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Der_Campus

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zwei Zuschauern das Gesicht von Professor Schä fer. Als Schä fer ihn sah, faûte er mit dem Mittelfinger sein linkes Augenlid und zog es nach unten. Darauf hob Martin den Daumen. Wir verstehen uns! Der Saal war jetzt so vollgelaufen, daû die Zuschauer bereits auf den Stufen des Mittelganges Platz nahmen, da wurde hinten die Tü r geschlossen, und Martin wandte sich nach vorne. Auf einer Bühn e, die die ganze Front des Hö rsaals ausfü llte, standen wie bei einem Podiumsgespräc h vier aneinandergereihte Tische. Hinter ihnen saûen die Mitglieder des Disziplinarausschusses. Im rechten Winkel zu der Tischreihe stand vorne rechts ein weiterer Tisch mit einem leeren Stuhl. Auch der Stuhl in der Mitte der Tischreihe war noch leer, weil der Vorsitzende Weskamp sich noch vor der Bühn e im Auditorium mit Professor Hackmann unterhielt. Martin kannte Hackmann von Archivbildern und hatte ihn vorgestern kurz gesehen, als er auf der Flucht vor den Demonstranten wie ein Hase an der Front des Soziologischen Instituts entlanggelaufen war. Keine schlechte Erscheinung, muûte er zugeben, man hä tte ihm solch eine Schweinerei gar nicht zugetraut. Edles Profil, leicht gewelltes Haar, vergeistigte Züg e, ein sensibler Mund Ð kein Wunder, daû ihn niemand verdäc htigt hatte. Aber er, Martin Sommer, hatte ihm das Handwerk gelegt.

Professor Weskamp kletterte jetzt auf die Bühn e und setzte sich auf den leergebliebenen Stuhl in der Mitte der Tischreihe. Er klopfte an das Tischmikrophon vor seinem Platz, wartete, bis der Saal ruhig geworden war, und begann.

»Meine Damen und Herren, ich erö ffne die heutige Sitzung des Groûen Disziplinarausschusses der Universitä t. Ich darf mich zunäc hst selbst vorstellen. Mein Name ist Bernd Weskamp vom Romanistischen Seminar, und ich bin der Vorsitzende des Ausschusses. Wir haben einen Fall zu untersuchen, der in der Ö ffentlichkeit einiges Aufsehen erregt hat. Der Prä sident hat deshalb verfüg t, daû die Sitzung ö ffentlich stattfinden soll. Gestatten Sie mir daher ein paar Bemerkungen zum besseren Verstä ndnis unseres Verfah-

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rens. Die Verhandlung heute ist ein Hearing. Das heiût, es gibt keine Beschuldigten, sondern nur Zeugen.« Im Saal erhob sich ein Murmeln. Der Vorsitzende wartete, bis es sich wieder gelegt hatte, und fuhr dann fort: »Das entspricht den zwei Phasen, die uns unsere Disziplinarordnung fü r ein Verfahren vorschreibt. In der ersten Phase Ð die, in der wir uns befinden Ð erfolgt eine reine Voruntersuchung der Tatsachen. Erst dann wird entschieden, ob in der zweiten Phase ein Verfahren angestrengt wird. Um es also noch mal zu betonen: Heute wird nicht gegen einen Angeklagten verhandelt, sondern es werden nur Zeugen befragt.« Er machte eine Pause und blickte auf seine Notizen. »Dem Ausschuû liegt ein Antrag auf Erö ffnung eines Disziplinarverfahrens vor. Der Antrag stammt von der Frauenbeauftragten Frau Professor Wagner, und als Grund fü r den Antrag nennt die Frauenbeauftragte einen Fall sexueller Erpressung einer Studentin durch ihren Professor. Hier mö chte ich eine technische Erlä uterung einflechten...« Er blickte von seinen Notizen auf und sprach direkt ins Publikum: »Der Ausschuû erachtet die Persö nlichkeitsrechte des Opfers in solchen Fä llen fü r ein hohes Rechtsgut. Wir haben es deshalb begrü ût, daû die Presse bisher den Namen der betreffenden Studentin nicht genannt hat, sondern das Pseudonym -Clara C.¬ benutzt hat. Wir werden das ebenso handhaben: Den Zeugen und den Ausschuûmitgliedern ist der richtige Name der Studentin bekannt. Weil wir uns aber fü r die Ö ffentlichkeit der Sitzung entschieden haben, haben wir uns darauf verstä ndigt, weiterhin das Pseudonym -Clara C.¬ zu benutzen. Nur unter dieser Bedingung hat der Prä sident der Ö ffentlichkeit der Sitzung zugestimmt.« Im Publikum erhob sich sporadischer Beifall. -Meine Erfindung: Clara C.¬, dachte Martin, als der Vorsitzende fortfuhr. »Und noch eins: Wir bitten das Publikum, von Beifallsund Miûfallenskundgebungen abzusehen. Wir haben uns den Entschluû zur Ö ffentlichkeit nicht leichtgemacht«, wieso -wir¬, dachte Martin, vorher hatte er noch gesagt, -der Prä sident¬ ... »und uns nur mit Rü cksicht auf das ö ffentliche Interesse dazu entschieden. Wenn aber der Ablauf der Sitzung ge-

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stö rt wird oder die Zeugen oder die Ausschuûmitglieder durch Kundgebungen beeinfluût werden, brechen wir die Sitzung ab und füh ren sie spä ter nichtö ffentlich weiter.« Im Saal wurde es merklich ruhiger. »Bevor wir nun mit der Befragung der Zeugen anfangen, werde ich Ihnen die Ausschuûmitglieder vorstellen. Ich beginne von links von Ihnen aus gesehen: Herr Professor Köb ele vom Philosophischen Seminar.« Ein kleines Mä nnchen, das grimmig ins Publikum schaute. »Frau Professor Breinig aus der Kieferklinik«, eine strenge Gouvernantentype, dachte Martin, »und Professor Nesselhauf vom Mathematischen Seminar.« Ein asketischer Geistesmensch, der vö llig abwesend wirkte. »Und zu meiner Linken«, fuhr Weskamp fort, »geht es weiter mit der Vertreterin der Gruppe der Dozenten, Frau Dr. Schulenburg aus dem Institut fü r Biochemie«, die einzige Schö nheit auf dem Podium, dachte Martin, »daneben sitzt die Vertreterin der Assistenten, Frau Dr. Mann vom Theologischen Seminar. Sie vertritt das Ausschuûmitglied Frau Dr. Hopfenmü ller, die aber als Zeugin geladen ist. Und ganz auûen die beiden Studentenvertreter, Frau Stein von der Physik und Frau Zerbst aus dem Geographischen Institut.« Die beiden Mä dchen wirkten fast wie die beiden Scotchterrier auf der Black & White-Whiskyreklame, so symmetrisch schwarz und hellblond waren ihre identischen Frisuren. »Wenn wir jetzt mit dem ersten Zeugen beginnen Ð Herr Professor Hackmann, wü r- den Sie bitte oben hinter dem Tisch Platz nehmen Ð, warten die anderen Zeugen im Nebenraum, bis sie aufgerufen werden.« Wä h- rend Hackmann ü ber eine kleine Treppe auf die Bühn e kletterte und auf dem freien Stuhl Platz nahm, standen mehrere Personen aus der ersten Reihe auf, unter denen Martin Frau Schell und Frau Hopfenmü ller erkannte, und traten durch eine Seitentü r nach drauûen.

»Ich beginne mit der Befragung von Professor Hackmann vom Soziologischen Institut. Alle Ausschuûmitglieder haben Fragerecht. Ich bitte aber aus Zeitgrün den, sich auf das zu beschrä nken, was noch nicht zur Sprache gekommen oder unklar geblieben ist.

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»Herr Professor Hackmann«, wandte er sich jetzt an den Zeugen, »die Studentin, die wir mit dem Namen -Clara C.¬ bezeichnen Ð ist sie Ihnen bekannt?«

»Ja.«

»Wie gut kannten Sie sie?«

»Wie viele andere Studenten und Studentinnen auch. Aus Seminaren und durch Besprechungen von Arbeiten.«

»Sie hat also bei Ihnen studiert?« »So kö nnte man es bezeichnen.«

»Kö nnen Sie das qualifizieren? Hat sie viele Seminare von Ihnen belegt?«

»Sie hat zwei oder drei Seminarscheine bei mir gemacht und wollte bei mir ihre Abschluûarbeit schreiben.«

»Sie sagen, sie wollte schreiben Ð heiût das, daû es nicht dazu kam?«

»Richtig. Es kam nicht dazu. Ich hatte sie abgelehnt.« »Welche Grün de hatten sie dafü r?«

»Was sie vorhatte, war mir zu abwegig und irregeleitet.« »Kö nnen Sie uns sagen, was sie vorhatte?«

»Sie wollte ü ber Christine de Pizan arbeiten, und ich wuûte, daû sie ihr eine unhistorische Interpretation aus der Sicht des modernen Feminismus ü berstü lpen wollte.«

Kaum hatte er das gesagt, lief eine Gerä uschwelle durch den Saal. Als sie abgeebbt war, mischte sich Köb ele ein.

»Woran konnten Sie das erkennen, Herr Hackmann?«

»Sie weigerte sich, den Kontext der literarischen Debatte um den Rosenroman einzubeziehen; sie las nur moderne feministische Literatur dazu, wä hrend sie die einschlä gigen Werke der historischen Soziologie ignorierte.«

»War sie ü ber die Zurü ckweisung aufgebracht?«

»Sehr sogar. Sie hat mir eine Szene gemacht und mich als Macho beschimpft!«

»Sie hatte also gute Grün de, sich an Ihnen zu räc hen?« »Das kann man sagen, ja.«

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»Ich danke Ihnen.« Im Saal wurde murmelnder Protest laut. Dieser Köb ele war also auf Hackmanns Seite, das war klar. Weskamp nahm die Befragung wieder auf.

»Gab es keine andere Beziehung zwischen Ihnen und Frau C. als die rein dienstliche?«

»Nein.«

»Sie hatten kein Verhä ltnis mit ihr gehabt?« »Nein.«

»Sie haben sie auch nicht sexuell erpreût?« »Nein.«

»Sie wissen aber, daû sie im Studiotheater einen Zusammenbruch erlitt, als sie die Rolle einer jungen Frau spielte, die von ihrem Professor sexuell erpreût wurde?«

»Ich habe aus der Presse davon erfahren.«

Martin durchlief ein wohliger Schauer. -Die Presse, das bin ich Ð

la presse, c'est moi. ¬

 

»Und

daû sie

vor

vielen Zeugen sinngemä û gesagt hat: -Alles,

was in

dieser

Rolle

vorkommt, Vergewaltigung, sexuelle Nö ti-

gung, habe ich vor kurzem durch meinen Prü fer selbst erlebt.¬ « »Ich glaube, den Ausdruck -Prü fer¬ habe ich in der Presse nicht

gefunden.«

»Sie haben ja offenbar den Fall sehr genau verfolgt.«

Hackmann sprang auf und schrie: »Das wü rden Sie auch, wenn Sie fä lschlich der sexuellen Nö tigung bezichtigt wü rden.« Dann setzte er sich wieder und sagte leise: »Entschuldigen Sie bitte.«

Weskamp schien jetzt wie Butter zu zerschmelzen.

»Aber Herr Hackmann, als das in der Zeitung stand, war Ihr Name noch gar nicht genannt worden.«

Das stimmte, dachte Martin Ð er hat sich verraten. Ein gerissener Hund, dieser Weskamp! Es herrschte eine Sekunde Stille. Da fragte der asketische Mathematiker Nesselhauf mit dünn er Stimme:

»Wer ist Christine de Pizan?«

Ein allgemeines Geläc hter erhob sich im Saal.

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Hackmann schaute erst den Mathematiker und dann Weskamp an. »Soll ich die Frage beantworten?«

Weskamp nickte. »Sie sind der Zeuge.«

»Das ist eine venezianisch-franzö sische Schriftstellerin des frü - hen 15. Jahrhunderts. Sie hat eine Verteidigung der Frauen gegen die Frauensatire im Rosenroman geschrieben und ein Buch mit dem Titel »La Citée des dames¬ verfaût. Sie gilt...«

»Danke.« Der Mathematiker hatte offenbar genug gehö rt und verlor sich wieder in seinen logischen Abstraktionen.

Martin sah, wie Weskamp jetzt einen Zettel in der Hand hielt. Er sah Hackmann an.

»Ich lese Ihnen jetzt eine Erklä rung vor, die Frau C. im Beisein ihrer Ä rztin vor zwei Tagen unterschrieben hat. Sie lautet folgendermaûen: -Ich habe jetzt erst gehö rt, was fü r ein Unheil aus meiner Behauptung entstanden ist, ich hä tte dasselbe erlebt wie die Figur Rhoda in Jessica Wilsons Stü ck Medea. Weil ich bis jetzt nur Lüg en oder Halbwahrheiten erzä hlt habe und weil daraus niemals etwas Gutes entstehen kann, mö chte ich jetzt die Wahrheit sagen: Ich habe Hanno Hackmann geliebt, weil er ein groûzüg iger, faszinierender Mann ist, der so klug ist, daû ich es gar nicht verstehen kann, warum er eine dumme Studentin wie mich ü berhaupt beachtet hat. An dem Tag, nachdem ich die Rolle der Rhoda gekriegt habe, hat nicht er mich vergewaltigt, sondern ich ihn. Weil er mit mir Schluû machen wollte, habe ich mich in seinem Bü ro ausgezogen, um ihm zu zeigen, daû er es nicht schafft, mit mir Schluû zu machen. Dann ist mir plö tzlich die Idee gekommen, die Szene aus dem Stü ck mit ihm zu spielen, in der der Professor die Studentin auf dem Schreibtisch vergewaltigt. Und so habe ich ihn auf seinen Schreibtisch gezerrt, und wir haben uns geliebt. Und als ich das alles auf der Studiobühn e in der Probe genau so gespielt habe, ist es mir plö tzlich wieder eingefallen, und dann habe ich gesagt, ich habe das schon alles erlebt. Das ist die reine Wahrheit, so wahr mir Gott helfe.¬ «

Weskamp blickte von seinem Zettel auf.

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»Was sagen Sie zu dieser Aussage?«

Im Saal herrschte Stille. Hackmanns Gesicht war angespannt. Er blickte starr geradeaus.

»Herr Hackmann, ich wiederhole die Frage, was sagen Sie dazu?«

»Nichts.«

»Sie wollen die Frage nicht beantworten?«

»Nein, doch Ð da gibt es nichts zu sagen. Ich habe damit nichts zu tun. Sie phantasiert.«

»Sie meinen, die Aussage stimmt nicht?« »Richtig.«

»Stimmt alles nicht oder nur einiges?«

»Na ja, sie war bei mir. Aber die ganze Szene hat nicht stattgefunden, die sie schildert.«

»Sie bleiben also bei Ihrer Aussage, sie hatten auch kein Verhä ltnis mit Frau C. Ð noch haben Sie sie sexuell erpreût.«

»Ja.«

»Ich habe keine weiteren Fragen. Hat jemand von den sonstigen Mitgliedern... ja, Frau Stein.«

Von den Studentinnen lehnte sich der blonde der Scotchterrier vor. »Mich wü rde interessieren, ob sie verheiratet sind.«

»Ja.«

»Glü cklich?« Weskamp mischte sich ein: »Sie mü ssen die Frage nicht beantworten...« Da fuhr Hackmann ihn scharf an: »Wenn ich schon wegen sexueller Erpressung von Studentinnen vor ein ö ffentliches Tribunal geladen werde, dann werde ich auch gerne Fragen zu meiner Ehe beantworten.« Er wendete sich an die blonde Studentin. »Ja, ich glaube, ich bin glü cklich verheiratet.«

Da hakte der schwarze Scotchterrier nach:

»Fanden Sie Frau C. sexy?« Im Saal erhob sich Geläc hter. Auch Hackmann läc helte.

»Sie bringen mich in ein Dilemma: Sage ich -nein¬, mache ich mich unglaubwü rdig Ð sage ich -ja¬, gelte ich als das Sexmonster, als das die Zeitungen mich beschreiben.«

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Das Geläc hter wurde stä rker. Dieser Hackmann war geschickt! Er war imstande und zog das Publikum auf seine Seite. Nur vorhin hat er sich verraten, dachte Martin Ð na ja, wer zuletzt lacht...

»Keine weiteren Fragen? Gut! Dann bitte ich Sie, unten Platz zu nehmen, Herr Hackmann.« Er stand auf, schaute kurz ins Publikum, kletterte von der Bühn e und nahm in der ersten Reihe Platz.

Weskamp flü sterte mit der Assistentenvertreterin am Podiumstisch, wie hieû sie gleich? Martin blickte auf seine Notizen Ð Frau Dr. Mann, komischer Name, auch noch Theologin! Frau Mann stand auf und trat durch die Seitentü r, wä hrend Weskamp verkün dete:

»Wir rufen jetzt den Zeugen Dr. Erdmann auf, ich meine die Zeugin Frau Dr. Erdmann«, verbesserte sich Weskamp.

Frau Dr. Erdmann folgte Frau Mann auf die Bühn e und setzte sich dann an den Zeugentisch. Sie war eine schmale, gestrafft wirkende Enddreiûigerin, blond, gutaussehend und bestimmt Single, diagnostizierte Martin aus irgendeinem Grunde.

»Frau Dr. Erdmann, Sie arbeiten als Ä rztin an der Psychiatri-

schen Klinik in Eppendorf?«

 

»Ja.«

 

 

 

»Und zu ihren Patienten gehö rt Frau C.«

 

»Ja.«

 

 

 

»Dem

Ausschuû

liegt ein schriftliches

Gutachten von Ihnen

ü ber die

Natur der

psychischen Stö rung

von Frau C. vor. Wir

brauchen das hier nicht im einzelnen zu diskutieren; uns genüg t es, wenn Sie hier den Kern Ihrer Diagnose noch mal kurz wiederholen.«

»Die Patientin hat ein schweres Verlusttrauma erlitten, so wie es etwa beim Tod der Eltern oder eines Ehepartners eintreten kann. Das hat bei ihr einen depressiven Schub ausgelö st, der zur akuten Suizidgefä hrdung gefüh rt hat.«

»Wollen Sie damit sagen, daû der Zustand der Patientin nur durch ein ä uûeres Ereignis ausgelö st worden sein kann?«

»Ja.«

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Frau Dr. Mann fragte plö tzlich mit verblü ffend hoher Stimme: »Sie meinen, er kann nicht durch ein inneres Ereignis ausgelö st

worden sein?«

Martin schien es, als ob Frau Dr. Erdmann die Theologin mitleidig ansah.

»Natü rlich sind alle psychischen Ereignisse innere Ereignisse. Aber wenn wir von Traumatisierung sprechen, meinen wir in der Tat Verletzungen der Psyche, die in Reaktion auf ä uûere Ereignisse entstehen. Wenn etwa ein Erlebnis so schrecklich ist, daû die Psyche nicht damit fertig wird.«

Von links bellte die gewaltige Stimme des kleinen drahtigen Kö - bele.

»Sie erklä ren uns nichts weiter als Ihren Fachjargon, Frau Kollegin, und nicht die Tatsachen. Sind Sie mit den Forschungen der sprachanalytischen Philosophie vertraut?«

»Nein.«

»Das dachte ich mir. Sie haben nä mlich gerade erklä rt, was der Begriff -Traumatisierung¬ bedeutet, aber nicht, ob Ihre Patientin traumatisiert ist.«

Man hö rte leichtes Geläc hter im Saal.

Frau Erdmanns Stimme wurde gepreûter. »Sie ist es.«

»Sie sprachen von schrecklichen Erlebnissen, die die Traumatisierung auslö sen, wenn ich recht verstanden habe?« fuhr Köb ele fort.

»Ganz recht.«

»In Ihrem Jargon spricht man aber doch auch von Abwehrmechanismen der Psyche. Bin ich da richtig informiert?«

»Wenn Sie die Fachsprache der Psychoanalyse als Jargon bezeichnen wollen, haben Sie recht.«

»Aha. Sie wü rden sich also als Psychoanalytikerin bezeichnen?«

»Nun, bei schweren Psychosen ziehen wir auch andere therapeutische Mittel heran.«

»Sagen wir also. Sie verstehen sich im weiteren Sinne als Psy-

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choanalytikerin, so daû Sie die Psychoanalyse bei Ihrer Therapie nicht ausschlieûen.«

»Ja.«

»Ist Ihnen bekannt, daû von allen Therapieformen, die einer Erfolgskontrolle unterworfen wurden, allein die Verhaltensund Gespräc hstherapie positive Ergebnisse aufweisen? Bei der Psychoanalyse war nicht festzustellen, ob sie eine positive, negative oder gar keine Wirkung auf die Patienten hat. Ist Ihnen das bekannt?«

»Sie meinen die Untersuchung von Cunard und Wattman...« »Ich frage Sie nur, ob Sie diese Untersuchung kennen.« »Ja.«

»Aber Sie machen trotzdem mit diesem Verfahren weiter. Ich danke Ihnen.«

Weskamp wollte fortfahren, aber da meldete sich Frau Breinig von der Kieferklinik.

»Frau Dr. Erdmann, haben Sie auch eine medizinische Ausbildung?«

»Selbstverstä ndlich.« »Danke, das war alles.«

Darauf ü bernahm der Vorsitzende Weskamp wieder die Befragung.

»Frau Dr. Erdmann, der Ausschuû hat vorhin die Erklä rung Ihrer Patientin gehö rt, in der sie die angeblich wahren Hintergrün de fü r ihre Behauptung erlä utert, sie habe die Szene der sexuellen Nö - tigung und Vergewaltigung aus ihrem Theaterstü ck selbst erlebt. Danach hä tte es ja eine Traumatisierung nicht gegeben. Wü rden Sie dem Ausschuû erlä utern, wie Sie die Erklä rung Ihrer Patientin im Lichte Ihrer professionellen Erfahrung einschä tzen?«

»Gerne.« Frau Dr. Erdmann lehnte sich nach vorne auf den Tisch und legte die Fingerspitzen zusammen. »In dieser Erklä rung sagt die Patientin plö tzlich, nicht Professor Hackmann habe sie vergewaltigt, sondern sie ihn. Gleichzeitig lobt sie ihn als groûzü - gig und klug. Das ist eine typische Inversion, die wir bei vielen Traumatisierungen beobachten. Sie dreht also die Verhä ltnisse

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