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Remarque_-_Zeit_zu_Leben_und_Zeit_zu_Sterben

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8Der Morgen kam strahlend herauf. Es dauerte eine Weile, ehe Graeber wußte, wo er war; so war er gewohnt, in Ruinen zu schlafen. Dann aber kam alles mit einem

Ruck zurück. Er lehnte sich gegen die Treppe und versuchte zu denken. Die Katze saß ein Stück entfernt von ihm unter einer halb verschütteten Badewanne und putzte sich friedlich. Die Zerstörung ging sie nichts an.

Er sah auf seine Uhr. Es war noch zu früh für das Bezirksamt. Langsam stand er auf. Seine Gelenke waren steif, seine Hände blutig und schmutzig. In der Badewanne fand er etwas klares Wasser — wahrscheinlich ein Rest von den Löschversuchen oder vom Regen. Aus dem Wasser sah ihm sein Gesicht entgegen. Es war ihm fremd. Er holte ein Stück Seife aus dem Tornister und begann sich zu waschen. Das Wasser wurde schwarz, und die Hände fingen wieder an zu bluten. Er hielt sie in die Sonne, um sie zu trocknen. Dann sah er an sich herunter. Seine Hose war zerrissen, sein Rock schmutzig. Er rieb mit dem nassen Taschentuch daran herum. Mehr konnte er nicht tun. Er hatte Brot im Tornister. In der Feldflasche war noch Kaffee. Er trank den Kaffee und aß das Brot dazu. Er war plötzlich sehr hungrig. Seine Kehle war so rauh, als hätte er die ganze Nacht durch geschrien. Die Katze kam heran. Er brach ein Stück Brot ab und hielt es ihr hin. Sie nahm es vorsichtig, trug es fort und hockte sich nieder, um es zu kauen. Sie beobachtete ihn dabei. Ihr Fell war schwarz, und sie hatte eine weiße Pfote. In dem zerbrochenen Glas zwischen den Trümmern blinkte die Sonne. Er nahm seinen Tornister und kletterte zur Straße hinunter. Unten blieb er stehen und sah sich um. Er kannte die Silhouette

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der Stadt nicht wieder. Überall waren Lücken wie in einem beschädigten Gebiß. Die grüne Kuppel des Doms fehlte. Die Katharinenkirche war eingestürzt. Die Dächerreihen rundum waren räudig und zerfressen, als hätten riesige, vorweltliche Insekten einen Ameisenhaufen zerwühlt. In der Hakenstraße standen nur noch vereinzelte Häuser. Die Stadt sah nicht mehr aus wie die Heimat, die er erwartet hatte; sie sah aus, als läge sie in Rußland.

Die Tür des Hauses, von dem nur noch die Fassade stand, öffnete sich. Der Luftschutzwart vom Abend vorher trat heraus. Es war geisterhaft, ihn aus einem Hause, das keins mehr war, herauskommen zu sehen, als sei alles in Ordnung. Er winkte. Graeber zögerte einen Moment. Er erinnerte sich, daß der Oberscharführer erklärt hatte, der Mann sei verrückt. Dann ging er trotzdem hinüber.

Der Luftschutzwart bleckte die Zähne. »Was machen Sie hier?« fragte er scharf. »Plündern? Wissen Sie nicht, daß es verboten ist —»

»Mensch!« sagte Graeber. »Lassen Sie Ihren verfluchten Unsinn! Sagen Sie mir lieber, ob sie etwas von meinen Eltern wissen!PaulundMarieGraeber.Siehabendrübengewohnt.«Der Luftschutzwart näherte ihm sein hageres, stoppeliges Gesicht. »Ah, Sie sind es! Der Frontkämpfer von gestern abend! Schreien Sie nur nicht so, Soldat! Glauben Sie, Sie sind der einzige, der jemand verloren hat? Was denken Sie, was das da ist?« Er zeigte zu dem Haus hinüber, aus dem er gekommen war. »Was?»

»Das da! An der Tür! Haben Sie keine Augen? Meinen Sie, das wäre ein Witzblatt?« Graeber antwortete nicht. Er sah, daß

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die Tür langsam im Winde schwang und daß die Füllung der Außenseite mit Zetteln beklebt war. Rasch ging er hinüber.

Es waren Adressen und Aufrufe für Vermißte. Einige waren mit Bleistift, Tinte oder Kohle direkt auf die Türfüllung geschrieben; die meisten jedoch auf Blätter, die mit Heftzwecken oder Klebpapier festgemacht worden waren. »Heinrich und Georg, kommt zu Onkel Hermann. Irma tot. Mutter.« stand auf einem großen, linierten Blatt, das aus einem Schulheft gerissen und mit vier Heftzwecken befestigt war. Gleich darunter, auf dem Pappdeckel einer Schuhschachtel: »Um Gottes willen, gebt Nachricht über Brunhilde Schmidt, Thüringerstraße 4.« Daneben, auf einer Postkarte: »Otto, wir sind in Haste, Volksschule.« Und ganz unten, nach den Adressen mit Bleistift und Tinte, auf einer spitzengeränderten Papierserviette, mit bunten Pastellstiften: »Marie, wo bist du?«, ohne Unterschrift.

Graeber richtete sich auf. »Nun?« fragte der Luftschutzwart. »Sind Ihre dabei?»

»Nein. Sie haben nicht gewußt, daß ich kam.« Der Verrückte verzog das Gesicht, als lache er lautlos. »Keiner weiß etwas vom andern, Soldat. Keiner! Und die Falschen kommen immer durch. Den Lumpen passiert nichts. Haben Sie das noch nicht gelernt?»

»Doch.»

»DanntragenSiesichein!TragenSiesicheinindieElendsliste! Und dann warten Sie! Warten Sie, wie wir alle. Warten Sie, bis Sie schwarz werden!« Das Gesicht des Luftschutzwarts veränderte sich. Es ward plötzlich zerrissen wie von einem fassungslosen

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Schmerz.

Graeber wandte sich ab. Er bückte sich und suchte im Schutt nach irgend etwas, auf das er schreiben konnte. Er fand den Farbendruck eines Hitlerbildes, das in einem zerbrochenen Rahmen hing. Die Rückseite war weiß und unbedruckt. Er riß den oberen Teil ab, holte einen Bleistift hervor und dachte nach. Er wußte plötzlich nicht, was er schreiben sollte. »Bitte um Nachricht über Paul und Marie Graeber«, schrieb er schließlich in Blockbuchstaben. »Ernst hier auf Urlaub.»

»Hochverrat«, sagte der Luftschutzwart leise hinter ihm. »Was?« Graeber fuhr herum.

»Hochverrat! Sie haben ein Bild des Führers zerrissen.» »EswarzerrissenundlagimDreck«,erklärteGraeberärgerlich.

»Und nun lassen Sie mich in Ruhe mit Ihrem Quatsch!« Er fand nichts, womit er den Zettel aufhängen konnte. Schließlich löste er von den vier Heftzwecken, mit denen der Aufruf der Mutter befestigt war, zwei ab und machte seinen eigenen damit fest. Er tat es nicht gern; es schien ungefähr so, als stehle er einen Kranz von einem fremden Sarge. Aber er hatte nichts anderes, und zwei Heftzwecken hielten den Aufruf der Mutter ebensogut wie vier.

Der Luftschutzwart hatte ihm über die Schulter gesehen. »Fertig!« erklärte er, als gäbe er ein Kommando. »Und nun Sieg Heil, Soldat! Trauern verboten! Trauerkleidung auch! Schwächt den Kampfgeist! Seien Sie stolz, daß Sie Opfer bringen dürfen! Wenn ihr Schweinehunde eure Pflicht getan hättet, wäre dieses hier nie passiert!« Er wandte sich abrupt um und stakte auf langen, dünnen Beinen davon.

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Graeber vergaß ihn sofort. Er riß ein kleines Stück von dem Rest des Hitlerbildes und schrieb eine Adresse darauf, die er auf der Türfüllung gefunden hatte. Es war die der Familie Loose. Er kannte sie und wollte dort nach seinen Eltern fragen. Dann zerrte er den Rest des Drucks aus dem Rahmen, schrieb auf die Rückseite noch einmal dasselbe wie auf die andere Hälfte und ging zum Hause Nummer achtzehn zurück. Dort klemmte er den Zettel zwischen zwei Steine, so daß er gut sichtbar war. Er hatte so zwei Möglichkeiten, daß sein Aufruf gesehen würde. Es war alles, was er im Augenblick tun konnte. Eine Weile stand er noch vor dem Haufen von Schutt und Steinen, von dem er nicht wußte, ob er ein Grab war oder nicht. Der Samtsessel in der Nische leuchtete wie ein Smaragd in der Sonne. Eine Kastanie neben ihm auf der Straße war völlig unversehrt geblieben. Ihr Laub schimmerte zärtlich in der Sonne, und Buchfinken zwitscherten in ihr und bauten ein Nest.

Er sah nach der Uhr. Es war an der Zeit, zum Rathaus zu gehen.

Die Schalter der Vermißtenstelle waren aus neuem Holz notdürftig zusammengezimmert. Sie waren nicht gestrichen und rochen nach Harz und Wald. An einer Seite des Raums war die Decke eingestürzt. Zimmerleute legten dort Balken und hämmerten. Überall standen Leute und warteten schweigend und geduldig. Ein einarmiger Beamter und zwei Frauen saßen hinter den Schaltern.

»Name?« fragte die Frau am weitesten rechts. Sie hatte ein flaches, breites Gesicht und trug ein rotes Seidenband in ihrem strähnigen Haar.

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»Graeber. Paul und Marie Graeber. Steuersekretär. Hakenstraße achtzehn.»

»Was?« Die Frau hielt die Hand ans Ohr.

»Graeber«, wiederholte Graeber lauter durch das Gehämmer. »Paul und Marie Graeber. Steuersekretär.« Die Beamtin schlug nach. »Graeber, Graeber —«, ihr Finger glitt die Kolonne

entlang und hielt. »Graeber — ja — wie war der Vorname?» »Paul und Marie.»

»Wie?»

»Paul und Marie!« Graeber ward plötzlich sehr wütend. Es schien ihm unerträglich, daß er sein Elend auch noch schreien mußte.

»Nein. Dieser heißt Ernst Graeber.»

»Ernst Graeber heiße ich selbst. Es gibt keinen anderen in unserer Familie.»

»Nun, Sie können es ja nicht sein. Andere Graeber haben wir hier nicht.« Die Angestellte sah auf und lächelte. »Wenn Sie wollen, können Sie in einigen Tagen wieder anfragen. Wir haben noch nicht alle Meldungen. Der nächste.« Graeber blieb stehen. »Wo kann man sonst noch fragen?« Die Sekretärin glättete das rote Seidenband in ihrem Haar. »Auf dem Meldeamt. Der nächste.« Graeber spürte, wie jemand ihm in den Rücken stieß. Es war eine kleine alte Frau mit Händen wie Vogelklauen, die hinter ihm stand. Er trat beiseite.

Eine Weile stand er noch unentschlossen neben dem Schalter. Er konnte nicht begreifen, daß das schon alles war. Es war zu

schnell gegangen. Sein Verlust war zu groß dafür.

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Der einarmige Beamte sah ihn und beugte sich zu ihm hinüber.

»Seien Sie froh, daß Ihre Angehörigen hier nicht eingetragen sind«, sagte er.

»Warum?»

»Dies sind Listen für Tote und Schwerverwundete. Solange sie nicht bei uns gemeldet sind, sind sie nur vermißt.»

»Und die Vermißten? Wo sind die Listen dafür?« Der Beamte blickte ihn an mit der Geduld eines Menschen, der acht Stunden täglich mit fremdem Unglück zu tun hat ohne helfen zu können. »Seien Sie vernünftig, Mann«, sagte er. »Vermißte sind Vermißte. Was helfen da Listen? Damit weiß man doch immer noch nicht, was mit ihnen passiert ist. Wenn man es wüßte, wären sie ja keine Vermißten mehr. Stimmt’s?« Graeber starrte ihn an. Der Beamte schien stolz auf seine Logik zu sein. Aber Vernunft und Logik gingen schlecht zusammen mit Verlust und Schmerz. Und was sollte man schon einem Mann antworten, der einen Arm verloren hatte? »Wahrscheinlich«, sagte Graeber und wendete sich ab. Er fragte sich zum Meldeamt durch. Es lag in einem anderen Flügel des Rathauses und roch nach Säuren und Brand. Nach langem Warten kam er an eine nervöse Frau mit einem Kneifer. »Ich weiß nichts«, zeterte sie sofort. »Hier ist nichts mehr festzustellen. Die Kartei ist völlig durcheinander. Ein Teil ist verbrannt, den Rest haben die Tölpel von der Feuerwehr mit ihrem Wasser ruiniert.»

»Weshalb habt ihr die Akten nicht in Sicherheit gebracht?« fragte ein Unteroffizier, der neben Graeber stand. »Sicherheit?

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Wo ist Sicherheit? Wissen Sie das vielleicht? Ich bin nicht der Magistrat. Beschweren Sie sich da.« Die Frau blickte trostlos auf einen wüsten Haufen nasser Papierfetzen. »Alles zerstört! Das ganze Meldeamt! Was soll daraus nur werden? Jeder kann sich jetzt ja nennen, wie er will!»

»Das wäre furchtbar, was?« Der Unteroffizier spuckte aus und stieß Graeber an. »Komm, Kamerad. Die hier sind alle miteinander verrückt geworden.« Sie gingen hinaus und standen vor dem Rathaus. Die Häuser rundum waren niedergebrannt. Vom Denkmal Bismarcks standen nur noch die Stiefel. Ein Schwarm weißer Tauben kreiste um den eingestürzten Turm der Marienkirche. »Schöne Scheiße, was?« sagte der Unteroffizier. »Wen suchst du?»

»Meine Eltern.»

»Ich meine Frau. Hatte ihr nicht geschrieben, daß ich käme. Wollte sie überraschen. Und du?»

»So ähnlich. Wollte meine Eltern nicht unnötig aufregen. Mein Urlaub war schon ein paarmal verschoben worden. Dann kam er plötzlich durch. Ich konnte nicht mehr schreiben.»

»Schöner Mist! Was willst du jetzt machen?« Graeber blickte über den zerstörten Marktplatz. Seit 1933 hieß er Hitlerplatz. Davor, nach dem verlorenen ersten Kriege, hatte er Ebertplatz geheißen; davor Kaiser-Wilhelm-Platz und davor Marktplatz. »Ich weiß es nicht«, sagte er. »Ich verstehe das alles noch nicht. Man kann sich doch nicht einfach so verlieren, hier mitten in Deutschland —»

»Nein?« Der Unteroffizier blickte Graeber mit einer Mischung

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von Ironie und Mitleid an. »Mein lieber Schwan, da wirst du noch schön staunen! Ich suche meine Frau bereits fünf Tage. Fünf Tage, von morgens bis abends, und sie ist vom Erdboden verschwunden, als wäre sie verhext!»

»Aber wie ist das möglich? Irgendwo...»

»Verschwunden«, wiederholte der Unteroffizier. »Und so sind ein paar tausend andere. Einen Teil davon hat man abtransportiert. In Notlager und kleine Städte. Finde mal raus, wo die sind, wenn die Post nicht mehr richtig funktioniert. Ein anderer Teil ist scharenweise auf die Dörfer geflüchtet.»

»Die Dörfer«, sagte Graeber erleichtert. »Natürlich! Daran habe ich nicht gedacht. Die Dörfer sind sicher. Da werden sie sein —»

»Dawerdensiesein,hatsichwas!«DerUnteroffizierschnaubte verächtlich. »Damit bist du noch nicht ein bißchen weiter! Weißt du, daß diese verdammte Stadt fast zwei Dutzend Dörfer um sich herumliegen hat? Bevor du da durch bist, ist dein Urlaub zu Ende, verstehst du?« Graeber verstand es, und es war ihm egal. Alles, was er wollte, war, daß seine Eltern lebten. Wo, das war ihm bereits gleich. »Hör zu, Kamerad«, sagte der Unteroffizier ruhiger. »Du mußt die Sache richtig anfassen. Wenn du wild herumrennst, verlierst du nur Zeit und wirst verrückt. Du mußt es organisieren. Was hast du zuerst vor?»

»Ich weiß es noch nicht. Ich denke, ich werde versuchen, bei Bekannten etwas zu erfahren. Ich habe auch noch eine Adresse gefunden von Leuten, die ausgebombt worden sind. Aus derselben Straße.»

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»Du wirst nicht viel erfahren. Alle haben Angst, die Schnauze aufzumachen. Ich habe es erlebt. Immerhin, du kannst es versuchen. Paß auf! Wir können uns gegenseitig helfen. Da, wo du fragst, fragst du gleich mit nach meiner Frau, und da, wo ich frage, frage ich mit nach deinen Eltern. Gemacht?»

»Gemacht.»

»Gut. Ich heiße Böttcher. Meine Frau heißt Alma mit Vornamen. Schreib es dir auf.« Graeber schrieb es auf. Dann schrieb er die Namen seiner Eltern auf einen Zettel und gab ihn Böttcher. Der las ihn sorgfältig und steckte ihn ein. »Wo wohnst du, Graeber?»

»Keine Ahnung. Ich muß sehen, daß ich was finde.»

»Es gibt in der Kaserne Notquartiere für ausgebombte Urlauber.

Melde dich auf der Kommandantur, dann kriegst du einen Über weisungsschein. Warst du schon da?»

»Noch nicht.»

»Sieh zu, daß du auf Stube achtundvierzig kommst. Das ist das Revier. Es gibt besseres Essen da als auf den andern Buden. Ich bin auch da.« Böttcher zog einen Zigarettenstummel aus der Tasche, betrachtete ihn und steckte ihn wieder weg. »Ich klappere heute die Krankenhäuser ab. Wir können uns abends irgendwo treffen. Vielleicht weiß dann einer von uns schon etwas.»

»Gut. Wo?»

»Am besten hier. Neun Uhr?»

»Gemacht.« Böttcher nickte und blickte dann in den blauen Himmel. »Sieh dir das an«, sagte er bitter. »Frühling. Und fünf

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