestolpert. Nein, man hatte ihn gejagt! So muûte sich ein Hirsch füh len, der schon lange die Jagdhö rner hö rt und dem plö tzlich klar wird, sie gelten ihm. Er dachte an das, was Babsi ü ber die Pornodarstellerinnen in Sado-Filmen erzä hlt hatte: Plö tzlich erkannten sie, daû die Zerstü ckelung wirklich stattfinden sollte. Erst dieser Schreck, diese Sekunde des Erkennens wü rde dem Film den richtigen Kick geben. Er schaute sich um und sah, daû alle Fernsehkameras auf sein Gesicht zielten. Er blickte direkt hinein. Hatte er den richtigen Schreck in den Augen? Ihm fiel der Begriff wieder ein, den Babsi dafü r gebraucht hatte: Snuff movie. Er war ein Snuff-movie-Star, man wollte sich ansehen, wie er zerstü ckelt wurde. Arme Babsi, sie war vö llig unschuldig! Sie hatte eigentlich die ganze Zeit ü ber die Wahrheit gesagt. Und diese gigantische Lüg e war daraus erwachsen. Die Institution

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hatte sich dieser kleinen krummen Wahrheit bemäc htigt und hatte daraus dieses Monster gemacht. Eine gigantische, monströ se Wucherung.

Plö tzlich wurde ihm bewuût, daû Weskamp schon eine Zeitlang redete.

»... wird die Befragung am Montag um 11 Uhr hier im Saal fortgesetzt. Wir kö nnen davon ausgehen, daû wir noch am Montag vormittag das Hearing abschlieûen werden, und dann wird der Ausschuû direkt im Anschluû daran in nichtö ffentlicher Sitzung beschlieûen, ob ein Verfahren erö ffnet wird. Inzwischen danke ich den Zeugen und den Ausschuûmitgliedern. Ich danke aber auch der Presse und dem Publikum, daû sie sich an die Spielregeln gehalten haben. Damit vertage ich die Sitzung auf Montag um 11 Uhr.«

Durch das Pandä monium, das losbrach, ging Hanno wie ein Schlafwandler. Inmitten einer Traube von Reportern schritt er aus dem Saal. Von weitem sah er die Gesichter seiner Kollegen, die wie Bojen auf den Wogen der Menge tanzten. Dann wurde er aus dem Eingang des Gebä udes ins Freie gespü lt und von einer Windbö e gepackt.

2I

Als Hanno am Samstag aufwachte, war es bereits 12 Uhr Mittag. Er hatte sich eine halbe Nacht lang schlaflos auf seiner Liege herumgewä lzt. Dann war das Tageslicht in sein Arbeitszimmer gekrochen, und er muûte eingeschlafen sein. Hanno ging in die Kü - che, stellte die Kaffeemaschine an, die er gestern aus lauter Gewohnheit noch vorbereitet hatte. Dann goû er Milch ü ber einen Teller mit Cornflakes, nahm den Teller und wanderte durch die Wohnung, wä hrend er langsam die Cornflakes lö ffelte. Gabrielle war mit Sarah immer noch bei den Zitkaus. Die leere Wohnung gab ihm einen Vorgeschmack auf die Scheidung, die Gabrielle

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jetzt sicher verlangen wü rde. Ihm fiel die phantastische Erklä rung dieser Ä rztin zu Babsis Vaterverlust wieder ein. Zwar stimmte kein Wort von dem, was Babsi betraf, aber mit Bezug auf Sarah hatte sie vielleicht recht. Da schoû diese Frau einfach im Dunklen einen Schuû auf ihr Ziel ab und hatte keine Ahnung, daû sie ganz woanders ins Schwarze traf. Das Ich und die Abwehrmechanismen von Anna Freud. Anna und Sigmund und Sarah und Hanno, Vielleicht wü rde es ja ein produktiver Schmerz werden. Sarah war kein Kleinkind mehr. Eines Tages wü rde sie alles distanzieren kö nnen; sollte er ihr vielleicht einen Bericht ü ber die ganze Affaire schreiben, den er ihr spä ter geben kö nnte? Ihm fiel ein, daû er ihn ja wohl nun nicht mehr Frau Eggert diktieren konnte, denn nun wü rde der Disziplinarausschuû am Montag auf jeden Fall ein Verfahren gegen ihn erö ffnen. Das Ergebnis war vorauszusehen. Er wü rde mit seinen jetzigen Versorgungsanrechten aus der Universitä t ausgeschlossen werden: Adieu, Professor Hackmann! Er brachte den leeren Teller in die Kü che zurü ck und goû sich einen Kaffee ein. Da schrillte das Telefon. Jetzt ging es los! Das war sicher ein Reporter! Er wü rde den Hö rer neben die Gabel legen. Er lieû es klingeln. Als es nicht aufhö rte, nahm er ab. Es war Katz aus Freiburg.

»Hallo, Hanno, ich wollte dir nur sagen, daû wir hinter dir stehen!«

»Danke, Leo.«

»Das ist doch alles Unsinn, was die Zeitungen da schreiben, oder?«

»Ja.«

»Hanno, es ist mir furchtbar unangenehm, aber ich muû dir das sagen: Solange das dauert, muû deine Herausgeberschaft bei der Reihe ruhen. Das verstehst du doch?«

»Du wirfst mich hinaus?«

»Mir sind die Hä nde gebunden, Hanno, ich kann da gar nichts tun.«

»Ich verstehe, Leo. Wiedersehen.«

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»Hanno, Hanno...« Er hatte kaum aufgelegt, da klingelte es wieder. Obwohl er es nicht wollte, lieû ihn ein Reflex zum Hö rer greifen. Es war Weizmann von der Akademie.

»Eine furchtbare Geschichte, in die Sie da geraten sind, mein Lieber. Das muû ein schreckliches Miûverstä ndnis sein. Das sagt meine Frau auch. Hö ren Sie, ich werde am Montag auf der Sitzung der Akademie gezwungen sein, Ihren Ausschluû aus der Akademie zu vollziehen.«

»Obwohl das Disziplinarverfahren dann erst erö ffnet wird?« »Bevor es erö ffnet wird, mein Lieber, bevor es erö ffnet wird.

Der Beirat will, daû Sie kein Mitglied mehr sind, wenn es erö ffnet wird. Damit man nicht sagen kann: Es trifft ein Akademiemitglied. Sie wollen einfach den Namen der Akademie da heraushalten. Schreckliche Feiglinge sind das alles, ich weiû, aber mir sind die Hä nde gebunden.«

Hanno muûte lachen. Weizmann hatte dieselbe Formulierung wie Katz gebraucht.

»Geht es Ihnen gut, mein Lieber?«

»Ob ich verrü ckt werde, meinen Sie? Nein, nein, ich bin in Ordnung. Mir kam nur der Gedanke, wenn es jetzt achtzig Jahre frü - her wä re, mü ûten Sie glauben, ich hä tte schon die Pistole auf dem Sekretä r liegen.«

»Sagen Sie nicht so etwas, mein Lieber, daran dü rfen Sie gar nicht denken.«

Weizmann klang jetzt wirklich erschrocken.

»Wissen Sie, wer das letzte Mitglied war, das die Akademie ausgeschlossen hat?« fragte Hanno. »Der Physiker Goldstein. Ich be-

finde mich also in guter Gesellschaft.«

 

 

»So dü rfen Sie das nicht sehen...«

 

 

Hanno drü ckte mit dem Zeigefinger

die Kontakte nach

unten

und legte dann den Hö rer neben das Telefon.

 

Das wü rde jetzt so weitergehen. Der

Soziologenverband

wü rde

ihn ausschlieûen, die Kö lner Zeitschrift fü r Soziologie und Sozialpsychologie wü rde ihn aus dem Beirat abwä hlen, die katholische

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Bischofskonferenz wü rde die Einladung absagen, die Universitä ts-

gesellschaft

wü rde ihn ausschlieûen,

die Heinrich-Bagel-Stiftung

wü rde ihn

um seinen

Rü cktritt bitten... Es wü rde

eine richtige

Vertreibung

werden.

Aus Beirä ten,

Gesellschaften,

Verbä nden,

Akademien, Herausgebergremien wü rde ein geisterhafter Hackmann nach dem anderen aufbrechen, und zusammen wü rden sie einen ganzen Gespensterzug bilden, der bei ihm an die Tü r klopfte. Es wä re die Vertreibung der Hanno Hackmanns. Der Exodus. Die Rü ckkehr von den Fleischtöp fen der Gesellschaft. -Ein gerechtes Schicksal fü r einen Soziologen¬, dachte Hanno. Vielleicht eine Strafe. Die Gesellschaft bestrafte ihn dafü r, daû er in ihrem Inneren herumgeschnü ffelt hatte. Hanno holte sich eine zweite Tasse Kaffee und kehrte dann wieder in den Sessel neben dem Telefon zurü ck. Durch den abgelegten Hö rer hö rte er das monotone Signal der Auûenwelt. Sein Schicksal begann fü r ihn wieder sinnvoll zu werden. -Unmö glich¬, dachte er, -wie ein Arzt, der seine eigene Krankheit diagnostiziert und nicht weiû, ob er erschrecken soll, weil er krank ist, oder sich freuen, weil er weiû, wieso.¬ Soziologische Gewohnheit, der eigenen Katastrophe einen sozialen Sinn abzugewinnen. Wenn er Selbstmord begehen wü rde, kö nnte er das jedenfalls auf hohem Reflexionsniveau begrün den. Schlieûlich hatte er ü ber die Geschichte des Selbstmords geforscht. Nicht einfach so ein Abschiedsbrief mit der getippten Zeile »Ich kann nicht mehr! Ihr seid alle schuld! Bitte gebt dem Kanarienvogel regelmä ûig Wasser, er kann nichts dafü r. Viele Grü ûe, Gottfried«, sondern ein seitenlanger Artikel fü r die Kö lner Zeitschrift. Selbstreflexion der Soziologie. Paradoxie von Distanz und Teilnahme an der Gesellschaft. Zugehö rig und distanziert. Grenzgä n- ger, fremd und einheimisch. Worü ber hatte Veronika geschrieben? Teilnehmende Beobachtung und beobachtende Teilnahmslosigkeit. Wer beobachtet die Beobachter? Das tat die Gesellschaft selbst. Sie beobachtete ihn jetzt mit tausend Kameras. Der Medusenblick der Gesellschaft auf ihren Beobachter. Hatte nicht Durkheim die Soziologie mit dem Selbstmord erö ffnet? Le suicide Ð

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Selbstmord und Selbstbeobachtung der Gesellschaft durch die Soziologie Ð ein Abschiedsbrief von Hanno Hackmann. Verö ffentlicht in der Kö lner Zeitschrift fü r Soziologie und Sozialpsychologie. Vielleicht sollte er das wirklich tun! Er stellte sich vor, wie die Redaktion seine Einsendung diskutierte. »Ein bemerkenswertes Produkt«, wü rde Lachmann sagen. Aber dann mü ûte er ja wirklich Selbstmord begehen. Aber erst, wenn er die Fahnen korrigiert

hä tte. Er stellte

sich

die Schlagzeilen vor: SELBSTMORD EINES SO-

ZIOLOGEN Ð FREITOD DES SEXMONSTERS Ð

PROFESSOR

HACK-

MANN

RICHTET

SICH

SELBST. Und

in der Abendpost:

FREITOD

NACH

HEXENJAGD.

PROFESSOR

HACKMANNS

FREITOD

LÄ SST

VIELE FRAGEN OFFEN UND STELLT ANDERE NEU Ð von Gerhard

Hirschberg.

Dann hö rte er, wie die Tü ren eines Wagens zugeschlagen wurden. Gabrielle und Sarah kamen nach Hause. Der Schlü ssel drehte sich im Schloû, und durch die offene Tü r des Wohnzimmers sah er seine Frau und seine Tochter in den Hausflur treten. Als Sarah ihn sah, nahm ihr Gesicht plö tzlich denselben schmerzverzerrten Ausdruck an wie bei dem anonymen Anruf. »Du hast mich belogen, Papi!« sagte sie und rannte dann unvermittelt die Treppe hinauf in ihr Zimmer. Gabrielle lieû langsam ihren Mantel und ihre Tasche auf den Teppich des Flurs gleiten und trat in die Tü r des Wohnzimmers.

»Gabrielle...«

»Gib mir bitte keine Erklä rungen mehr, Hanno. Sie interessieren mich nicht mehr. Morgen rufe ich Dr. Leptin an. Ich werde die Scheidung einreichen. Ich nehme an, das wird dich nicht ü berraschen. Sarah kommt selbstverstä ndlich zu mir. Wir haben unterwegs schon alles besprochen.«

Er stand auf und stieg die Treppe zu Sarahs Zimmer hinauf. Auf der obersten Stufe hatte ihn Gabrielle ü berholt und versperrte ihm den Weg.

»Du lä ût Sarah in Ruhe!«

»Geh weg, Gabrielle, ich muû mit ihr reden!«

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»Du hast genug geredet. Du redest mit niemandem mehr.«

Hanno sah, wie entschlossen sie war, und er bemerkte, daû er es auch war. Ruhig sagte er:

»Wenn du nicht weggehst, Gabrielle, brauch ich Gewalt!« »Dafü r bist du ja inzwischen bekannt.«

Er packte ihr Handgelenk, aber mit erstaunlicher Kraft drehte sie ihre Arme gegen seine Daumen, so daû er loslassen muûte. Er packte sie an den Schultern und drü ckte sie gegen das Treppengelä nder. Sie trat mit den Fü ûen nach seinen Schienbeinen und fing an zu schreien. Da ging Sarahs Zimmertü r auf, und sie stü rzte sich auf sie, um sie auseinanderzureiûen.

»Hö rt auf, hö rt auf! Hö rt doch bitte, bitte auf!« Sarah hing sich an seinen Arm. Gabrielle hatte eine Hand in sein Hemd gekrallt und versuchte, mit der anderen sein Gesicht zu zerkratzen. Er riû sich los und trat einen Schritt zurü ck. Durch den Schwung der Bewegung schleuderte Sarah mit seinem Arm nach vorn und stü rzte kopfü ber die Treppe hinunter. Er spü rte noch den Schmerz von Gabrielles Nä geln in seinem Gesicht, dann sah er Sarah schon unten an der Treppe liegen. Sie rüh rte sich nicht. Er holte aus und schlug Gabrielle mit der flachen Hand ins Gesicht. Dann raste er die Treppe hinunter und füh lte den Puls an Sarahs Hals. Sie war ohnmäc htig. Er zog ihre Beine lang, drehte sie ein wenig herum und legte sie sanft auf die Seite.

»Siehst du, was du gemacht hast?« Gabrielle stand oben auf der Treppe.

»Ruf sofort den Rettungswagen«, befahl er, lief an ihr vorbei die Treppe hinauf ins Schlafzimmer. Er griff eine Decke vom Bett und raste die Treppe wieder hinunter. Als er sie vorsichtig ü ber Sarah ausbreitete, hö rte er, wie Gabrielle nach dem Rettungswagen telefonierte. Dann kam sie zurü ck und setzte sich auf die unterste Treppenstufe, wä hrend er aus dem Wohnzimmer ein Kissen holte und Sarahs Kopf darauf bettete.

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Sie fuhren beide im Notarztwagen mit nach Eppendorf. Als die Pfleger Sarah in der Kinderklinik auf die fahrbare Liege legten und sie durch die Glastü r rollten, ü berlieû er es Gabrielle, sie zu begleiten. Er selbst kü mmerte sich um die Aufnahme. Dann zwang er sich dazu, zu warten. Er durfte jetzt nicht zu ihr, um sie nicht an ihren Konflikt zu erinnern, wenn sie aus ihrer Ohnmacht erwachte. Er setzte sich und betete, daû sie keine inneren Verletzungen hatte! Er beobachtete, wie zwei Pfleger ein wimmerndes Kind hereintrugen, begleitet von einem weinenden halbwü chsigen Jungen, und hinter der Glastü r verschwanden. Nach kurzer Zeit erschien der Junge wieder und setzte sich schniefend neben ihn. Dann trat ein Arzt im grün en Kittel und mit grün em Haarschutz auf ihn zu und gab ihm die Hand.

»Professor Hackmann?« »Ja.«

»Ihre Tochter hat eine schwere Konkussion. Nichts Ernstes. Eine Woche muû sie aber hier zur Beobachtung bleiben. Ihre Frau sagt, sie ist die Treppe hinuntergestü rzt?«

»Ja.«

»Dann mü ssen wir noch ein paar Checks wegen innerer Verletzungen machen. Aber machen Sie sich keine Sorgen, das ist eher unwahrscheinlich. Ein gutes Alter fü r Stü rze«, füg te er läc helnd hinzu. »Bei Ihnen wä re das schon gefä hrlicher.«

-Da ist ja auch mehr, was fallen kann¬, dachte Hanno. »Wollen Sie sie sehen?«

»Ich dachte, sie braucht jetzt Ruhe.«

»Da haben Sie recht. Aber bei uns kö nnen Sie die kleinen Patienten durch eine Glaswand von auûen sehen, ohne sie zu stö ren. Kommen Sie.«

Er füh rte ihn in einen Gang, von dem aus er durch eine Art Schaufensterfront in verschiedene Kinderkrankenzimmer blicken konnte. Jedes Schaufenster hatte rechts und links zwei Vorhä nge, die sich innen zusammenziehen lieûen. Dahinter lagen wie auf der Bühn e die Kinder in ihren Betten, vier in jedem Zimmer. Der Arzt

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verschwand, und Hanno sandte ein Dankgebet gen Himmel. Sarah stü tzte sich auf den Ellbogen und erbrach sich in eine flache Schale, die eine Schwester ihr unter das Kinn hielt. Auf der anderen Seite des Bettes saû Gabrielle. Dann nahm Sarah der Schwester ein Tuch weg, wischte sich den Mund ab und lieû sich wieder auf die Kissen sinken. Als Gabrielle ihre Hand nahm, läc helte Sarah sie mü de an. Da bemerkte Hanno, wie ä hnlich sich Mutter und Tochter sahen.

Langsam ging er wieder in die Eingangshalle zurü ck und setzte sich der Pforte gegenü ber auf einen Plastikstuhl. Plö tzlich füh lte er sich schwindlig. Sein Atem ging kurz. Er muûte nach Luft schnappen. -Das ist die Reaktion¬, dachte er, stand unsicher auf und tastete sich durch die Eingangstü r ins Freie. Er ging quer ü ber den Platz vor der Kinderklinik und wanderte ü ber die Rasenfläc he. Betreten des Rasens verboten! Darauf kam es jetzt weiû Gott auch nicht mehr an! Wä hrend er an Teichen mit Enten und blüh enden Rhododendronbü schen und an den Stä mmen riesiger Blutbuchen vorbeiwanderte, wurde ihm langsam wohler. Sein Atem ging wieder ruhiger, und das Schwindelgefüh l versank hinter dem Horizont. Wie spä t war es eigentlich? Er starrte auf die Uhr. Samstagnachmittag. Besuchszeit! Auf den Betonwegen hatte sich der Fuûgä ngerverkehr verdichtet. Die Leute sahen nach ihren Kranken. Zu zweit oder in Familientrupps waren sie in alle Richtungen zu den verschiedenen Klinikgebä uden unterwegs, um ihre Blumensträ uûe abzuliefern. In den Kliniken selbst wü rden jetzt die Schat-

tengestalten

in

ihren

Bademä nteln

ü ber die Flure wandern und

prü fen, ob

sie

noch

lebten. Vor

der Rü ckseite eines hä ûlichen

Gelbklinkerbaus blieb er stehen. Hinter vergitterten Fenstern konnte er die Umrisse von Gesichtern erkennen, die auf ihn herabsahen. Plö tzlich füh lte er einen Schock. War das nicht Babsi? Er trat weiter zurü ck, unter das Blä tterdach einer Buche. Mein Gott, was muûte sie denken, wenn sie ihn plö tzlich unten auf dem Rasen stehen sah? Vielleicht war es gar nicht Babsi gewesen. Er beugte

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sich etwas vor und blickte durch ein Loch im Laub zu den Fenstern empor. Nein, das war nicht Babsis Gesicht. Welche Klinik war das ü berhaupt? Er ging in einem Bogen um das Gebä ude. Vor dem Eingang stand auf zwei Eisenstangen ein breites Schild mit der Aufschrift »Psychiatrische Klinik«. Sie konnte es also doch gewesen sein. Hanno verwarf den Impuls, sie zu besuchen. Plö tzlich hö rte er eine Stimme: »Professor Hackmann!« Er drehte sich um Ð ein Blitz blendete ihn. Ein Reporter! Natü rlich Ð hier muûte es wimmeln von Reportern! Er machte kehrt und lief geradewegs ü ber den Rasen zurü ck.

Als er nach langem Herumirren wieder die Eingangshalle der Kinderklinik betrat, winkte ihn die Schwester zu sich heran an die Pforte.

»Die Besuchszeit ist jetzt zu Ende«, sagte sie. »Ihre Frau ist schon nach Hause gefahren, um Wä sche zu holen. Ich habe ihr ein Taxi bestellt.«

Hanno nickte und lieû sich erschöp ft auf seinen alten Stuhl gegenü ber der Pforte fallen. Er wartete, bis er sich etwas erholt hatte, und stand dann auf, um noch einmal nach Sarah zu sehen. Als er den Gang betrat, kamen ihm zwei Schwestern entgegen. Zu seinem Entsetzen bemerkte er plö tzlich, daû beide weinten. Aus einem der Krankenzimmer trat ein Arzt zu ihnen. »Sie ist gerade gestorben«, flü sterte eine der Schwestern schluchzend, »ein so sü ûes Mä dchen, und...« Hanno wurde von einer Welle der Panik ü berrollt. Er eilte zu Sarahs Zimmer. Die Vorhä nge waren zusammengezogen. Er preûte seine Stirn gegen die Glasscheibe, um durch einen Spalt in der Mitte in ihr Zimmer zu sehen. Sie lag mit geschlossenen Augen auf dem Rü cken. Neben ihrem Gesicht lag eine Haarsträ hne, die auf dem weiûen Kissen besonders dunkel aussah. Und der Zeigefinger ihrer rechten Hand wickelte die Strä hne auf und drehte sie wieder ab. Auf und ab Ð auf und ab. Hanno konnte sich gar nicht sattsehen an dieser Bewegung. Auf und ab. Das Leben seiner Tochter. Wä hrend einer langen panischen Se-

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