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Remarque_-_Zeit_zu_Leben_und_Zeit_zu_Sterben

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08.06.2015
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»Was?»

»Klar. Haben Sie keine Augen?» »Dies ist nicht achtzehn!»

»War nicht achtzehn! War! Ist gibt es nicht mehr. War ist die Parole.« Graeber packte den Mann an den Rockaufschlägen. »Hören Sie«, sagte er wild. »Ich bin nicht hier, um Witze zu hören. Wo ist achtzehn?« Der Luftschutzwart sah ihn an. »Lassen Sie mich sofort los, oder ich pfeife die Polizei ran. Sie haben hier nichts zu suchen. Dies ist Aufräumgebiet. Man wird Sie verhaften.»

»Man wird mich nicht verhaften. Ich komme von der Front.» »Wichtigkeit! Meinen Sie, das hier ist keine Front?« Graeber

ließ den Mann los. »Ich wohne in achtzehn«, sagte er. »Hakenstraße achtzehn. Meine Eltern wohnen hier...» »In dieser Straße wohnt niemand mehr.» »Niemand?»

»Niemand. Ich muß es wissen. Ich habe auch hier gewohnt.« Der Mann bleckte plötzlich die Zähne. »Habe! Habe!« schrie er. »Wir haben hier in vierzehn Tagen sechs Luftangriffe gehabt, Sie Frontsoldat, Sie! Und ihr verfluchten Brüder draußen habt gefaulenzt. Gesund und munter seid ihr, das sieht man! Und meine Frau? Da —«, er zeigte auf das Haus, vor dem sie standen

— »wer gräbt sie aus? Keiner! Tot! Keinen Zweck mehr, sagen die Rettungsabteilungen. Zuviel dringende andere Arbeit. Zuviel Scheißakten und Scheißbüros und Scheißbehörden, die gerettet werden müssen.« Er näherte Graeber sein hageres Gesicht. »Wissen Sie was, Soldat? Man weiß nie, was los ist,

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wenn es einem nicht selber an den Kragen geht. Und wenn man es dann weiß, ist es zu spät. Sie Frontsoldat!« Er spuckte aus. »Sie tapferer Frontsoldat mit dem Klempnerladen! Achtzehn ist da oben. Da, wo sie schippen.« Graeber ließ den Mann stehen. Da, wo sie schippen, dachte er. Da, wo sie schippen! Es ist nicht wahr! Ich wache gleich auf und bin im Bunker, ich wache auf im Keller des russischen Dorfes ohne Namen, und Immermann ist da und flucht, und Mücke, und Sauer, dies hier ist Rußland, dies ist nicht Deutschland, Deutschland ist heil und beschützt, es...

Er hörte die Rufe und das Klappern der Schaufeln, dann sah er die Leute auf den schwelenden Trümmern. Wasser strömte aus einer zerbrochenen Leitung in der Straße. Es glitzerte im Schein abgeschirmter Lampen.

Er lief auf einen Mann zu, der Befehle gab. »Ist dies achtzehn?» »Was? Scheren Sie sich weg! Was haben Sie hier zu suchen?» »Ich suche meine Eltern. In achtzehn. Wo sind sie?» »Mensch, wie soll ich das wissen? Bin ich Gott?»

»Sind sie gerettet?»

»Fragen Sie anderswo. Das geht uns nichts an. Wir graben nur aus.»

»Sind hier Verschüttete?»

»Natürlich. Meinen Sie, wir graben zum Spaß?« Der Mann wendete sich an die Kolonne. »Aufhören! Ruhe! Willmann, klopfen!« Die Arbeiter erhoben sich. Es waren Leute in Sweatern, Leute mit schmutzigen weißen Kragen, Leute in alten Mechanikeranzügen, Leute mit Militärhosen und Ziviljacken. Sie waren dreckig, und ihre Gesichter waren naß. Einer kniete

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mit einem Hammer in den Trümmern und klopfte gegen ein Rohr, das heraus« ragte. »Ruhe!« schrie der Anführer.

Es wurde still. Der Mann mit dem Hammer hatte das Ohr an die Röhre gepreßt. Das Atmen der Männer und das Rieseln von Kalk wurde hörbar. Von fern klang Läuten von Hospitalwagen und Feuerwehr hinein. Der Mann mit dem Hammer klopfte wieder.

Dann richtete er sich auf. »Sie antworten noch. Klopfen schneller. Haben wahrscheinlich nur noch wenig Luft.« Er klopfte einige Male sehr rasch zurück. »Los!« rief der An führer. »Weiter! Hier rechts! Wir müssen versuchen, hier die Röhre durchzutreiben, damit sie Luft kriegen.« Graeber stand noch neben ihm. »Ist dies ein Luftschutzkeller?»

»Natürlich. Was sonst? Glauben Sie, hier würde einer noch klopfen, wenn er nicht in einem Keller wäre?« Graeber schluckte. »Sind es Leute aus dem Hause? Der Luft schutzwart drüben sagt, hier wohne niemand mehr.»

»Der Luftschutzwart drüben hat eine weiche Birne. Hier unten sind Leute, die klopfen, das ist genug für uns.« Graeber streifte seinen Tornister ab. »Ich bin kräftig. Ich kann ausgraben helfen.« Er sah den Mann an. »Ich muß. Meine Eltern sind vielleicht...»

»Meinetwegen! Willmann, hier ist noch einer zum Ablösen. Habt ihr eine Axt frei?« Die zerquetschten Beine kamen zuerst. Ein Balken hatte sie zerbrochen und eingeklemmt. Der Mann lebte noch. Er war nicht bewußtlos. Graeber starrte ihm ins Gesicht. Er kannte ihn nicht. Sie sägten den Balken durch und

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schoben eine Bahre heran. Der Mann schrie nicht. Er verdrehte nur die Augen, und sie waren plötzlich weiß.

Sie erweiterten den Eingang und fanden zwei Tote. Beide waren plattgedrückt. Die Gesichter waren flach; nichts stand mehr hervor, die Nase war fort, die Zähne waren zwei Reihen flacher Kerne, etwas verstreut und schief, wie eingebackene Mandelstücke. Graeber beugte sich über sie. Er sah dunkles Haar. Seine Angehörigen waren blond. Sie zogen die Toten heraus. Sie lagen flach und sonderbar auf der Straße.

Es wurde heller. Der Mond stieg auf. Der Himmel wurde zu einem sanften, fast farblosen, sehr kühlen Blau. »Wann war der Angriff?« fragte Graeber, als er abgelöst wurde. »Gestern nacht.« Graeber sah seine Hände an. Sie waren schwarz im stofflosen Licht. Das Blut, das von ihnen herunterrann, war ebenfalls schwarz. Er wußte nicht, ob es sein eigenes war. Er wußte nicht einmal, daß er mit bloßen Händen Schutt und Glassplitter weggekratzt hatte. Sie arbeiteten weiter. Ihre Augen tränten; die Säure der Bombendämpfe biß hinein. Sie wischten sie mit den Ärmeln aus, aber sie füllten sich rasch wieder. »He, Soldat«, rief jemand hinter ihm.

Er drehte sich um. »Ist das Ihr Tornister?« fragte die Gestalt, die im Wasser seiner Augen schwankte.

»Wo?»

»Drüben. Jemand haut gerade damit ab.« Graeber wollte sich zurückwenden. »Er stielt ihn«, sagte die Gestalt und zeigte. »Sie können ihn noch erwischen. Rasch! Ich löse Sie hier ab.« Graeber konnte nicht mehr denken. Er folgte einfach der Stimme und

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dem Arm. Er lief die Straße hinunter und sah jemand über einen Schutthaufen klettern. Er holte ihn ein. Es war ein alter Mann, der den Tornister weiterzerrte. Graeber trat auf die Riemen. Der Mann ließ los, drehte sich um, hob die Hände und stieß ein dünnes, hohes Quäken aus. Sein Mund war groß und schwarz im Mondlicht, und seine Augen glitzerten. Eine Patrouille kam heran. Es waren zwei SS-Leute. »Was ist hier los?»

»Nichts«, erwiderte Graeber und hing sich den Tornister über. Der quäkende Mann war verstummt. Er atmete scharf und laut. »Was machen Sie hier?« fragte einer der SS-Leute. Es war ein älterer Oberscharführer. »Papiere.»

»Ich helfe ausgraben. Drüben. Meine Eltern haben dort gewohnt. Ich muß...»

»Soldbuch!« sagte der Oberscharführer schärfer. Graeber starrte die beiden an. Es hatte keinen Zweck, darüber zu streiten, ob die SS das Recht hatte, Soldaten zu kontrollieren. Sie waren zu zweit und beide bewaffnet. Er fummelte nach seinem Urlaubsschein. Der Mann holte seine Taschenlampe heraus und las. Das Stück Papier war einen Augenblick so hell erleuchtet, als glühe es von innen. Graeber fühlte seine Muskeln zittern. Endlich erlosch die Lampe, der Oberscharführer gab ihm den Schein zurück. »Sie wohnen Hakenstraße achtzehn?»

»Ja«, sagte Graeber, rasend vor Ungeduld. »Drüben. Wir graben sie gerade aus. Ich suche meine Familie.»

»Wo?»

»Drüben. Da, wo sie graben. Sehen Sie das denn nicht?» »Das ist nicht achtzehn«, sagte der Oberscharführer. »Was?»

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»Das ist nicht achtzehn. Das ist zweiundzwanzig. Achtzehn ist dieses hier.« Er zeigte auf eine Ruine, aus der Eisenträger ragten.

»Wissen Sie das bestimmt?« stammelte Graeber. »Natürlich. Es sieht hier jetzt alles gleich aus. Aber dieses ist

achtzehn, das weiß ich genau.« Graeber blickte auf die Trümmer. Sie rauchten nicht. »Dieses Straßenstück ist gestern nicht zerbombt worden«, sagte der Oberscharführer. »Ich glaube, es war vorige Woche.»

»Wissen Sie...« Graeber stockte und fuhr fort: »Wissen Sie, ob Leute gerettet worden sind?»

»Das weiß ich nicht. Aber es werden immer welche gerettet. Vielleicht sind Ihre Eltern gar nicht hier im Hause gewesen. Die meisten Leute gehen bei Alarm in die großen Bunker.»

»Wo kann ich das erfahren? Und wo kann ich erfahren, wo sie jetzt sind?»

»Diese Nacht nirgendwo. Das Rathaus ist beschädigt, und alles ist durcheinander. Fragen Sie morgen früh auf dem Bezirksamt nach. Was hatten Sie mit diesem Mann hier?»

»Nichts. Glauben Sie, daß unter den Trümmern noch Leute liegen?»

»Es liegen überall welche. Tote. Wenn wir alle ausgraben wollten, müßten wir hundertmal mehr Leute dafür haben. Die verdammten Schweine bombardieren ja die ganze Stadt ohne Unterschied.« Der Oberscharführer wandte sich zum Gehen. »Ist dies hier verbotene Zone?« fragte Graeber.

»Warum?»

»Der Luftschutzwart drüben behauptete es.»

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»Der Luftschutzwart ist übergeschnappt. Er ist nicht mehr im Amt. Bleiben Sie hier, solange Sie wollen. Einen Schlafplatz finden Sie vielleicht in der Rot-Kreuz-Stelle. Da, wo der Bahnhof war. Wenn Sie Glück haben.« Graeber suchte nach dem Eingang. An einer Stelle war der Schutt weggeräumt; aber nirgendwo fand er eine Öffnung, die in den Keller führte. Er kletterte über die Trümmer. In der Mitte ragte ein Stück Treppe empor. Die Stufen und das Geländer waren erhalten; doch sie führten sinnlos ins Leere. Der Schutt türmte sich hinter ihr höher auf. Ein Samtsessel stand dort in einer Nische gerade und ordentlich, als hätte jemand ihn mit Vorsicht dahingesetzt. Die Hinterwand des Hauses war quer über den Garten gefallen und hatte sich auf die übrigen Trümmer getürmt. Etwas huschte dort hinweg. Graeber glaubte, es sei der alte Mann von vorhin; aber dann sah er, daß es eine Katze war. Ohne Besinnen hob er einen Stein und warf ihn nach ihr. Er hatte plötzlich den sinnlosen Gedanken, daß das Tier Leichen angefressen habe. Eilig kletterte er zur anderen Seite hinüber. Er erkannte jetzt, daß es das richtige Haus war; ein kleines Stück vom Garten war unbeschädigt geblieben, eine Holzlaube war noch da, mit einer Bank darin und dem Stumpf einer Linde dahinter. Vorsichtig tastete er die Rinde des Baumes ab und fühlte die Vertiefungen von eingekerbten Buchstaben, die er selbst vor vielen Jahren hineingeschnitten hatte. Er wandte sich um. Der Mond war über die Wand der Ruine emporgekommen und leuchtete jetzt hinein. Es war eine Kraterlandschaft, unmenschlich und fremd, etwas, das man träumte, aber das nicht wirklich sein konnte. Er hatte vergessen, daß er in den letzten Jahren kaum etwas anderes gesehen hatte.

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Die Hintereingänge schienen rettungslos verschüttet. Graeber horchte. Er klopfte an einen der Eisenträger und stand still und horchte wieder. Plötzlich glaubte er, ein Wimmern gehört zu haben. Es muß der Wind sein, dachte er, es kann nichts anderes sein als der Wind. Dann hörte er es wieder. Er stürzte in die Richtung der Treppe. Die Katze sprang vor ihm von den Stufen, auf die sie sich geflüchtet hatte. Er horchte weiter. Er fühlte, wie er zitterte. Und dann, auf eimal, war er ganz sicher, daß seine Eltern unter den Trümmern lagen, daß sie noch lebten und daß sie in der eingeschlossenen Dunkelheit mit verzweifelten, zerschundenen Händen kratzten und nach ihm wimmerten — Er riß Steine und Schutt beiseite, besann sich und rannte zurück. Er fiel, riß sich die Knie auf, rutschte über Mörtel und Steine zur Straße hinunter und lief zu dem Haus zurück, an dem er die Nacht durch mitgearbeitet hatte.

»Kommt! Dies ist nicht achtzehn. Achtzehn ist drüben! Helft mir ausgraben!»

»Was?« fragte der Anführer und richtete sich auf. »Dies ist nicht achtzehn! Meine Eltern sind drüben...»

»Wo?»

»Dort! Rasch!« Der andere sah hinüber. »Das ist ein alter Fall«, sagte er dann sehr behutsam und sanft. »Viel zu spät, Soldat. Wir müssen hier weitermachen.« Graeber warf seinen Tornister von den Schultern. »Es sind meine Eltern! Hier! Ich habe Sachen, Essen. Ich habe Geld...« Der Mann richtete seine roten, tränenden Augen auf ihn. »Sollen wir die hier unten deswegen umkommen lassen?»

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»Nein — aber...»

»Na, also — die leben noch...» »Vielleicht können Sie später...»

»Später! Sehen Sie nicht, daß die Leute vor Müdigkeit zusammenfallen?»

»Ich habe hier die ganze Nacht mitgearbeitet. Da können Sie mir auch...»

»Mensch«, sagte der Mann plötzlich ärgerlich. »Seien Sie vernünftig! Es hat keinen Zweck mehr, drüben zu graben. Verstehen Sie das nicht? Sie wissen ja nicht einmal, ob noch jemand drunterliegt. Wahrscheinlich nicht, sonst hätten wir etwas darüber gehört. Und nun lassen Sie uns in Ruhe!« Er griff nach seiner Hacke. Graeber blieb stehen. Er sah auf die Rücken der arbeitenden Leute. Er sah auf die Bahren. Er sah auf die beiden Krankenträger, die gekommen waren. Das Wasser aus der zerbrochenen Leitung überschwemmte die Straße. Er fühlte, wie alle Kraft seinen Körper verließ. Er dachte daran, weiter schaufeln zu helfen. Er konnte es nicht mehr. Schleppend ging er zurück zu dem, was einmal das Haus Nummer achtzehn gewesen war.

Er blickte auf die Trümmer. Er begann noch einmal, Steine wegzuschieben, gab es aber bald auf. Es war unmöglich. Nachdem das Geröll entfernt war, kamen Eisenträger, Beton und Quadergestein. Das Haus war gut gebaut gewesen; das machte die Ruine jetzt fast unangreifbar. Vielleicht haben sie wirklich fliehen können, dachte er. Vielleicht hat man sie evakuiert. Vielleicht sind sie in einem Dorf in Süddeutschland. Vielleicht

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sind sie in Rothenburg. Vielleicht schlafen sie irgendwo in Betten. Mutter. Ich bin leer. Ich habe keinen Kopf und keinen Magen mehr.

Er hockte sich neben die Treppe. Jakobsleiter, dachte er. Was war das noch? War es nicht eine Treppe, die in den Himmel führte? Und stiegen nicht Engel darauf auf und ab? Wo waren die Engel? Verwandelt in Flugzeuge. Wo war alles? Wo war Erde? War sie nur noch da für Gräber? Ich habe Gräber gegraben, dachte er, viele Gräber. Was tue ich hier? Warum hilft mir niemand? Ich habe Tausende von Ruinen gesehen. Aber ich habe nie wirklich eine gesehen. Erst heute. Erst diese. Diese ist anders als alle anderen. Warum liege ich nicht darunter? Ich sollte darunterliegen.

Es wurde still. Die letzten Bahren wurden weggeschleppt. Der Mond stieg höher; die Sichel stand unbarmherzig über der Stadt. Die Katze erschien wieder. Sie beobachtete Graeber lange. Ihre Augen funkelten grün im stofflosen Licht. Sie kam vorsichtig näher. Lautlos glitt sie einige Male um ihn herum. Dann kam sie heran, strich an seinen Füßen vorüber, krümmte den Rücken und begann zu schnurren. Schließlich kroch sie neben ihn und legte sich nieder. Er merkte es nicht mehr.

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