Добавил:
Upload Опубликованный материал нарушает ваши авторские права? Сообщите нам.
Вуз: Предмет: Файл:

Remarque_-_Zeit_zu_Leben_und_Zeit_zu_Sterben

.pdf
Скачиваний:
248
Добавлен:
08.06.2015
Размер:
1.28 Mб
Скачать

Haushälterin brachte, und wickelte die Flasche hinein. »Mach’s gut, Ernst! Und immer Kopf hoch! Bis morgen.« Graeber ging zur Hakenstraße. Er war etwas überwältigt von Alfons. Ein Kreisleiter, dachte er. Der erste Mensch, der mir vorbehaltlos helfen will und mir Wohnung und Essen anbietet muß ein Parteibonze sein! Er steckte die Flasche in die Tasche seines Mantels.

Es war früher Abend. Der Himmel war wie Perlmutt, und die Bäume standen klar vor der hellen Weite. Blau hing die Dämmerung in den Ruinen.

Graeber blieb vor der Tür mit der Ruinenzeitung stehen. Sein Zettel fehlte. Er glaubte zuerst, der Wind habe ihn abgerissen; aber dann hätten die Heftzwecken noch da sein müssen. Sie fehlten ebenfalls. Jemand mußte den Zettel abgenommen haben. Er spürte, wie ihm plötzlich das Blut zum Herzen schoß. Rasch suchte er die Tür nach einer Nachricht ab. Aber er fand keine. Dann lief er zum Hause seiner Eltern hinüber. Der zweite Zettel steckte dort noch zwischen den Steinen. Er riß ihn heraus und starrte ihn an. Niemand hatte ihn berührt. Er enthielt keine Nachricht.

Verständnislos richtete er sich auf und blickte umher. Dann sah er weit unten auf der Straße etwas wie einen weißen Flügel im Winde treiben. Er lief ihm nach. Es war sein Zettel. Er hob ihn auf und betrachtete ihn. Jemand hatte ihn abgerissen. In einer pedantischen Handschrift stand am Rande: »Du sollst nicht stehlen.« Er begriff zuerst nicht, was es heißen sollte. Dann fiel ihm ein, daß die beiden Heftzwecken fehlten und daß der Anruf der Mutter, von dem er sie genommen hatte, wieder alle vier

141

zeigte. Sie hatte ihr Eigentum zurückgenommen und ihm eine Lehre erteilt. Er suchte zwei flache Steine, legte seinen Zettel auf den Boden neben der Tür und beschwerte ihn damit. Dann ging er zurück zum Hause seiner Eltern.

Er stand vor den Trümmern und blickte hinauf. Der grüne Polstersessel fehlte. Jemand mußte ihn weggeholt haben. Da, wo der Stuhl gestanden hatte, ragten ein paar Zeitungen aus dem Schutt. Er kletterte hinauf und zerrte sie heraus. Es waren alte Zeitungen, voll von Siegen und großen Namen, vergilbt, zerrissen und schmutzig. Er warf sie beiseite und begann weiterzusuchen. Nach einer Weile fand er ein kleines Buch, das offen, gelb und verwelkt zwischen zwei Balken lag, als hätte jemand es aufgeschlagen. Er zog es heraus und erkannte es. Es war ein Schulbuch, das ihm gehört hatte. Er blätterte nach vorn und sah seinen Namen in blasser Schrift auf dem ersten Blatt. Er mußte ihn hineingeschrieben haben, als er zwölf oder dreizehn Jahre alt gewesen war.

Es war ein Katechismus aus dem Religionsunterricht. Ein Buch mit Hunderten von Fragen und den Antworten dazu. Die Seiten waren fleckig, und auf einigen standen Anmerkungen, die er selbst geschrieben hatte. Er starrte abwesend darauf. Alles schien einen Augenblick zu schwanken, und er wußte nicht, was schwankte,diezerstörteStadtmitdemstillen,perlmutterfarbenen Himmel darüber oder das kleine gelbe Buch in seinen Händen, das auf alle Fragen der Menschheit eine Antwort hatte. Er legte es beiseite und suchte weiter. Aber er fand nichts mehr — keine anderen Bücher und auch nichts aus der Wohnung seiner Eltern. Es war unwahrscheinlich; sie hatten im zweiten Stock gewohnt,

142

und ihre Sachen mußten viel tiefer unter dem Schutt liegen. Der Katechismus war bei der Explosion wahrscheinlich durch einen Zufall hoch in die Luft geschleudert worden und dann, weil er leicht war, langsam heruntergeflattert. Wie eine Taube, dachte er, eine einsame weiße Taube der Selbstsicherheit und des Friedens, mit all seinen Fragen und all den klaren Antworten in der Nacht voller Feuer und Qualm und Ersticken und Schreien und Tod.

Er saß noch eine Zeitlang auf den Trümmern. Der Abendwind kam auf und blätterte in den Seiten des Buches, als läse jemand unsichtbar darin. Gott ist barmherzig, stand da, allmächtig, allwissend, allweise, er ist unendlich gütig und gerecht. — Graeber fühlte nach der Flasche Armagnac, die Binding ihm ge» geben hatte. Er öffnete sie und nahm einen Schluck. Dann kletterte er zur Straße hinunter. Den Katechismus nahm er nicht mit. Es war dunkel geworden. Nirgendwo war Licht. Graeber ging über den Karlsplatz. An der Ecke des Bunkers stieß er fast mit jemand zusammen. Es war ein junger Offizier, der sehr eilig herankam. »Passen Sie doch auf!« schnauzte der Leutnant ärgerlich.

Graeber sah ihn an. »Gut, Ludwig«, sagte er. »Das nächste Mal werde ich aufpassen.« Der Leutnant starrte ihn an. Dann ging ein breites Grinsen über sein Gesicht. »Ernst, du!« Es war Ludwig Wellmann. »Was machst du? Urlaub?« fragte er. »Ja. Und du?»

»Fertig damit. Fahre gerade wieder ab. Bin deshalb so eilig.» »Wie war es?»

»So, so! Du weißt ja! Aber das nächste Mal mache ich es

143

anders. Sage keinem was und fahre irgendwohin, nur nicht nach Hause!»

»Warum?« Wellmann zog eine Grimasse. »Die Familie, Ernst! Die Eltern! Es geht einfach nicht! Sie ruinieren einem den ganzen Urlaub! Wie lange bist du hier?»

»Vier Tage.»

»Warte ab! Wirst es schon noch merken!« Wellmann versuchte, sich eine Zigarette anzuzünden. Der Wind blies das Streichholz aus. Graeber gab ihm sein Feuerzeug. Der Schein beleuchtete einen Augenblick Wellmanns schmales, energisches Gesicht. »Sie glauben, daß man immer noch ein Kind ist«, sagte er und stieß den Rauch aus. »Wenn man einmal einen Abend verschwinden will, gibt es gleich vorwurfsvolle Gesichter. Man soll die Zeit nur mit ihnen verbringen. Für meine Mutter bin ich immer noch dreizehn Jahre alt. Die erste Hälfte des Urlaubs schwamm sie in Tränen, weil ich gekommen war — die zweite Hälfte, weil ich wieder wegmußte. Was kann man da machen?»

»Und dein Vater? Der war doch im ersten Kriege Soldat.» »Das hat er vergessen. Wenigstens den Teil davon. Für meinen

Alten bin ich der Held. Er ist stolz auf meinen Klempnerladen. Wollte sich dauernd mit mir zeigen. Rührender alter Mann aus grauer Vorzeit. Sie verstehen uns nicht mehr, Ernst. Paß auf, daß deine dich nicht auch erwischen!»

»Ich werde schon aufpassen«, sagte Graeber. »Sie meinen es gut. Alles ist Fürsorge und Liebe, aber das ist gerade das Verdammte. Du kannst nichts dagegen machen. Kommst dir sofort wie ein gefühlloser Verbrecher vor.« Wellmann blickte

144

hinter einem Mädchen her, dessen helle Strümpfe durch das windige Dunkel schimmerten. »Dein Urlaub geht darüber glatt in die Binsen!« sagte er. »Alles, was ich noch erreichen konnte, war, daß sie mich nicht zum Bahnhof bringen. Bin nicht sicher, ob sie nicht doch da sein werden!« Er lachte. »Fang es gleich richtig an, Ernst! verschwinde wenigstens abends. Erfinde was! Irgendeinen Kursus! Dienst! Sonst geht es dir wie mir, und du hast einen Urlaub wie ein Gymnasiast!»

»Ich glaube, bei mir wird es anders.« Wellmann schüttelte Graeber die Hand. »Hoffentlich! Dann hast du mehr Schwein als ich! Warst du schon in der Penne?»

»Nein.»

»Geh nicht hin. Ich war da. Schwerer Fehler. Kotzt dich nur an. Den einzigen anständigen Lehrer haben sie rausgeschmissen. Pohlmann, den wir in Religion hatten. Du erinnerst dich doch noch an ihn?»

»Natürlich. Ich soll ihn sogar besuchen.»

»Sieh dich vor. Er ist auf der schwarzen Liste. Pfeif lieber auf den ganzen Kram! Man soll nirgendwohin zurückgehen. Also mach’s gut, Ernst! Unser kurzes, glorreiches Leben, was?»

»Ja, Ludwig. Mit freier Kost, Auslandsaufenthalt und Staatsbegräbnis.»

»Schöne Scheiße! Weiß Gott, wann wir uns wiedersehen!« Wellmann lachte und verschwand im Dunkel.

Graeber ging weiter. Er wußte nicht, was er machen sollte. Die Stadt war finster wie ein Grab. Er konnte nicht mehr weitersuchen, und er begriff, daß er Geduld haben mußte. Ihm

145

graute vor dem langen Abend. Zur Kaserne wollte er noch nicht; zu den paar Bekannten, die er hatte, auch nicht. Er konnte ihr verlegenes Mitleid nicht ertragen und wußte, daß sie froh waren, wenn er wieder ging.

Er starrte auf die zerfressenen Dächer der Häuser. Was hatte er nur erwartet? Eine Insel hinter den Fronten? Heimat, Sicherheit, Zuflucht, Trost? Vielleicht. Aber die Inseln der Hoffnung waren längst lautlos versunken in der Monotonie zwecklosen Todes, die Fronten waren zerbrochen, und der Krieg war überall. Überall, auch in den Hirnen und Herzen.

Er kam an einem Kino vorbei und ging hinein. Der Saal war weniger dunkel als die Straße. Es war immer noch besser, hier zu sitzen, als durch die schwarze Stadt zu wandern oder in irgendeiner Kneipe zu hocken und sich zu besaufen.

146

11Der Friedhof lag in der hellen Sonne. Graeber sah, daß eine Bombe das Tor getroffen hatte. Ein paar Kreuze und Granitsteine waren über die Wege

und die anderen Gräber verstreut. Die Trauerweiden waren umgestürzt; die Wurzeln schienen dadurch die Äste zu sein, und die Zweige lange, schleifende, grüne Wurzeln. Sie sahen aus, als wären sie sonderbare Gewächse, die aus einem unterirdischen Meeretangbehangenhochgeworfenwordenwaren.DieKnochen der ausgebombten Toten hatte man zum größten Teile wieder gesammelt und zu einem sauberen Haufen aufgeschichtet; nur noch kleinere Splitter und Reste alter, morscher Särge hingen in den Weiden. Keine Schädel mehr. Neben der Kapelle war ein Schuppen errichtet. Ein Aufseher und zwei Wärter arbeiteten darin. Der Aufseher schwitzte. Er winkte ab, als er hörte, was Graeber wollte. »Keine Zeit, Mann! Zwölf Beerdigungen noch vor dem Mittagessen! Lieber Gott, wie sollen wir wissen, ob Ihre Eltern hierliegen? Wir haben Dutzende von Gräbern ohne Grabsteine und ohne Namen. Es ist hier ein Massenbetrieb geworden! Wie sollen wir da Bescheid wissen?»

»Führen Sie keine Listen?»

»Listen«, erwiderte der Aufseher bitter und wendete sich an die beiden Wärter. »Listen will er sehen, habt ihr das gehört? Listen! Wissen Sie, wieviel Leichen noch draußen liegen? Zweihundert. Wissen Sie, wieviel beim letzten Angriff eingeliefert worden sind? Fünfhundert. Wieviel beim Angriff vorher? Dreihundert. Das war vier Tage auseinander. Wie sollen wir denn da nachkommen? Wir sind nicht darauf eingerichtet! Wir brauchen Bagger statt Totengräber, um einigermaßen

147

aufzuarbeiten, was draußen noch liegt. Und wissen Sie, wann der nächste Angriff kommen wird? Heute abend? Morgen? Listen will er haben!« Graeber erwiderte nichts. Er nahm eine Paket Zigaretten aus der Tasche und legte es auf den Tisch. Der Aufseher und die Wärter wechselten einen Blick. Graeber wartete einen Augenblick. Dann legte er drei Zigaretten dazu. Er hatte sie für seinen Vater aus Rußland mitgebracht.

»Also gut«, sagte der Aufseher. »Wir werden tun, was wir können. Schreiben Sie die Namen auf. Einer von uns wird beim Friedhofamt anfragen. Inzwischen können Sie die Toten besichtigen, die noch nicht eingeschrieben sind. Drüben die Reihe an den Kirchhofmauern.« Graeber ging hinüber. Ein Teil der Toten hatte Namen, Särge, Bahren, Decken, Blumen, andere waren nur mit weißen Tüchern zugedeckt. Er las die Namen, hob die Tücher derjenigen, die keine Namen hatten, und ging dann zu den Reihen der Unbekannten hinüber, die Seite an Seite unter einem schmalen Notdach die Mauern entlanglagen.

Einige hatten die Augen geschlossen, andere hatten die Hände gefaltet, die meisten aber lagen so, wie man sie gefunden hatte, und nur die Arme waren an die Körper gelegt, und die Beine gestreckt, um mehr Platz zu schaffen.

Eine Prozession schweigender Leute zog an ihnen vorüber. Vorgebeugt musterten Sie die blassen erstarrten Gesichter und suchten nach Angehörigen.

Graeber reihte sich ein. Ein paar Schritte vor ihm sank plötzlich eine Frau neben einem Toten zu Boden und begann zu schluchzen. Die andern gingen stumm um sie herum weiter, vorgebeugt, und die Gesichter so konzentriert, daß sie fast

148

leer erschienen, ohne anderen Ausdruck als den angstvoller Erwartung. Erst allmählich, wenn sie weiter zum Ende der Reihe gelangten, kam ein schwacher Schein unruhiger, versteckter Hoffnung hinzu, und man konnte sehen, wie sie aufatmeten, wenn sie durch waren.

Graeber ging zurück.

»Waren Sie schon in der Kapelle?« fragte der Aufseher. »Nein.» »Die stark Zerfetzten sind da.« Der Aufseher sah Graeber an. »Es braucht Nerven dafür. Aber Sie sind ja Soldat.« Graeber ging in die Kapelle. Dann kam er zurück. Der Aufseher stand draußen. »Furchtbar, was?« Er blickte Graeber forschend an. »Schon mancher ist uns dabei zusammengeklappt«, erklärte er. Graeber erwiderte nichts. Er hatte in seinem Leben so viele Tote gesehen, daß dieses nichts Außergewöhnliches für ihn war. Auch die Tatsache nicht, daß es sich um Zivilisten und viele Frauen und Kinder handelte. Er hatte das ebenfalls oft genug gesehen, und die Verletzungen waren bei Russen und Holländern und Franzosen nicht leichter gewesen als die, die er jetzt sah. »Auf dem Friedhofamt ist nichts eingetragen«, erklärte der Aufseher. »Es gibt aber noch zwei große Leichenhallen in

der Stadt. Waren Sie da schon?» »Ja.»

»Die haben noch Eis. Die haben es besser als wir.» »Sie sind überfüllt.»

»Ja, aber sie sind gekühlt. Wir haben das nicht. Und es wird wärmer und wärmer. Wenn noch ein paar Angriffe rasch hintereinander kommen, und dazu weiter die sonnigen Tage,

149

gibt es eine Katastrophe. Wir müssen dann zu Massengräbern übergehen.« Graeber nickte. Er begriff nicht, daß das eine Katastrophe sei. Eine Katastrophe war das, was die Massengräber verursachte.

»Wir arbeiten, was wir können«, erklärte der Aufseher. »Wir haben so viel Totengräber, wie wir anstellen können, aber es sind immer noch viel zuwenig. Die Technik hier ist veraltet für unsere Zeit. Dazu kommen natürlich die Religionsvorschriften.« Er blickte einen Augenblick sinnend über die Mauer. Dann winkte er Graeber kurz zu und schritt rasch zu seinem Schuppen zurück — ein pflichttreuer, eifriger Beamter des Todes. Graeber mußte ein paar Minuten warten; zwei Leichenzüge sperrten den Ausgang. Er sah sich noch einmal um. Priester beteten über Gräbern, Angehörige und Freunde standen neben frischen Hügeln, es roch nach welken Blumen und aufgeworfener Erde, Vögel sangen, die Prozession der Sucher zog weiter an den Mauern entlang, Totengräber schwangen ihre Hacken in halbausgehobenenGruben,SteinmetzeundBeerdigungsagenten wanderten umher — die Stätte des Todes war der belebteste Platz der Stadt geworden.

Das kleine weiße Haus Bindings lag in der ersten Dämmerung des Gartens. Auf dem Rasen stand ein Vogelbad, in dem Wasser plätscherte. Narzissen und Tulpen blühten vor den Fliederbüschen, und unter den Birken schimmerte eine Mädchenfigur aus Marmor.

Die Haushälterin öffnete die Tür. Sie war eine grauhaarige Frau und trug eine große weiße Schürze. »Sie sind Herr Graeber, nicht wahr?»

150

Соседние файлы в предмете [НЕСОРТИРОВАННОЕ]