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Remarque_-_Zeit_zu_Leben_und_Zeit_zu_Sterben

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08.06.2015
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»Brauchen Sie mehr als zwei Leute?»

»Nein. Der Stall ist sicher. Ich kann es fast allein machen, wenn ich nachts da schlafe. Niemand kann heraus.»

»Gut. Machen wir es so. Wir brauchen die Rekruten, um ihnen in Eile noch etwas Kampftechnik beizubringen. Die Meldungen...« Rahe brach ab. Er sah schlecht aus. »Sie wissen ja selber was los ist. Also gehen Sie.« Graeber holte seine Sachen. Er kannte nur noch wenige Leute von seinem Zug. »Wirst du Gefangenenwärter?« fragte Immermann.

»Ja. Ich kann mich da ausschlafen. Es ist besser, als das junge Gemüse zu drillen.»

»Du wirst nicht viel Zeit dazu haben. Weißt du, was an der Front vorgeht?»

»Es klingt nach Schlamassel.»

»Es ist schon wieder ein Rückzugsgefecht. Die Russen brechen überall durch. Ein Haufen Latrinenparolen kommt seit einer Stunde herein. Große Offensive. Dieses hier ist nur flaches Land. Da ist nichts zu halten. Wir müssen dieses Mal weit zurück.»

»Glaubst du, daß wir Schluß machen werden, wenn wir an die deutsche Grenze kommen?»

»Glaubst du es?» »Nein.»

»Ich auch nicht. Wer kann bei uns schon Schluß machen? Der Generalstab sicher nicht. Der nimmt die Verantwortung dafür nicht auf sich.« Immermann grinste schief. »Im letzten Kriege konnte er sie einer provisorischen neuen Regierung zuschieben, die man rasch vorher gebildet hatte. Die dummen Trottel hielten

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den Kopf hin, unterschrieben den Waffenstillstand und wurden acht Tage später beschuldigt, das Vaterland verraten zu haben. Heute gibt es das nicht. Totale Regierung — totale Niederlage. Es gibt keine zweite Partei zum Verhandeln.»

»AußerdenKommunisten«,sagteGraeberbitter.»Eineandere totale Regierung. Dieselben Menschen. Ich gehe schlafen. Alles, was ich im Leben einmal möchte, ist denken, was ich will, sagen, was ich will, und tun, was ich will. Aber seit wir Messiasse von rechts und links haben, ist das ein weit größeres Verbrechen als jeder Mord.« Er nahm seinen Tornister und ging zur Feldküche. Dort faßte er seinen Schlag Bohnensuppe, sein Brot und seine Wurstration für das Nachtessen; so brauchte er nicht noch einmal ins Dorf zurück.

Es war ein sonderbar stiller Nachmittag. Die Rekruten waren gegangen, nachdem sie Stroh besorgt hatten. Die Front dröhnte, aber der Tag schien trotzdem ruhig zu bleiben. Vor dem Schuppen dehnte sich ein verwilderter Rasen, der zertreten war und Granatlöcher hatte, aber trotzdem grünte, und in dem ein paar Blumenbüsche am Rand des früheren Weges wuchsen. Graeber fand im Garten hinter der Birkenallee einen kleinen, halb erhaltenen Pavillon, von dem aus er den Stall übersehen konnte. Er fand darin sogar ein paar Bücher. Sie waren in Leder eingebunden und hatten einen verblaßten Goldschnitt. Regen und Schnee hatten sie zerstört. Nur noch eines war lesbar. Es war ein Band mit romantischen Stichen idealer Landschaften. Der Text war Französisch. Er blätterte das Buch langsam durch. Allmählich nahmen ihn die Bilder gefangen. Sie erweckten eine schmerzhafte und hoffnungslose Sehnsucht in ihm, die anhielt,

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nachdem er den Band schon lange zugeschlagen hatte. Er ging die Birkenallee entlang zu dem Teich. Zwischen Schmutz und Algen hockte dort der flötespielende Pan. Eins seiner Horner fehlte, aber sonst hatte er die Revolution, den Kommunismus und den Krieg überlebt. Er stammte, wie die Bücher, aus einer sagenhaften Zeit: der Zeit vor dem ersten Kriege. Es war eine Zeit, als Graeber noch nicht auf der Welt gewesen war. Er war nach dem ersten Krieg geboren, aufgewachsen im Elend der Inflation und der Unruhe der Nachkriegsjahre und aufgewacht in einem neuen Krieg. Er wanderte um das Bassin herum, an dem Pavillon vorbei, zu den Gefangenen zurück. Er betrachtete die eiserne Tür. Sie hatte nicht immer zu dem Stall gehört; sie war später angebracht worden. Vielleicht hatte der Mann, dem das Haus und der Park gehört hatten, selber hinter ihr auf den Tod warten müssen.

Die alte Frau schlief. Die Junge hockte in einer Ecke. Die beiden Männer standen und starrten in den Nachmittag. Sie sahen Graeber an. Das Mädchen blickte vor sich hin. Der älteste Russe beobachtete Graeber. Graeber drehte sich weg und legte sich auf den Rasen.

Wolken wanderten über den Himmel. Vögel zwitscherten in den Birken. Ein blauer Falter taumelte über die Granatlöcher, von Blüte zu Blüte. Nach einer Weile kam ein zweiter hinzu. Sie spielten miteinander und verfolgten sich. Das Rollen von der Front schwoll an. Die beiden Falter paarten sich und flogen verbunden durch die heiße, sonnige Luft. Graeber schlief ein.

Abends brachte ein Rekrut ein paar Portionen Essen für die Gefangenen. Es war die Bohnensuppe von mittags, mit Wasser

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verdünnt. Der Rekrut wartete, bis die Gefangenen gegessen hatten, dann nahm er die Näpfe wieder mit. Er brachte auch für Graeber seine Portion Zigaretten. Es waren mehr als sonst. Das war ein schlechtes Zeichen. Besseres Essen und mehr Zigaretten gab es nur, wenn schwere Tage bevorstanden.

»Wir haben heute abend zwei Stunden Extradienst angesetzt gekriegt«, sagte der Rekrut. Er sah Graeber ernsthaft an. »Gefechtsexerzieren, Handgranatenwerfen, Bajonettfechten.»

»Der Kompanieführer weiß, was er tut. Er will euch nicht schinden.« Der Rekrut nickte. Er betrachtete die Russen wie Tiere in einem Zoo. »Das dort sind Menschen«, sagte Graeber. »Ja, Russen.»

»Gut, Russen. Nimm dein Gewehr. Halte es schußbereit. Wir wollen die Frauen, eine nach der anderen, rauslassen.« Graeber sagte durch das Gitter: »Alles in die linke Ecke. Die alte Frau hierher. Später kommen die andern zum Austreten heraus.« Der älteste Russe sagte etwas zu den andern. Sie gehorchten. Der Rekrut hielt sein Gewehr bereit. Die alte Frau kam heran. Graeber öffnete die Tür, ließ sie heraus und schloß wieder ab. Die alte Frau begann zu weinen. Sie erwartete, erschossen zu werden. »Sagen Sie ihr, daß ihr nichts passiert. Sie soll nur ihre Bedürfnisse verrichten«, sagte Graeber zu dem alten Russen. Er sprach zu ihr. Sie hörte auf zu weinen. Graeber und der Rekrut führten sie zu einer Ecke des Hauses, wo zwei Mauern standen. Er wartete, bis sie wieder hervorkam, und ließ dann die Junge heraus. Sie ging rasch und biegsam ihm voran. Mit den Männern war es einfacher. Er führte sie um den Anbau herum und behielt sie in Sicht. Der junge Rekrut hielt ernsthaft

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sein Gewehr schußfertig, die Unterlippe vorgeschoben und ganz Eifer und Aufmerksamkeit. Er führte den letzten Mann zurück und schloß ab. »Das war aufregend«, sagte er. »So?« Graeber stellte sein Gewehr weg. »Du kannst jetzt gehen.« Er wartete, bis der Rekrut weg war. Dann holte er seine Zigaretten heraus und gab dem alten Mann für jeden eine. Er zündete ein Streichholz an und reichte es durch das Gitter. Alle rauchten. Die Zigaretten glühten im Halbdunkel und erleuchteten die Gesichter. Graeber sah die junge Russin an und spürte plötzlich eine unerträgliche Sehnsucht nach Elisabeth. »Sie — gut«, sagte der alte Russe, der seinem Blick gefolgt war. Sein Gesicht war dicht an den Eisenstäben. »Krieg verloren — für Deutsche — Sie guter Mensch«, sagte er leise. »Unsinn.»

»Warum nicht — uns herauslassen — und kommen mit uns?« Das zerfurchte Gesicht drehte sich einen Augenblick zu der jungen Russin und dann zurück. »Gehen mit uns — und Marusja — verstecken — guter Platz — leben. Leben —«, wiederholte er dringend.

Graeber schüttelte den Kopf. Das ist kein Ausweg, dachte er. Das nicht. Aber wo ist einer? »Leben — nicht tot — nur gefangen —«, flüsterte der Russe. »Sie auch — nicht tot — gut bei uns — wir unschuldig —« Es klang einfach. Graeber wandte sich ab. Es klang einfach im sanften, letzten Licht des Abends. Wahrscheinlich waren sie wirklich unschuldig. Man hatte keine Waffen bei ihnen gefunden, und sie sahen nicht aus wie Partisanen. Die beiden Alten bestimmt nicht. Wenn ich sie herausließe, dachte er. Ich hätte dann etwas getan, wenigstens etwas. Ein paar unschuldige Menschen gerettet. Aber ich kann

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nicht mitgehen. Nicht dorthin.

Nicht in dasselbe, was ich verlassen will. Er wanderte umher. Er kam wieder an die Fontäne. Die Birken waren jetzt schwarz vor dem Himmel. Er ging zurück. Eine Zigarette glühte noch im Dunkel des Stalles. Das Gesicht des alten Russen schimmerte hinter den Stäben. »Leben —«, sagte er. »Gut — bei uns —« Graeber nahm den Rest seiner Zigaretten und schob sie in die große Hand. Dann holte er ein paar Zündhölzer hervor und gab sie dem Mann. »Hier — raucht sie — für die Nacht —»

»Leben — Sie jung — Krieg vorbei für Sie dann — Sie guter Mensch — wir unschuldig — leben — Sie — wir — alle —« Es war eine leise, tiefe Stimme. Sie sagte »Leben«, wie ein Verkäufer im Schleichhandel »Butter« sagte, wie eine Hure »Liebe«, zärtlich, fordernd, lockend und falsch, als könnte er es verkaufen. Graeber fühlte, wie die Stimme an ihm zerrte. »Halt’s Maul!« schrie er den alten Mann an. »Schluß mit dem Quatsch, oder ich melde es. Dann seid ihr erledigt!« Er begann seinen Rundgang wieder. Die Front polterte stärker. Die ersten Sterne erschienen. Er fühlte sich plötzlich sehr allein und wünschte sich, wieder im Unterstand mitten im Gestank und Schnarchen der Kameraden zu liegen. Ihm war, als wäre er von allen zurückgelassen worden und hätte allein eine Entscheidung zu treffen.

Er versuchte zu schlafen und legte sich in den Pavillon auf sein Stroh. Vielleicht können sie ausbrechen, dachte er, ohne daß ich es merke. Es half nichts. Er wußte, daß sie es nicht konnten. Die Leute, die den Schuppen umgebaut hatten, hatten dafür gesorgt. Die Front wurde immer unruhiger. Flugzeuge dröhnten durch die Nacht. Maschinengewehre knatterten. Dann kamen die

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dumpfen Explosionen der Bomben. Graeber horchte. Der Lärm schwoll an. Wenn sie durchbrechen würden, dachte er wieder. Er stand auf und ging zu dem Anbau. Alles war ruhig dort. Die Gefangenen schienen zu schlafen. Dann aber sah er undeutlich das Gesicht des älteren Russen und kehrte um.

Nach Mitternacht wußte er, daß an der Front eine heftige Schlacht tobte. Schwere Artillerie feuerte weit hinter die Linien.

Die Einschläge waren nicht mehr fern vom Dorfe. Graeber wußte, wie schwach die Stellung war. Er konnte den einzelnen Abschnitten des Gefechtes folgen. Die Panzer würden bald angreifen. Die Erde zitterte jetzt vom Trommelfeuer. Das Donnern raste von Horizont zu Horizont. Er spürte es in allen Knochen. Er spürte, daß es ihn bald erreichen würde, und trotzdem schien es in einer sonderbaren Weise um ihn herum zu kreisen, in einem Wirbel von Gewittern, um das schmale weiße Gebäude, in dem die paar Russen hockten — als wären in all dem Zerstören und Tod sie plötzlich der Mittelpunkt geworden, und als hinge alles davon ab, was mit ihnen geschähe.

Er ging auf und ab, er näherte sich dem Stall und ging zurück, er fühlte den Schlüssel in seiner Tasche, er wälzte sich auf seinem Stroh, und erst gegen Morgen fiel er rasch in einen schweren, unruhigen Schlaf.

Es war grau, als er auffuhr. An der Front war die Hölle los. Das Artilleriefeuer lag bereits über und hinter dem Dorf. Er blickte nach dem Anbau. Das Gitter war in Ordnung. Die Russen bewegten sich dahinter. Dann sah er Steinbrenner heranlaufen. »Rückzug!« rief Steinbrenner. »Die Russen sind durchgebrochen. Sammeln im Dorf. Schnell! Alles ist durcheinander! Nimm

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deine Sachen.« Er war jetzt heran. »Die dort werden wir rasch erledigen.« Graeber fühlte sein Herz heftig schlagen. »Wo ist der Befehl?« fragte er.

»Befehl! Mensch, wenn du siehst, was im Dorf los ist, wirst du keine Befehle mehr brauchen. Hast du hier nichts von der Offensive gehört?»

»Ja.»

»Dann weißt du es ja. Los! Glaubst du, wir können die Bande mitschleppen? Wir werden sie durch die Türstangen erledigen.« Steinbrenners Augen glänzten sehr blau. Die Haut seiner Nase spannte sich über den Knochen. Er nestelte an seinem Koppel. »Ich habe hier die Verantwortung«, sagte Graeber. »Wenn du keinen Befehl hast, mach, daß du wegkommst.« Steinbrenner lachte laut. »Gut Dann knall du sie ab.»

»Nein«, sagte Graeber.

»Einer muß sie erledigen. Wir können sie nicht mitschleppen. Schieb ab mit deinen zarten Nerven. Geh vor, ich komme gleich nach.»

»Nein«, sagte Graeber. »Du wirst sie nicht erschießen.» »Nein?« Steinbrenner blickte auf. »Nein? wiederholte er

langsam. »Weißt du auch, was du sagst?»

»Ja. Ich weiß es.« So, du weißt es? Dann weißt du auch, daß du...« Steinbrenners Gesicht veränderte sich. Er griff nach seinem Revolver. Graeber hob sein Gewehr und schoß. Steinbrenner taumelte und stürzte. Er stieß einen Seufzer aus wie ein Kind. Der Revolver fiel aus seiner Hand. Graeber starrte auf den Körper. Notwehr, dachte etwas in ihm. Ein Artilleriegeschoß

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heulte über den Garten.

Er wachte auf, ging zu dem Stall, holte den Schlüssel aus der Tasche und öffnete die Tür. »Geht«, sagte er. Die Russen blickten ihn an. Sie glaubten ihm nicht. Er warf sein Gewehr weg. »Geht, geht«, sagte er ungeduldig und zeigte seine leeren Hände.

Vorsichtig schob der jüngere Russe einen Fuß heraus. Graeber wandte sich ab. Er ging zurück, wo Steinbrenner lag. »Mörder«, sagte er und wußte nicht, wen er meinte. Er starrte auf Steinbrenner. Er fühlte nichts.

DannplötzlichbegannenseineGedankensichzuüberstürzen. Ein Stein schien weggerollt zu sein. Etwas war für immer entschieden. Er fühlte keine Schwere mehr. Er fühlte sich ohne Gewicht.Erwußte,daßeretwastunsollte,aberihmwar,alsmüsse er sich festhalten, um nicht wegzufliegen. Sein Kopf schwamm. Er ging vorsichtig die Allee entlang. Etwas unendlich Wichtiges war zu tun, aber er konnte es nicht halten, noch nicht. Es war noch zu weit weg und zu neu und so klar, daß es schmerzte.

Er sah die Russen. Sie liefen gebückt, in einer Gruppe, die Frauen voran. Der Alte sah zurück und erblickte ihn. Er hatte auf einmal ein Gewehr in der Hand. Er hob es und zielte. Es waren also doch Partisanen, dachte Graeber. Er sah das schwarze Loch der Mündung, es wuchs, er wollte rufen, laut, es war vieles rasch und laut zu sagen. —

Er fühlte den Schuß nicht. Er sah nur plötzlich Gras vor sich, eine Pflanze, dicht vor seinen Augen, halb zertreten, mit rötlichen Blütendolden und zarten Blättern, die größer wurde, und es war schon einmal so gewesen, aber er wußte nicht mehr

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wann. Die Pflanze schwankte und stand dann allein vor dem schmal gewordenen Horizont seines sinkenden Kopfes, lautlos, selbstverständlich, mit dem Trost kleinster Ordnung, mit allem Frieden, und sie wurde größer und größer, bis sie den ganzen Himmel ausfüllte und seine Augen sich schlossen.

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