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Remarque_-_Zeit_zu_Leben_und_Zeit_zu_Sterben

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besonders weil ein Vorgesetzter es besorgte. Das wirkte, als trüge man bereits Zivil. Nachmittags hielten sie wieder. Eine Gulaschkanone stand draußen. Sie gingen, Essen zu empfangen. Lüttjens ging nicht mit. Graeber sah, daß er die Lippen eilig bewegte. Er hielt dabei die gesunde Hand so, als falte er sie in eine unsichtbare andere. Die Linke war verbunden und hing in seiner Jacke. Es gab Kohlsuppe. Sie war lauwarm.

Es war Abend, als sie an die Grenze kamen. Der Zug wurde geräumt. Die Urlauber wurden gesammelt zu einer Entlausungsstation geführt. Sie gaben ihre Kleider ab und saßen nackt in der Baracke, um die Läuse an ihrem Körper sterben zu lassen. Der Raum war warm, das Wasser warm, und es gab Seife, die stark nach Karbol roch. Zum erstenmal seit Monaten saß Graeber in einem wirklich warmen Zimmer. An der Front hatten sie zwar manchmal Öfen gehabt; aber da war immer nur die Seite, die man zum Feuer hielt, gewärmt worden; die andere hatte gefroren. Hier war der ganze Raum warm. Die Knochen konnten endlich auftauen. Die Knochen und der Schädel. Der Schädel war länger eingefroren gewesen.

Sie saßen herum und suchten Läuse und knackten sie. Graeber hatte keine Kopfläuse. Filzläuse und Kleiderläuse gingen nicht auf den Kopf, das war ein altes Gesetz. Die Läuse respektierten ihre gegenseitigen Territorien; sie kannten keinen Krieg. Die Wärme machte ihn schläfrig. Er sah die blassen Körper der Kameraden, die Frostbeulen der Füße und die roten Risse der Narben.SiewarenplötzlichkeineSoldatenmehr.IhreUniformen hingen irgendwo im Dampf; sie waren nackte Menschen, die Läuse knackten, und ihre Unterhaltung wurde sofort anders. Sie

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sprachen nicht mehr vom Kriege. Sie sprachen vom Essen und von Frauen.

»Sie hat ein Kind«, sagte einer, der Bernhard hieß. Er saß neben Graeber und hatte Läuse in den Augenbrauen, die er mit Hilfe eines kleinen Spiegels fing. »Zwei Jahre war ich nicht da, und das Kind ist vier Monate alt. Sie behauptet, es wäre vierzehn Monate und von mir. Aber meine Mutter hat mir geschrieben, es wäre von einem Russen. Sie hat auch erst vor zehn Monaten angefangen, davon zu schreiben. Vorher nie. Was meint ihr?»

»Das kommt vor«, sagte ein Kahlkopf gleichgültig. »Es gibt viele Kinder von Kriegsgefangenen auf dem Lande.»

»So? Ja, aber was soll ich da nur machen?»

»Ich würde die Frau rausschmeißen«, erklärte jemand, der seine Füße neu verband. »Es ist eine Schweinerei.»

»Schweinerei? Wieso Schweinerei?« Der Kahlkopf winkte ab. »ImKriegistsoetwasandersalssonst.Manmußdasverstehen. Was ist es denn? Ein Junge oder ein Mädchen?»

»Ein Junge. Sie schreibt, er sähe aus wie ich.»

»Wenn es ein Junge ist, kannst du ihn behalten. Er ist nützlich. Auf dem Lande braucht man immer Hilfe.»

»Aber es ist doch ein halber Russe —»

»Was macht das? Die Russen sind Arier. Und das Vaterland braucht Soldaten.« Bernhard legte den Spiegel weg. »So einfach ist das nun doch nicht. Du kannst leicht reden. Dir ist es nicht passiert.»

»Möchtest du vielleicht lieber, daß irgendein reklamierter fetter Heimatbulle deiner Frau ein Kind gemacht hätte?»

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»Das sicher nicht.» »Na, siehst du.»

»Sie hätte auf mich warten können«, sagte Bernhard leise und verlegen. Der Kahlkopf hob die Schultern. »Manche warten und manche nicht. Man kann nicht alles verlangen, wenn man für Jahre nicht nach Hause kommt!»

»Bist du auch verheiratet?» »Nein. Gott sei Dank nicht.»

»Russen sind keine Arier«, sagte plötzlich ein mäusehafter Mann mit spitzem Gesicht und kleinem Mund. Er hatte bis dahin geschwiegen.

Alle sahen ihn an. »Da irrst du dich«, erwiderte der Kahlkopf. »Es sind Arier. Wir waren ja mit ihnen verbündet»

»Es sind Untermenschen, bolschewistische Untermenschen. Keine Arier. So sind die Bestimmungen.»

»Du irrst dich. Polen, Tschechen und Franzosen sind Untermenschen.DieRussenbefreienwirvondenKommunisten. Es sind Arier. Die Kommunisten natürlich ausgenommen. Vielleicht keine Herrenarier wie wir. Aber sie werden nicht ausgerottet.« Die Maus wurde stutzig. »Es waren immer Untermenschen«, erklärte sie. »Ich weiß das genau. Reine Untermenschen.»

»Das hat sich längst geändert. So wie bei den Japanern. Die sind jetzt auch Arier, seit sie unsere Verbündeten im Krieg sind. Gelbe Arier.»

»Ihr habt beide unrecht«, sagte ein außerordentlich behaarter Baß. »Die Russen waren keine Untermenschen, als wir noch

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mit ihnen verbündet waren. Sie sind es dafür jetzt. So steht die Sache.»

»Was soll er dann mit dem Kind machen?» »Abliefern«,sagtedieMausmitneuerAutorität.»Schmerzloser

Gnadentod. Was sonst?» »Und die Frau?»

»Das ist Sache der Behörden. Gebrandmarkt, Kopf rasiert, Konzentrationslager, Zuchthaus oder Galgen.»

»Sie haben ihr bis jetzt nichts getan«, sagte Bernhard. »Sie wissen es wahrscheinlich noch nicht.»

»Sie wissen es. Meine Mutter hat es angezeigt.»

»Dann ist die Behörde verseucht und schlampig. Sie gehört dann ebenfalls ins Konzentrationslager. Oder an den Galgen.» »Ach, Mensch, laß mich in Ruhe«, erklärte Bernhard plötzlich

wütend und wandte sich ab.

»Ein Franzose wäre nach allem vielleicht besser gewesen«, sagte der Kahlkopf. »Das sind nur halbe Untermenschen, nach den letzten Forschungen.»

»Es sind entartete Mittelmenschen.« Der Baß sah Graeber an. Graeber entdeckte in seinem mächtigen Gesicht ein leichtes Schmunzeln.

Jemand mit einer Hühnerbrust, der auf Säbelbeinen unruhig durch den Raum wanderte, blieb stehen. »Wir sind Herrenmenschen«, sagte er. »Und das andere sind Untermenschen, das ist klar; — aber was sind nun eigentlich einfache Menschen?« Der Kahlkopf dachte nach. »Schweden«, sagte er dann. »Oder Schweizer.»

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»Wilde«, erklärte der Baß. »Wilde, natürlich.»

»Weiße Wilde gibt es doch gar nicht mehr«, sagte die Maus. »Nein?« Der Baß starrte sie scharf an.

Graeber duselte ein. Er hörte, wie die anderen wieder begannen, von Frauen zu reden. Er wußte nicht viel davon. Die Rassentheorien seines Vaterlandes paßten nicht zu dem, was er sich unter Liebe vorstellte. Er wollte nicht an Zuchtwahl, Ahnentafel und Gebärtüchtigkeit dabei denken. Und als Soldat hatte er wenig mehr kennengelernt als ein paar Huren in den Ländern, in denen er gekämpft hatte. Sie waren ebenso sachlich gewesen wie die Mitglieder des Bundes Deutscher Mädchen; aber bei ihnen war es wenigstens ihr Beruf.

Sie bekamen ihre Sachen zurück und zogen sich an. Plötzlich warensiewiederSchützen,Gefreite,FeldwebelundUnteroffiziere. Der Mann mit dem russischen Kind stellte sich als Unteroffizier heraus. Der Baß ebenso. Die Maus war Trainsoldat. Sie drückte sich, als sie sah, daß die andern Unteroffiziere waren. Graeber betrachtete seinen Waffenrock. Er war noch warm und roch nach Säuren. Unter den Schnallen der Hosenträger fand er eine Kolonie geflüchteter Läuse. Sie waren tot. Vergast. Er kratzte sie weg. Man führte sie in eine Baracke. Ein NS-Führungsoffizier hielt eine Ansprache. Er stand auf einem Podium, hinter dem ein Bild des Führers hing, und erklärte ihnen, daß sie jetzt, wo sie in die Heimat gingen, eine große Verantwortung hätten. Nichts dürfe geäußert werden über die Zeit an der Front. Nichts über Stellungen, Orte, Truppenteile, Truppenbewegungen und Plätze. Überall lauerten Spione. Schweigen sei deshalb das wichtigste. Wer schwätze, müsse mit schwerer Bestrafung

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rechnen. Auch unsachgemäße Kritik sei Landesverrat. Den Krieg führe der Führer; er wisse, was er tue. Die Situation sei glänzend, die Russen seien am Verbluten; sie hätten unerhörte Verluste gehabt, und der Gegenangriff sei in Vorbereitung. Die Verpflegung sei erstklassig, der Geist der Truppen ausgezeichnet. Noch einmal: irgendwelche Ortsnamen und Truppenstellungen anzugeben, sei Hochverrat. Miesmacherei ebenso. Der Offizier machte eine Pause. Dann erklärte er in verändertem Ton, der Führer wache trotz seiner ungeheuren Arbeit über alle seine Soldaten. Er habe bestimmt, daß jeder Urlauber ein Geschenk in die Heimat mitbringen solle. Zu diesem Zweck würde ihm ein Eßpaket ausgehändigt werden. Es sei den Angehörigen zu Hause zu übergeben, als Beweis dafür, daß die Truppen es draußen gut hätten und daß sie sogar noch Geschenke mitbringen könnten. Wer das Paket unterwegs aufmache und selbst esse, würde bestraft. Kontrolle am Bestimmungsbahnhof würde das zeigen. Heil Hitler!

Sie standen stramm. Graeber erwartete das Deutschlandund das Horst-Wessel-Lied; das Dritte Reich war groß in Liedern. Aber nichts davon kam. Statt dessen kam der Befehl: »Urlauber nach dem Rheinland drei Schritte vortreten!« Ein paar Leute marschierten vor die Front. »Der Urlaub nach dem Rheinland ist gesperrt worden«, erklärte der Offizier. Er wandte sich an den Nächststehenden. »Wohin wollen Sie statt dessen?»

»Nach Köln.»

»Ich habe Ihnen doch gerade gesagt, daß das Rheinland gesperrt worden ist. Wohin wollen Sie statt dessen?»

»Nach Köln«, sagte der Mann verständnislos. »Ich bin aus

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Köln.»

»Sie können nicht nach Köln, verstehen Sie das nicht? In welche andere Stadt wollen Sie fahren?»

»In keine andere Stadt. In Köln habe ich Frau und Kinder. Ich war Schlosser dort. Mein Urlaubsschein ist nach Köln ausgestellt.»

»Das sehe ich. Aber Sie können nicht dahin fahren. Verstehen Sie doch endlich! Köln ist im Augenblick für Urlauber gesperrt.»

»Gesperrt?« fragte der frühere Schlosser. »Warum?»

»Sind Sie verrückt geworden, Mensch? Wer hat hier zu fragen? Sie oder die Behörde?« Ein Hauptmann kam heran und flüsterte dem Offizier etwas zu. Der nickte. »Urlauber nach Hamburg und dem Elsaß vortreten!« kommandierte er dann.

Niemand trat vor. »Rheinländer hierbleiben! Die übrigen ohne Tritt linksum marsch! Antreten zum Empfang der Heimatpakete!« Sie standen wieder auf dem Bahnhof. Die Rheinländer kamen bald dazu. »Was war los?« fragte der Baß. »Du hast es ja gehört.»

»Du kannst nicht nach Köln? Wohin fährst du jetzt?» »Nach Rothenburg. Ich habe da eine Schwester. Aber was

soll ich in Rothenburg? Ich wohne in Köln. Was ist los in Köln? Warum kann ich nicht nach Köln?»

»Vorsicht!« sagte jemand und blickte nach zwei SS-Leuten, die knarrend vorüberschritten.

»Ich pfeife auf die! Was soll ich in Rothenburg? Wo ist meine Familie? Sie war in Köln. Was ist passiert?»

»Vielleicht ist deine Familie auch in Rothenburg.»

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»Sie ist nicht in Rothenburg. Da ist kein Platz. Meine Frau und meine Schwester können sich auch nicht ausstehen. Was ist in Köln los?« Der Schlosser starrte die andern an. Er hatte Tränen in den Augen. Seine dicken Lippen bebten. »Weshalb könnt ihr nach Hause und ich nicht? Nach all der Zeit! Was ist los? Was ist aus meiner Frau und meinen Kindern geworden? Georg hieß der Älteste. Elf Jahre alt. Was?»

»Hör zu«, sagte der Baß. »Du kannst nichts dagegen machen. Schick deiner Frau ein Telegramm. Laß sie nach Rothenburg

kommen. Sonst siehst du sie überhaupt nicht.»

»UnddieReise?Werbezahltihrdas?Undwosollsiewohnen?» »Wenn du nicht nach Köln darfst, lassen sie deine Frau auch nicht raus«, sagte die Maus. »Das ist sicher. So sind die Bestimmungen.« Der Schlosser öffnete den Mund, sagte aber

nichts. Erst nach einer Weile sagte er: »Warum nicht?» »Überleg dir das selber.« Der Schlosser sah sich um. Er blickte

von einem zum andern. »Es kann doch nicht alles kaputt sein! Das ist doch unmöglich!»

»Seifroh,daßsiedichnichtgleichandieFrontzurückschicken«, sagte der Baß. »Das hätte auch sein können.« Graeber hörte schweigend zu. Er spürte, daß er fröstelte und daß das Frieren nicht von außen kam. Das Ungreifbare, Gespenstische war wieder da, das schon so lange herumschlich, das nie ganz zu fassen war, das auswich und wiederkam und einen anstarrte und hundert undeutliche Gesichter hatte und keines. Er blickte auf die Schienen. Sie führten in die Heimat, in das Feste, Warme, Wartende, in den Frieden, das einzige, was noch geblieben war.

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Und nun schien das von draußen mitgeschlichen zu sein, es atmete unheimlich neben ihm und war nicht zu verscheuchen.

»Urlaub«, sagte der Mann aus Köln bitter. »Das ist mein Urlaub; Was nun?« Die anderen sahen ihn an und antworteten ihm nicht mehr. Es war, als sei an ihm plötzlich eine verborgen gewesene Krankheit sichtbar geworden. Er war unschuldig, aber er schien sonderbar gezeichnet, und unmerklich rückten die anderen von ihm ab. Sie waren froh, daß es sie nicht getroffen hatte, aber sie waren selbst auch noch nicht sicher — deshalb rückten sie weg. Unglück war ansteckend.

Der Zug rollte langsam in die Halle. Er war schwarz und verdunkelte das letzte Licht.

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6Am Morgen war die Landschaft verändert. Sie stieg klar aus dem weichen Dunst der Frühe. Graeber saß jetzt am Fenster, das Gesicht gegen die Scheibe gepreßt. Er

sah Äcker und Felder, gefleckt noch mit Schnee, aber darunter die schwarzen, regelmäßigen Furchen des Pfluges und den blaßgrünen Schimmer der jungen Saat. Keine Granattrichter. Keine Zerstörung. Flache, glatte Ebene. Keine Schützengräben. Keine Bunker. Land. Dann kam das erste Dorf. Eine Kirche, auf der ein Kreuz flimmerte. Ein Schulhaus, über dem sich ein Wetterhahn langsam drehte. Eine Kneipe, vor der Leute standen. Offene Haustüren, Mägde mit Besen, ein Fuhrwerk, der erste Schein der Sonne in Fenstern, die heil waren. Dächer, die ganz waren, unzerstörte Häuser, Bäume, die all ihre Äste hatten, Straßen, die Straßen waren, und Kinder, die zur Schule gingen. Kinder hatte Graeber schon lange nicht mehr gesehen. Er atmete tief. Dies war es, worauf er gewartet hatte. Es war da. Doch da! »Sicht gleich anders aus hier, was?« fragte ein Unteroffizier vom nächsten Fenster. »Ganz anders.« Der Dunst hob sich mehr und mehr. Wälder wuchsen aus dem Horizont. Man konnte weithin sehen.TelegraphendrähtebegleitetendenZug.Sieschwangenauf und nieder — Notenlinien einer endlosen, unhörbaren Melodie. Vögel flatterten von ihnen auf wie Lieder. Die Landschaft war still. Das Grollen der Front war versunken. Keine Flugzeuge mehr. Es schien Graeber, als sei es bereits Wochen her, daß er unterwegs war. Selbst die Erinnerung an seine Kameraden war plötzlich verblaßt.

»Was ist heute für ein Tag?« fragte er. »Donnerstag.»

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