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Günter Grass erhält den Nobelpreis für Literatur
SCHWEDISCHE AKADEMIE EHRT NACH 27 JAHREN WIEDER EINEN DEUTSCHEN „BÖLL WÄRE EINVERSTANDEN GEWESEN“
Der Schriftsteller Günter Grass erhhält den diesjährigen Nobelpreis für Literatur. Das hat die Schwedische Akademie am 30.September in Stockholm bekannt gegeben. Damit hat er erstmals seit sieben und zwanzig Jahren wieder ein deutschsprachiger Autor mit dem bedeutendsten Literaturpreis ausgezeichnet. Heinrich Böll hatte den Nobelpreis im Jahr 1972 erhalten.
Nach der Erklärung der Akademie heiβt es unter anderem, Grass erhalte den Preis, weil er „vergessenes Gesicht der Geschichte gezeichnet“ habe. Sein Roman „Die Blechtrommel“ würde zu den bleibenden literarischen Werken des zwanzigsten Jahrhunderts gehören. Der Schriftsteller selbst sagte nach der Bekanntgabe der Entscheidung, er empfinde „Freude und Stolz“ und habe gefragt, was sein Vorgänger Heinrich Böll sagen würde. Er habe das Gefühl, er wäre einverstanden gewesen.
Nach dem Erscheinen seines Romans „Die Blechtrommel“ wurde in Danzig geborene Sohn eines Kolonialwarenhändlers und einer kaschubischen Mutter als eine der bedeutendsten Stimmen in der deutschen Literatur. Nach einer Ausbildung zum Steinmetz und Bildhauer wandte sich Grass Mitte der fünfziger Jahre der Literatur zu, zunächst der Lyrik, wenig später auch dem Drama und dem Roman. Erste Erfolge erzielte der junge, damals in Paris lebende Autor bei Lesungen vor der „Gruppe 47“, in deren Umkreis er rasch bekannt wurde. Der Roman „Die Blechtrommel“, der erste Teil der „Danziger Trilogie“, erzählt die Jahre des Nationalsozialismus aus der Sicht des zwergwüchsigen, ungemein hellsichtigen Oskar Matzerath und bescherte seinem Verfasser mit einem Schlag Weltruhm. Mit keinem seiner späteren Werke, von dem Roman „Hundejahre“ (1963) über „der Butt“ (1977) und „Die Rättin“ (1986) bis zu dem 1995 erschienenen Roman „Ein weites Feld“, einer harschen Kritik an den Umständen der deutschen Wiedervereinigung, ist es Grass gelungen, den Erfolg seines Debüts zu wiederholen. Gleichwohl erreicht sein Werk, das jüngst in einer neuen sechszehnbändigen Gesamtaufgabe erschienen ist, hohe Auflagen.
Wie kein zweiter deutscher Schriftsteller hat sich Grass seit den frühen sechziger Jahren immer wieder bei politischen und gesellschaftlichen Debatten zu Wort gemeldet und dabei auch das direkte parteipolitische Engagement für die SPD gesucht, für die er wiederholt im Wahlkampf aktiv wurde. Mit dem früheren Bundeskanzler Brandt war er freundschaftlich verbunden. Damals wurde Grass, der sich in der Tradition der Aufklärung verwurzelt sieht, zu einer öffentlichen Figur. Den Anspruch des Intellektuellen, gesellschaftlichen Einfluss zu nehmen, hat Grass seitdem stets mit einer Vehemenz vertreten, die ihm neben Bewunderung auch Widerspruch und Ablehnung eintrug. Vor allem in der Frage der deutschen Wiedervereinigung, die er als Ausverkauf der DDR kritisierte, wurde dem Schriftsteller Einseitigkeit vorgeworfen. Die Auseinandersetzung um „Ein weites Feld“ war eine der am schärfsten geführten literarischen Debatten der letzten Jahre.
Die Entscheidung der Stockholmer Akademie wurde mit groβer Zustimmung aufgenommen. Grass, der seit vielen Jahren immer wieder zu den Anwärtern auf die Auszeichnung gerechnet wurde, sei ein würdiger und verdienter Nobelpreisträger, erklärte sein Vorgänger Jose Saramago gegenüber dieser Zeitung. Bundeskanzler Schröder würdigt in einem Brief an Grass den Einsatz des Autors für „soziale Gerechtigkeit in unserer Gesellschaft“. Grass habe Wesentliches zum Dialog zwischen Politik und Kultur in unserem Land beigetragen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung
1.10.1999