Добавил:
Upload Опубликованный материал нарушает ваши авторские права? Сообщите нам.
Вуз: Предмет: Файл:

Der_Campus

.pdf
Скачиваний:
44
Добавлен:
24.03.2015
Размер:
2.49 Mб
Скачать

gegenü berliegende Tor herein, durchquerte in Sekundenschnelle die ganze Lä nge der Reitbahn und flog auf der anderen Seite durch eine Mauerö ffnung wieder hinaus. -Lieber Gott, mach, daû ich noch mal davonkomme! Dann werde ich auch ein guter Ehemann und ein vorbildlicher Vater sein! Und gegenü ber meinen Kollegen will ich weniger arrogant sein! Ich werde sogar nett zu Thurow sein, wenn Du mich noch einmal davonkommen lä ût!¬

Da kam Hirschberg zurü ckgestampft. Sein Bulldoggengesicht strahlte. »Erledigt!« rief er schon von weitem, »Sie kö nnen wieder ruhig schlafen. Die sagen nichts mehr.«

»Sie meinen...«

Hanno wollte Hirschberg umarmen. Er wollte mit ihm einen Walzer tanzen. Er wollte ein Pferd besteigen und davonreiten.

Hallelujah, da konnte man ja wieder an die Menschheit glauben Ð oder an Gott. »Wie in aller Welt haben Ihre Leute das so schnell fertiggebracht?«

»Sie haben ihnen eben eindringlich vor Augen gefüh rt, daû sie sich der Strafverfolgung aussetzen, wenn sie ü ber eine Vergewaltigung berichten, die sie nicht verhindert haben.« Hirschberg lachte vergnüg t. »Mich freut es immer, wenn ich so eine Schmutzkampagne vereitle. Sie mü ssen mir meinen Ausbruch von vorhin verzeihen! Aber manchmal packt mich einfach der Ekel ü ber das ganze verrottete Milieu. Es ist die Berufskrankheit der Journalisten. Nehmen Sie es nicht so ernst. Ich werde jetzt noch mal nach meinem Gaul sehen, und dann muû ich nach Lü beck fahren. Wiedersehen, Herr Professor Hackmann. Und fragen Sie Ihre Tochter, warum sie nicht mehr herkommt, um Akademiker zu reiten!«

»Sie hat eine junge Dohle aufgezogen«, sagte Hanno, »die hat sie vö llig in Atem gehalten.«

»Eine Dohle hat sie aufgezogen?« Hirschbergs Bewunderung war echt. »Dann wird sie eine gute Mutter. Grü ûen Sie sie von mir!« Und er verschwand im Stallgebä ude.

301

18

Bernie war verzweifelt. Es war 10.30 Uhr, gleich war die Früh - stü ckspause zu Ende, und er saû in der Sackgasse. Dabei hatte er alles so schö n aufeinander abgestimmt. Kurz vor 10 hatte er die Vorladung Professor Hackmanns vor den groûen Disziplinarausschuû persö nlich im Geschä ftszimmer des Soziologischen Instituts abgeliefert. Er hatte sie auf letzten Freitag zurü ckdatiert, damit bei der vorgeschriebenen Vorlaufsfrist von einer Woche die Sitzung noch am Freitag dieser Woche stattfinden konnte. Das lieû es dann so aussehen, als ob er schon vor den entscheidenden Informationen des letzten Wochenendes entschlossen gewesen wä re, die Untersuchung weiterzuverfolgen. Dazu muûte aber der Brief auch am Montag eintreffen. Und deshalb muûte Bernie die extrem langsame und unzuverlä ssige Universitä tspost, die fü r die Ü bersendung des Briefes noch mal zwei Tage gebraucht hä tte, durch die persö nliche Ü berbringung umgehen. Und so hatte er mit eigenen Augen gesehen, wie die Geschä ftszimmersekretä rin des Instituts den Brief mit dem Absender »Groûer Disziplinarausschuû der Universitä t Hamburg« in Hackmanns Postfach deponiert hatte. Und da lag er nun auch. Gleichzeitig hatte Bernie seinen Besuch im Soziologischen Institut zeitlich so geplant, daû just in dem Moment, in dem er das Institutsgebä ude verlieû, die Bauarbeiter ihre Früh stü ckspause beginnen wü rden. Aber erstens waren nur noch zwei der Arbeiter, die in der letzten Woche am Soziologischen Institut gemauert hatten, zu finden, eine Berliner Groûschnauze namens Werner Frahm und ein Stotterer mit dem Namen Willi Behnke. Das muûten zwar die Typen sein, die der Freund von Kurtz im Theater getroffen hatte, aber von einem Stotterer hatte Kurtz nichts gesagt. Bernie wuûte, daû ein Stotterer fü r jede Kommission eine töd liche Gefahr bildete. Die Agonien des ringenden Ausdrucks Ð das hemmungslose phonetische Gemetzel und die respiratorischen Konvulsionen ruinierten jeden geschä ftsmä ûigen

302

Ernst. Er hatte schon eine Doktorprü fung erlebt, in der ein simpler Lispler, dessen »s« wie ein »f« klang, ein Gremium melancholischer Professoren in solch heidnische Frö hlichkeit versetzt hatte, daû das Examen nur mit Müh e zu Ende gefüh rt werden konnte. Und ein richtiger Vollblutstotterer war imstande und verwandelte jede ernsthafte Sitzung in eine idiotische Farce. Aber um das Maû vollzumachen, behaupteten diese Typen jetzt, sie hä tten gar nichts gesehen. Sie gaben zwar zu, diesem Guitarrespieler im Theater so eine Geschichte von einem bumsenden Professor aufgebunden zu haben Ð aber das sei alles dummes Zeug gewesen. Und nun saû Bernie vor dem Soziologischen Institut in einem Wohncontainer der Baugesellschaft auf einem umgedrehten Bierkasten und sah ihnen dabei zu, wie sie Brö tchen mit Gehacktem aus dem Fleischladen nebenan verspeisten und sich dazu Dosenbier in die Kehlen gö ssen, und wuûte nicht weiter.

»Aber warum haben Sie denn diese Geschichte erzä hlt, wenn sie nicht stimmte?« versuchte Bernie es noch mal.

Er wuûte, sie wü rden wieder dasselbe sagen. Aber er wuûte nicht, was er sonst tun sollte. Wenn er unverrichteter Dinge aus dem Bauwagen wieder herauskletterte, war er blamiert. Dann wü rde seine ganze schö ne Verhandlung ein Fiasko. Dann hä tte er sich läc herlich gemacht. Und die Wagner und die Presse und alle Hö llenhunde wü rden ihn zu Tode hetzen Ð der groûe Hä uptling wü rde ihn einfach ü ber Bord werfen. Ade, Vizeprä sidentschaft! Dieser verfluchte Kurtz! Er hatte sich auf ihn verlassen, und nun versagten seine Zeugen. Der eine konnte vielleicht nichts sagen, aber dieser schweinsä ugige Berliner wollte definitiv nichts sagen. Unter seinem gelben Schutzhelm sah er Bernie an wie einen Vollidioten.

»Mensch Meier, Sie geben aber auch nie auf, wa? Det habe ick Sie doch schon jesacht, wir haben einen Jokus jemacht, een Scherz war det, wenn Se wissen, wat ick meene. Ham Se denn noch nie in-

ner frö hlichen Runde ne Flunder

erzä hlt, wo

nicht

strikt

der

Wahrheit entspricht? Da schmü ckt

ein Mensch

so was

mal

aus,

303

vastehnse mir? Dat det 'n richtigen Pfiff kricht, so ein biûchen Pfeffer, dat is doch war janz Normalet, is det, stimmt's, Willi ?«

»Da-Da-da-da-« Ð -Mein Gott¬ dachte Bernie, -das wird ja furchtbar¬, und schenkte ihm seinen Satz: »Das stimmt«, sagte er fü r ihn.

Und als Willi heftig nickte, ging ihm der Gedanke durch den Kopf, daû er vielleicht doch kein so schlechter Zeuge wä re, da man ihm alles vorsagen muûte. »Haben Sie gesehen, wie der anwesende Professor sowiewas...?« Willi sagte: »Da-da-da-da-«, »Und das haben Sie also gesehen«, sagte man und Willi nickte. So ging es auch!

»Da-da-da-da Ð oben kann man ja nix sehen«, sagte Willi plö tzlich.

»Wo oben?« fragte Bernie, und Willi antwortete ohne Zö gern: »Da oben im vierten Stock.«

Bernie und der Berliner guckten erst Willi und dann sich gegenseitig an und lauschten, wie bei ihnen die Groschen fielen.

»Woher wissen Sie denn, welches Bü ro es ist, wo Sie nichts gesehen haben?« fragte Bernie der Staatsanwalt läc helnd. Da zog Willi sich wieder verstockt hinter die Mauer seiner Behinderung zurü ck. Aber Bernie wuûte jetzt jedenfalls, daû sie logen, wenn sie sagten, daû sie gelogen hä tten. Nur, warum logen sie? Irgend jemand muûte sie manipuliert haben! Konnte das Hackmann gewesen sein? Dann hä tte er sich damit selbst ü berfüh rt.

»Ich beschreibe Ihnen mal den Mann, um den es geht«, sagte Bernie, genannt Perry Mason: »Und Sie sagen mir, ob Sie ihn schon mal gesehen haben.«

»Wir sagen jarnischt.« Der Berliner wurde jetzt ernsthaft bokkig. »Stellen Se sich mal vor, wir hä tten da wat jesehen Ð eine Vergewaltigung oder dergleichen, und wir sagen vor Ihrem Ausschuû oder wat dat is, -Klar, da hat eene Vergewaltigung stattjefunden, prima war det, direkt erbaulich. Ein Kunstgenuû.¬ Wat sagen die da? Sagen die -Sehr schö n, det freut uns fü r Sie, Sie kö nnen jetzt gehen!¬ Nee, dat sagen die nich, die sagen: -Wat, Sie gucken zu, wie

304

ein Verbrecher zur Tat schreitet, und fallen ihm nicht in den Arm?¬ Det sagen die, und denn sind wa dran wegen unterlassener Hilfeleistung bei einem Verbrechen. So sieht det aus! Nee, wir haben nischt jesehen, und dabei bleibt es.«

Bernie war wie vor den Kopf geschlagen. Natü rlich, das war es. Eine vage Remineszenz klopfte an seinen Hinterkopf, daû Matte in der Prä sidentenrunde etwas Ä hnliches gesagt hatte. Aber er war darü ber hinweggegangen. Und warum war er darü ber hinweggegangen? Weil er unbedingt wollte, daû der groûe Hä uptling die Sache weiterverfolgte; weil er selbst auf den Wellen dieser Affaire in das Bü ro des Vizeprä sidenten surfen wollte. Dafü r saû er jetzt in der Klemme Ð wie ein Marktweib auf faulem Obst saû er jetzt auf seinen Zeugen. Hoffnungslos starrte er sie an. »Ja, das sehe ich ein«, sagte er. »Das kann man verstehen.« Er zog es in die Lä nge, weil er sich nicht geschlagen geben wollte. »Das ist wirklich ein ernsthafter Hinderungsgrund, das muû bedacht werden.« Er wuûte immer noch nicht, wie es weitergehen sollte. »So eine vertrackte Sache, so was!« Plö tzlich hatte er einen Gedanken: Es war eher der Embryo eines Gedanken, ein Gedankensamen, der noch

wachsen muûte. »Sagen Sie, wo machen Sie heute Mittag?«

 

»Ha-ha-ha-ha ...«

 

 

 

»Hier im Bauwagen«, ergä nzte

der

Berliner widerwillig,

und

der Stotterer nickte.

 

 

 

»Hä tten Sie was dagegen, wenn

ich

Sie heute zum Essen

da

vorne ins Arkadasch einlade?«

 

 

 

»Ist das tü rkisch?« fragte der Berliner miûtrauisch.

 

»Ja, schmeckt aber prima.«

 

 

 

»Eû ick nich«, dekretierte der Berliner. »Und Willi auch nich.«

 

»Wie wä re es mit griechisch?«

 

 

 

»Ist dasselbe. Italienisch, der Laden

da drü ben, das ist gut.«

Und er zeigte mit der Bierdose durch die Tü r auf das Edelrestaurant Torre Pendente.

-O Gott, der weiû ja wirklich, was gut und teuer ist¬, dachte

305

Bernie und sagte: »Gut, um 12.30 Uhr. Ist doch die Zeit, wenn Sie Mittag machen?«

»Genau«, sagte der Stotterer wie aus der Pistole geschossen.

Als wenig spä ter Martin Sommer an die Tü r des Allerheiligsten klopfte, empfing ihn Chefredakteur Bü lhoff mit vä terlicher Wä rme. »Komm rein, mein Junge, sag mir, was du auf dem Herzen hast. Weiût du, daû deine Story drauf und dran ist, uns den Durchbruch bei den Studenten zu verschaffen? Sechzig Prozent mehr bei den Verkaufstellen rund um den Campus! Zwö lf Prozent mehr City-Auflage, das ist eine Rekordsteigerung, Junge. Das mü ssen wir jetzt stabilisieren. Erst wenn das keine Beule mehr in der Kurve ist, wenn wir das zu einer Plattform ausgebaut haben, haben wir gewonnen. Deshalb muût du jetzt dranbleiben.« Bü l- hoff warf sich gegen die Lehne seines Mahagonisessels.

»Ich hab da eine Frage, die...«

»Warte, warte, warte, warte.« Bü lhoff hatte die Augen geschlossen, und sein Gesicht zeigte den visionä ren Ausdruck der Inspiration. »Warte, warte, warte, warte.« Dann ö ffneten sich seine Augen wieder. »Wie wä r's, wenn wir eine Serie mit solchen Stu -

dentinnen machen, die... ICH SCHLIEF MIT MEINEM PROFESSOR?

Na ja, vielleicht ist das zu wild. Aber irgend etwas, was das zu einem Dauerthema macht.« Bü lhoff kehrte in die Welt der Sterblichen zurü ck. »Was hast du auf dem Herzen, mein Junge?«

»Also, ich hab da endlich diesen Vorsitzenden des Untersuchungsausschusses weichgekocht, diesen Weskamp, der immer so gemauert hat. Jetzt mauert er nicht mehr.« Diese Version hö rte sich doch besser an fü r die Ohren seines Chefredakteurs, dachte Martin, als wenn er platt erzä hlen wü rde, daû Weskamp ihn gerade in der Redaktion angerufen hatte.

»Und was hast du rausgekriegt?« »Er hat Zeugen!«

306

Bü lhoff sprang auf. »Er hat Zeugen? Das ist ja groûartig! Dann geht es ja weiter, mein Junge.« Bü lhoff hatte wieder den Anflug ei-

ner Vision: »Dann mü ssen sie ein Verfahren

durchziehen, dann

gibt es Fü r und

Wider, Glaubwü rdigkeitsblockade, gegenseitige

Diskreditierung,

Anhö rung,

Vertagung, neue

Untersuchungen.«

Plö tzlich wurde

er wieder

nü chtern. »Aber,

Martin, dann weiû

dieser, wie heiût der, Weskamp? Dann muû der ja wissen, wer es war! Hat er was gesagt?«

»Nein, das ist ja der Haken...«

»Dann hauen wir ihn in die Pfanne.« Bü lhoff erhob wieder die Augen zum visionä ren Blick und zeichnete mit der rechten Hand eine kün ftige Ü berschrift in den Himmel. »UNIVERSITÄ TSLEITUNG

DECKT DEN TÄ TER

»Nein, hö ren Sie, Chef.« Bü lhoff fokussierte mit einiger Müh e

wieder irdische

Gegenstä nde,

und

als Martin registrierte, daû er

ihn wieder sah,

fuhr er fort:

»Er

schlä gt uns einen Handel vor.

Seine Zeugen wollen nä mlich nicht reden, weil sie Angst haben, sie wä ren dann wegen unterlassener Hilfeleistung dran.«

»Sind es denn mehrere?« »Er hat so geklungen.«

»Und was sind das fü r Typen?«

»Sagt er nicht, solange wir uns nicht einig sind.«

»Also gut, wie sieht der Handel aus?« Der Prophet Bü lhoff hatte sich jetzt wieder Profanem zugewandt.

»Er will wissen, ob wir bei diesen Zeugen den Willen zur Wahrheit mit ein paar Riesen unterstü tzen und die Rechtsanwä lte bezahlen, falls sie angeklagt werden. Dafü r bietet er uns die Hintergrün de exklusiv, fü r den Fall...«

»Ja, sicher machen wir das!« rief Bü lhoff.

»... fü r den Fall, daû er es schafft, das Vertraulichkeitsgebot aufheben zu lassen.«

Bü lhoff sah Martin an. »Was soll da noch vertraulich sein?«

»Na ja, er sagt, normalerweise wü rden die Untersuchungen des Disziplinarausschusses vertraulich behandelt und Informationen

307

ü ber solche Fä lle fielen unter das Dienstgeheimnis. Er hä tte selber schon Leute vor den Disziplinarausschuû zitiert, die das Dienstgeheimnis gebrochen hä tten. Dann kö nnte er ja selbst schlecht...

aber er wü rde versuchen, fü r diesen Fall wegen des allgemeinen ö f- fentlichen Interesses die Vertraulichkeit aufheben zu lassen.«

Bü lhoff ü berlegte.

»Das klingt ja reichlich matschig! Wir sollen zahlen, aber bei ihm kö nnte... wenn es gelä nge... eventuell... wir kaufen da eine Eventualitä t; und wenn nicht, sagt er -Tut uns leid!¬ «

»Aber wenn wir nicht kaufen, stirbt vielleicht die Story; denn dann sagen diese Leute nichts. Wir zahlen dafü r, daû die Story weitergeht! Und die Exklusivrechte sind dann ein Extrabonus, wenn's klappt.«

Bü lhoff haute mit der Hand auf den Schreibtisch. »Martin, mein Junge, ruf ihn an, wir zahlen. So wird die Sache gemacht, Martin.« Martin hob den Daumen zur konspiratorischen Geste. »Gute Idee, Chef.« So als ob Bü lhoff den Gedanken gehabt hä tte. »Danke, Chef.« Im Hinausgehen hö rte er noch, wie sein Chefredakteur den Telefonhö rer abhob.

Kurz vor seiner Vorlesung um 11 Uhr ü ber »Interaktion und Gesellschaft: Theoriefassungen eines Problems von Simmel bis Bourdieu« wollte Hanno in seinem Bü ro noch ein paar Notizen durchgehen. Aber er kam nicht dazu, denn heute morgen lag ein geö ffneter Brief vor ihm auf dem Schreibtisch, den er gerade aus seinem Postfach im Geschä ftszimmer abgeholt hatte.

Sehr geehrter Herr Kollege Hackmann!

Im Namen des Groûen Disziplinarausschusses der Universitä t Hamburg darf ich Sie bitten, diesen Brief als eine Vorladung vor den Groûen Disziplinarausschuû auf seiner Sondersitzung am Freitag, den 10. Mai d. J., um 11 Uhr im groûen Hö rsaal des Pä dagogischen Instituts zu betrachten. Auf Antrag der Frauenbeauftragten Frau Prof. Dr. Wagner befaût sich der Ausschuû

308

mit einem Fall sexueller Nö tigung einer Studentin durch einen Hochschullehrer dieser Universitä t. Ich darf Sie bei dieser Gelegenheit an die rechtlichen Grundlagen des Verfahrens erinnern: Gemä û § 14 Absatz 2 der Disziplinarordnung muû der Groûe

Ausschuû in

Fä llen, in

denen Angehö rige mehrerer Fachberei-

che beteiligt

sind oder

das gesamtuniversitä re Interesse berüh rt

ist, Verfahren der Unterausschü sse der einzelnen Fachbereiche auch dann an sich ziehen, wenn sie sich noch in der Phase der Voruntersuchung befinden. Dies ist im vorliegenden Fall gegeben. Dem entsprechend ist noch kein fö rmliches Disziplinarverfahren erö ffnet worden. Die auûerordentliche Sitzung ist deshalb eine Anhö rung im Sinne von § 5, Abs. 1Ð4. In Analogie zu den ü blichen Anhö rungen der Unterausschü sse dient sie der Feststellung, ob ein Disziplinarverfahren erö ffnet werden soll. Zu dieser Anhö rung sind Sie als Zeuge geladen. Sollten Sie verhindert sein, bitte ich Sie um rechtzeitige Nachricht. Ich darf aber daran erinnern, daû nach § 24, Abs. 7 der Disziplinarordnung eine Weigerung, vor dem Ausschuû zu erscheinen, schriftlich begrün det werden muû. Mit der Bitte, den Empfang dieses Schreibens zu bestä tigen, verbleibe ich

mit freundlichen Grü ûen, Ihr Bernd Weskamp

(Vorsitzender des Groûen Disziplinarausschusses)

Der Brief war vom Freitag datiert. Da hatte er die Unterredung mit Weskamp gehabt. Wahrscheinlich hatte er ihn verlassen und direkt diese Einladung diktiert. Dann hatte er ihn mit seinen ambivalenten Reden bewuût irregefüh rt. Aber vielleicht wollte er diese Sache auch schnell hinter sich bringen.

Hanno sah auf die Uhr. Er muûte zu seiner Vorlesung. Er kam immer pünk tlich, damit er dasselbe von seinen Studenten verlangen konnte. Bei vielen seiner Kollegen kamen und gingen die Studenten nä mlich, wann es ihnen gerade einfiel, und so ä hnelten ihre Vorlesungen den Deklarationen von Sektenpredigern auf dem

309

Bahnhofsvorplatz, die von einer wechselnden Menschenmenge genossen wurden. Abgesehen davon, daû Hanno das unwü rdig fand, hatte es den Nachteil, daû man bei den Studenten kaum gleiche Wissensstä nde voraussetzen konnte. Da sich die Gremienmehrheiten in den Sozialund Geisteswissenschaften strikt weigerten, das Studium zu gliedern Ð weil man damit Vergleichsmaûstä be fü r die Qualitä t von Professoren gewonnen hä tte, die vielleicht ein ungün stiges Licht auf sie warfen Ð, hatte man in den Seminaren Studenten mit vö llig verschiedener Vorbildung. Statt daû sie eine halbwegs homogene Truppe bildeten, bei der alle ungefä hr gleich schnell marschierten, bestimmte der fuûkrankeste Student die Geschwindigkeit aller. Und deshalb legte Hanno Wert darauf, daû wenigstens seine Studenten ü ber ungefä hr gleiche Vorkenntnisse verfüg ten, wenn sie in seine Seminare kamen. Und aus diesem Grund muûten sie seine Vorlesungen entweder regelmä ûig oder gar nicht besuchen. Dem entsprechend blickte er in halbwegs vertraute Gesichter, als er seine Notizen auf dem Katheder ausgebreitet hatte und in die ansteigenden Reihen des Hö rsaals schaute. »Meine Damen und Herren«, begann er, »heute mö chte ich Ihnen von einem Verfahren berichten, fü r das sich unter amerikanischen Soziologen der Jargonausdruck -to garfinkel somebody¬ eingebü r- gert hat.« Leichtes Kichern. »Einige von Ihnen werden davon gehö rt haben. Der wissenschaftliche Ausdruck, den ihm sein Erfinder Harold Garfinkel gibt, heiût Ethnomethodologie. Ich gebe zu, ein etwas schwergä ngiger Begriff, aber ehren wir damit seinen Erfinder. Worum geht es dabei? Nun, ich habe in der letzten Stunde von den Strukturen der Alltagswelt gesprochen, der Basis unseres Realitä tsgefüh ls, dem Hintergrundwissen, das alle Menschen einer Kultur miteinander teilen, der Summe der Selbstverstä ndlichkeiten und Fraglosigkeiten, die unsere Wahrnehmungsmatrix organisiert. Dazu gehö ren sowohl eine eigene Logik wie auch die Geltung fragloser Gegebenheiten. Diese Strukturen der Alltagswelt sind vor allem von dem Phä nomenologen Alfred Schü tz und seinen Schü lern Berger und Luckmann in folgendem Buch be-

310

Соседние файлы в предмете [НЕСОРТИРОВАННОЕ]