- •Jahre zusammenarbeit weltweit
- •Inhaltsverzeichnis
- •XX век как историографическая проблема
- •Cm.: Kiihne t. Kameradschaft: Die Soldaten des nationalsozialistischen Krieges und das 20. Jahrhundert. Gottingen.
- •Итоги производственной деятельности лагерей нквд для военнопленных в Сталинградской области в 1945 г.19
- •Объем работ, выполненных военнопленными лагеря № 108 на основных предприятиях в 1945 г.23
- •Основные объекты Сталинграда, в строительстве, ремонте и восстановлении которых принимали участие военнопленные в 1943-1953 гг.
- •Распределение военнопленных лагерей мвд Сталинградской области по министерствам в 1946-1951 гг.40
- •Veltzke V. Kunst und Propaganda in der Wehrmacht. Gemalde und Grafiken aus dem Russlandkrieg. Bielefeld, 2005.
- •Г итлер
- •I Ьэзаботнмсн о сроке.
- •Der einzige Weg zum Frieden ist die Vernichtung des blutigen Hitlerregimes.
- •IjVv.Lf ,
- •Im; wtruivs кжМи il 04*
- •Vorwort
- •In der Erinnerung sind lebendig die Toten Moskau im Schnee, im Feuer Stalingrad.
- •Klausch, hg. Oldenburg im Zweiten Weltkrieg. S. 11.
- •Siehe Thomas Kiihne. Kameradschaft: Die Soldaten des nationalsozialistischen Krieges und das 20.Jahrhundert. Gottingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2006.
- •Gesetz vom 14. Januar 1993. № 4292-1 “Ob uwekowetschenii pamjati pogibschich pri saschtschite Otetschestwa” http://www.Rg.Ru/oficial/doc/social/04.Htm
- •Volkstumliche Darstellungen der Vorboten des Krieges
- •Ich komme nicht vom Fleck.
- •Die Kriegsgrunde
- •Das Leben im Hinterland
- •Die Besatzung
- •In diesem Text:
- •Veit Veltzke. Kunst und Propaganda in der Wehrmacht. Gemalde und Grafiken aus dem Russlandkrieg. Bielefeld, 2005.
- •8 Umfrage des Lewada-Zentrums im Mai 2006. Vgl. Http://www.Levada.Ru/
- •Umfrage des Lewada-Zentrums im Juni 2010. Vgl. Http://www.Levada.Ru/
- •Jefanowa, o. A.; Lawruchina, e. A. Dominanty istoritscheskoj pamjati rossijan: snanija,
In diesem Text:
Thymian Bussemer. Propaganda. Konzepte und Theorien. Wiesbaden, 2005.
Wolfgang Schmidt. “Maler an der Front". Zur Rolle der Kriegsmaler und Pressezeich- ner der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg, in: Rolf-Dieter Muller/Hans-Erich Volkmann (hg.). Die Wehrmacht. Mythos und Realitat. Miinchen, 1999. S. 635-684.
Wolfgang Schmidt. “Maler an der Front”. Die Kriegsmaler der Wehrmacht und deren Bilder von Kampf und Tod, in: Arbeitskreis Historische Bildforschung (hg.). Der Krieg im Bild — Bilder vom Krieg. Frankfurt a. M., 2003. S. 45-76.
Wolfgang Schmidt. Die Mobilisierung der Kiinste fur den Krieg: Maler in Uniform, in: Hans-Jorg Czech/Nikola Doll (hg.). Kunst und Propaganda im Streit der Nationen 1930- 1945. Dresden, 2007. S. 284-297.
Veit Veltzke. Kunst und Propaganda in der Wehrmacht. Gemalde und Grafiken aus dem Russlandkrieg. Bielefeld, 2005.
Martin Warnke. Die Organisation staatlicher Bildpropaganda im Gefolge des Ersten Weltkrieges, in: Hans-Jorg Czech/Nikola Doll (hg.). Kunst und Propaganda im Streit der Nationen 1930-1945. Dresden, 2007. S. 22-27.
DAS FEINDBILD IN DER SOWJETISCHEN UND DEUTSCHEN FRONTPROPAGANDA
Alexander Vatlin, Moskauer Staatliche Lomonossow-Universitat
Der Begriff “ikonische Wende” ist in der modernen Historiografie mittlerweile sehr gebrauchlich. Visuellen historischen Quellen wird be- sondere Aufmerksamkeit geschenkt. Das entspricht modernen gesell- schaftlichen und sozialwissenschaftlichen Entwicklungen, denen zufolge “Bilder” per se mehr Informationen enthalten als Texte. Sie spielen im Internet, in der Werbung und in der politischen Offentlichkeit eine her- ausragende Rolle.
Propagandisten, und vor allem Propagandisten in der Armee, zahlten zu den Pionieren der “ikonischen Wende”. Ihre Waffe, die Propaganda, hatte ihr Ziel mit Sicherheit verfehlt, wenn sie nur auf puren Text ohne “treffende” Bilder gesetzt hatte. Das gilt umso mehr fur diejenigen Propagandisten, die sich in den Kriegsjahren an den Feind wandten, um seinen Kampfgeist zu brechen und Zweifel an seiner Mission und an den Be- fehlen seiner Kommandeure zu saen. Diese Tatigkeit hiefi in der UdSSR Spezpropaganda, und mit ihr befassten sich die politischen Abteilungen der Roten Armee. Ein Propagandaoffizier musste unter Frontbedingun- gen kreativ sein; er fungierte zugleich als Schriftsteller, Kiinstler oder Fo- tograf.
Lange Zeit wurde die Spezpropaganda wissenschaftlich nicht thema- tisiert. Ihre Methoden und Arbeiten — Zeichnungen, Karikaturen, Foto- montagen — waren selbst ein Kriegsgeheimnis. Das hangt unter anderem damit zusammen, dass die auf die Zerstorungder Kampfmoral des Gegners zielende Spezpropaganda ausnahmslos alle ihr zur Verfugung stehenden Mittel psychologischer Beeinflussung zum Einsatz brachte, einschliefilich Liigen und Einschiichterungen. Es gab noch einen weiteren Grund dafiir, warum Kriegsflugblatter nicht als historische Quellen betrachtet wurden. Mitunter waren ihre Illustrationen zu freimiitig, ja sogar unanstandig und landeten deshalb in staubigen Archivmappen. Es waren die Veteranen der Spezpropaganda, die sich zuerst fiir das Thema interessierten. Ihre Berich- te und Erinnerungen enthalten einzigartige Informationen dariiber, wie die Propagandainhalte entstanden und bei Verhoren auf ihre Wirkung getestet wurden.1 Im Anschluss an die Veroffentlichungen der Veteranen griffen Militarhistoriker das Thema auf. Sie erganzten deren Notizen und Memoiren um neue Archivfunde und entwickelten einen systematischen und wissenschaftlichen Untersuchungsansatz, der neue Aspekte des Problems sichtbar machte.2
Eine Reihe von wissenschaftlichen Arbeiten befasst sich mit dem Vergleich der Strukturen und Methoden der Frontpropagandisten der Roten Armee und der Wehrmacht. (In der Wehrmacht nannte sich die psychologische Beeinflussung der Truppen und der Bevolkerung des Gegners “aktive Propaganda”.) Sowohl die Sowjetunion als auch Nazi- Deutschland verfiigten liber eine enorme ideologische Maschinerie, die seit Kriegsbeginn auf die neuen Aufgaben umgestellt wurde. In beiden Staaten war die Ideologic ein Grundpfeiler des politischen Regimes, und das fiihrte zu offensichtlichen Parallelen in der Technologie ihres Einsat- zes. Doch brachte der Charakter des Krieges auch prinzipielle Unterschie- de in den inhaltlichen Bausteinen der Spezpropaganda auf beiden Seiten der Front hervor. Die Deutschen versuchten ihr aggressives Vorgehen zu legitimieren; die Sowjets versuchten das verbrecherische Wesen der deutschen Aggression zu entlarven. Die deutsche Propaganda verbreitete die These von der Uberlegenheit der deutschen Kriegstechnik, wahrend die sowjetische Propaganda auf den Patriotismus der Verteidiger der Heimat setzte.
Ohne eine Analyse von Propagandamaterialien, Flugblattern, Zei- tungen und Broschiiren ist eine detaillierte Untersuchung des Duells der Spezpropagandisten an der sowjetisch-deutschen Front unmoglich. Die Zeichnungen, Karikaturen und Fotomontagen sollten nicht nur das Inte- resse an den Texten wecken. Sie waren selbst Trager von Informationen, die sie oft erfolgreicher und verstandlicher an den Mann brachten als der Text. Um diese Bilder fur die Forschung zuganglich und verstandlich zu machen, ist allerdings mehr Aufwand erforderlich als bei einem gewohnli- chen Text. Es bedarf dazu der Methoden der ikonografischen Analyse und Konsultationen mit Kunstwissenschaftlern. Das Material muss auBerdem mit der Propaganda des Feindes verglichen werden.
Ein erster Versuch, die Propagandabilder von beiden kriegsfuehren- den Seiten zu entziffern ist im 2007 herausgegebenen Album unternom- men worden, dessen Grundlage die Sammlung von N. W. Iljin bildet.3 Das in diesem Album zusammengestellte sowjetische und deutsche Propagan- damaterial habe ich meiner vergleichenden Analyse der “Technologie der Spezpropaganda” in diesem Aufsatz zugrundegelegt.
An erster Stelle sind visuelle Materialien und Fotografien zu nennen, die auf eine Verstarkung des Wahrhaftigkeitseffekts zielten. Sie richteten sich an die Soldaten des Feindes und die Bevolkerung der besetzten Ge- biete. Die Fotoaufnahmen zeigen zerstorte Waffen und Gerate, verunstal- tete Leichen, Ruinen und Trummerhaufen der heimatlichen Stadte. Das
Gegenstiick zu den Darstellungen der Zerstorung bildeten Aufnahmen frischer Divisionen und Panzerkolonnen der feindlichen Armeen. Oft ge- niigte eine einfache Winterlandschaft auf einem sowjetischen Flugblatt, um die erwunschten Emotionen bei den deutschen Soldaten hervorzuru- fen, denen versprochen worden war, dass der Feldzug im Osten sich auf den Sommer begrenzen wtirde.
Fotoaufnahmen, die Gefangene zeigen, bestatigten eine der wichtigs- ten Losungen der Spezpropaganda: “Ergib dich, oder du kommst um!”. Der groBte Effekt wurde erzielt, wenn der Betrachter auf dem Foto einen Bekannten seines Regiments oder allseits bekannte Personlichkei- ten wiedererkannte. In einer Vielzahl von Texten und Broschiiren wa- ren Bertihmtheiten wie Stalins Sohn, Jakow Dschugaschwili, General Wlasow und Generalfeldmarschall Paulus abgedruckt, um die Moral der feindlichen Armee zu brechen. Ein wichtiges Element der Spezpropaganda waren Fotoreportagen aus den Kriegsgefangenenlagern. Die frohlichen, wohlgenahrten, von den Kriegsstrapazen sichtlich erholten Gesichter der Soldaten schienen die Kameraden an der Front direkt anzusprechen: “Ftir uns ist der Krieg schon zu Ende. Und wie sieht es bei euch aus?” Die Fotomontagen vereinten fotografische Wahrhaftigkeit und groteske Karikatur und balancierten auf dem Grad zwischen Realitat und Kunst. Um den Gegner von der Echtheit des Materials zu tiberzeugen, wurden Faksimile erbeuteter Dokumente und der Briefe gefallener oder in Ge- fangenschaft geratener Soldaten verbreitet. Auf Landkarten wurden die Frontlinien verzeichnet oder die Konturen eines Kessels. Auf diese Weise erhielten die Soldaten ein Bild von der wirklichen Situation an der Front. Die Karten erganzten Kommentare und Informationen der eigenen Propaganda. Die satirischen Zeichnungen und Karikaturen der Kriegsjahre wurden ebenfalls zu einer Kriegswaffe, die auf beiden Seiten der Front eingesetzt wurde. Sie machten politische Fiihrer der Gegenseite lacher- lich, entlarvten deren Ltigen und Schwachen. Karikaturen erreichten die Soldaten besser als andere Darstellungen, denn sie enthielten ein “ferti- ges Bild, dessen Sinn leicht und ohne groBe Anstrengung erfasst werden konnte.”4 Offizielle Dokumente erforderten dagegen einen vorsichtigen Umgang bei der satirischen Bearbeitung, denn ihre Verwendung konnte leicht nach hinten losgehen. Die frontale Diskreditierung der politischen Fiihrung zu einem Zeitpunkt, als die Armee und die Bevolkerung ihr ver- trauten, hatte bestenfalls Misstrauen gegeniiber den Urhebern der Propaganda geschtirt. Haufig verwendet wurden dagegen Grusel-Zeichnungen, die an die Angst der Soldaten vor dem Tod ankntipften. Dazu zahlten Symbole wie Totenkopfe, Graber, Skelette; in einigen Fallen erschien der Tod selbst als Sensemann.
Bei der vergleichenden Analyse muss beriicksichtigt werden, dass die Potenziale und Moglichkeiten im deutsch-sowjetischen Propagand- akrieg zunachst sehr ungleich verteilt waren. Die Offiziere der “aktiven
Propaganda” der Wehrmacht hatten beim Einmarsch am 22. Juni 1941 bereits zwei Jahre erfolgreicher Kriegfiihrung hinter sich. Ihre in der Ukraine verbreiteten Plakate (Abb. 1) zeigten das sehr eingangige Bild eines “Befreier-Soldaten” mitten in einer Schar frohlicher Kinder. Die Plakate waren zudem von typografisch hochwertiger Qualitat. Bis Ende Oktober 1941 warfen die Deutschen iiber sowjetischen Stellungen und Schutzengraben etwa 350 Millionen Flugblatter ab. Das der Bevolke- rung unbekannte und neue Format sowie das Vertrauen, das sowjetische Burger grundsatzlich gedruckten Texten entgegenbrachten, zeitigten gewisse Erfolge. In den ersten Kriegswochen empfingen die Menschen die Deutschen in einigen Ortschaften der Westukraine wie Befreier. Hinzu kam das weit verbreitete und noch aus den Zeiten des Ersten Weltkriegs stammende Bild Deutschlands als einer hochentwickelten Kulturnation. Besonders verheerend wirkte sich das Chaos der ersten Kriegstage auf den Kampfgeist der Soldaten aus. Kontrollverlust iiber die Truppen, das Fehlen vertrauenswiirdiger Informationen und widerspriichliche Befehle fiihrten zu wilden Gertichte. Im Wettlauf mit dem Tod erschien die Ge- fangennahme als ertraglicher Ausweg.
Die sowjetischen Spezpropagandisten, vorwiegend Studenten der padagogischen Hochschulen mit Kenntnissen in der deutschen Sprache, mussten das professionelle ABC des Propagandisten von der Pike auf er- lernen. Bereits in den ersten Kriegswochen war alien klar geworden, dass von Klassensolidaritat (Abb. 2) keine Rede sein konnte und ein entspre- chender Propagandaansatz keine Perspektive hatte. Es kam nicht zu Ver- brtiderungen zwischen Soldaten der Roten Armee und der Wehrmacht. Im Gegenteil, die Brutalisierung der Kampfhandlungen, die Bestialitat der Besatzer verhohnten die Klassenpropaganda der marxistischen Lehr- bticher. Sie wurde verdrangt von der Herausforderung, eingangige Texte zu schreiben und deutliche Worte und Bilder zu finden. Im Kampfgettim- mel waren Schnelligkeit und Selbstandigkeit gefragt. Anhand der im Album veroffentlichten Propagandamaterialien wird sichtbar, wie sich die sowjetischen Propagandisten von den abstrakten Schablonen und Kli- schees losten. Es gelang ihnen zunehmend, sich in die Psychologie des Feindes hineinzuversetzen und seinen Kampfgeist zu schwachen. Wah- rend des Rtickzugs und wegen des sehr schnellen Wechsels der Frontlini- en mussten sie auf Anhieb “treffsichere” Bilder finden. Sie nutzten dabei alles, was nur irgendwie verwendet werden konnte, eigene Ideen ebenso wie alte Zeitungsausgaben und Journale.
Eine der eindrucksvollsten Karikaturen jener Zeit ist “Heil-Beil!” — eine Darstellung Hitlers als Beil (Abb. 3). Die Karikatur entlarvte den todbringenden Charakter der Hitler-Invasion, diskreditierte Hitler und das von ihm geschaffene Regime. Eventuell war das Bild in der ersten Phase des Krieges weniger wirkungsvoll. Spatestens nach der Schlacht um Stalingrad jedoch identifizierten sich die deutschen Soldaten zuneh- mend mit den symbolischen Leichenschadeln, die auf der Karikatur zu sehen sind. Das Bild war auBerst popular, wurde wieder und wieder auf sowjetischen Flugblattern abgedruckt und diente wissenschaftlichen Monografien tiber die Kriegspropaganda als Titelbild.5 Wissenschaftler stieBen durch Zufall auf die Originalquelle des Hitler-Beils. Ein Grafi- ker der Zeitschrift “Krokodil” hatte die Karikatur in der Marzausgabe des Jahres 1938 in Reaktion auf die Propaganda und die Repressionen der Nazis im “angeschlossenen” Osterreich (Abb. 4) veroffentlicht. Deutschland und dessen revanchistische Plane waren in den Vorkriegsjahren das Lieblingssujet sowjetischer Karikaturisten. Von den 1.600 internationa- len Themen gewidmeten Karikaturen der Zeitschrift “Krokodil” der Jahre 1922 bis 1939 befasste sich mehr als ein Drittel der Zeichnungen mit dem Thema.6
In der letzten Phase des Krieges hatte sich das Krafteverhaltnis zwi- schen den deutschen und sowjetischen Spezpropagandisten ins Gegenteil verkehrt. Sahen die Kommandeure der Wehrmacht frtiher tiber die feind- lichen Flugblatter und die Debatten, die sie unter ihren eigenen Soldaten auslosten, hinweg, so war in spateren Kriegsjahren von ihrer Arroganz nichts mehr zu sptiren. In den Truppenteilen fanden aufklarende Seminare statt, auf denen die “Grimassen der sowjetischen Presse” entlarvt wurden. Spater kam es sogar zu politischen Verfolgungen, und am 2. Januar 1944 setzte ein Sonderbefehl Hitlers zum Kampf gegen die feindliche Propaganda die Aufbewahrung sowjetischer Flugblatter mit Landesverrat gleich. Nun waren die Propagandisten der Wehrmacht an der Reihe, sich an die Realitaten des Rtickzugs zu gewohnen. In der Eile und Hast hantierten sie sehr unglticklich und mit unpassenden Sujets wie der Darstellung eines dunkelhautigen Affen-Piloten, auf dessen Brust ein kommentieren- des Plakat mit der Aufschrift “Judenbolschewist” zu sehen war (Abb. 5). In diesem Fall nutzten die Propagandisten offenbar aus Zeitnot die ftir den “Gebrauch im Heimatland” geeignete Thematik alliierter Kampfein- satze gegen deutsche Stadte. Es wird wohl kaum ein sowjetischer Soldat oder Zivilist die Realitaten des sowjetischen Lebens mit dem zigarrerau- chenden Affen des Flugblatts identifiziert haben.
Wie jede Waffe war auch die Kriegspropaganda auf einen Erfolg um jeden Preis ausgerichtet, und sie nutzte alle ihr daftir zur Verftigung ste- henden Methoden und Moglichkeiten. Die auf den Feind, die feindlichen Soldaten und Offiziere zielende Propaganda kannte keine moralischen Fesseln oder politischen Schranken. Ein sehr popularer Ansatz im Du- ell der sowjetischen und deutschen Propaganda war die Damonisierung der Ftihrer des Gegners, die man ihres menschlichen Antlitzes beraubte (Abb. 6 und 7). Auf beiden Seiten gab es jedoch ideologische Vorgaben und Stereotype. In der Propaganda der Wehrmacht dominierten antise- mitische Akzente, die bei den sowjetischen Soldaten jedoch keinen Wi- derhall fanden. Sie sorgten bestenfalls ftir Verargerung und bestatigten die These vom verbohrten Rassismus der Nazis. Die sowjetische Propaganda ware bei einem Vergleich Hitlers mit dem Teufel statt mit einem Gorilla sicher sehr viel wirkungsvoller gewesen. Die atheistische Erzie- hung der Offiziere lieB das jedoch nicht zu.
Plagiate waren an der Tagesordnung. Jedes erfolgreiche Bild wurde so- fort kopiert und auch auf der anderen Seite der Front eingesetzt, beispiels- weise die Darstellung eines Wehrmachtssoldaten, der das Bajonett in die Erde stoBt und sich weigert, auf fremdem Boden zu kampfen (Abb. 8). Der Text war auBerst eingangig und mit einem tragischen Bild versehen, das weder aggressiv noch unpassend lacherlich wirkte: “Ich mochte mich er- geben, um mein Leben zu retten.” (Abb. 9). Nach einigen unbedeutenden Veranderungen wurde aus dem Bild schnell die Darstellung eines deut- schen Soldaten, der einen “Juden-Kommissar” totet (Abb. 10). Auffallige Nichtentsprechungen einzelner Teile der Komposition (die ausgestreckte Hand, das Gewehr, der Riicken des Betroffenen) wurden ignoriert. Diese “Piraterie” gehorte ebenso zum Krieg wie die Jagd auf innovative Kriegs- technik und deren Reproduktion. Das Album enthalt Dutzende Beispie- le von Kriegsplagiaten. Nicht selten wurden nicht nur die Komposition und die Details der Darstellungen kopiert, sondern die Idee selbst, die den Feind in den erwunschten psychologischen Zustand versetzen sollte. Eine sehr effiziente Methode der Spezpropaganda bestand darin, Unsi- cherheit und Angst in Bezug auf die Vorgange im Hinterland und um die Verwandten dort zu erwecken. Verbreitet war die Darstellung von “Hin- terlandratten”, die sich in die Hauser der Soldaten schleichen und deren Frauen Gewalt antun, wahrend die Soldaten an der Front ihr Blut ver- gieBen. Das Bild nutzten beide Kriegsparteien (Abb. 11 und 12). Bislang konnte die Wirkung der Flugblatter nicht iiberpruft werden, da entspre- chende Berichte fehlen oder eventuell noch geheimgehalten werden. Es steht zu vermuten, dass die Wirkung dieser Motive in direktem Zusam- menhang mit der Qualitat und Sicherheit der Postverbindung zwischen der Front und dem Hinterland stand und auBerdem davon abhing, ob der Soldat Urlaub erhielt und aus erster Hand erfuhr, was bei ihm zu Hause vor sich ging.
Die schockierende Parallelitat der in diesem Beitrag zitierten Illustra- tionen geht auf die allgemeine Technologie der psychologischen Kriegs- fiihrung zurtick.7 Es trafen zudem zwei Regime mit einer ausgepragten Ideologic- und Propagandamaschinerie in todlicher Auseinandersetzung aufeinander. In dieser Richtung lohnt es sich zweifellos, weiter zu forschen. Im Vergleich der konkreten Methoden der psychologischen Kriegsftih- rung durfen fundamental Unterschiede des Inhalts der Spezpropaganda jedoch nicht aus dem Blick verloren werden. Ich schlieBe mich der These von Klaus Waschek an: “Abgesehen von einigen strukturellen Uber- einstimmungen, beispielsweise Propagandamechanismen und formalen
Ahnlichkeiten, existierte zwischen der Sowjetunion und Deutschland ein prinzipieller Unterschied hinsichtlich der Herausbildung der totalitaren Kultur, ein Unterschied, der von der in Mode gekommenen uniformen Interpretation, die Ahnlichkeiten hervorhebt, nivelliert wird.”fi
Die Bilder und Darstellungen der Kriegspropaganda bringen diesen Unterschied deutlich zum Ausdruck. In der sowjetischen Propaganda war die Tabuzone sehr viel groBer als in der deutschen Propaganda. So- wjetische Flugblatter und Darstellungen verzichteten darauf, den deutschen Nationalstolz lacherlich zu machen, im Gegenteil, sie stellten he- raus, dass Hitler und seine Heifer selbst die tausendjahrige Geschichte des deutschen Volkes verhohnten. Die Mentalitat der deutschen Solda- ten fand ebenfalls Beriicksichtigung. Erst in der Endphase des Krieges entstanden Karikaturen von Wehrmachtsgeneralen. Entsprechend den rassistischen Vorgaben der Nazi-Ideologie hatten die Propagandisten der Wehrmacht dagegen kein Problem damit, die Offiziere der Roten Armee als “Juden-Kommissare” und die Soldaten als willenlose und unterwtir- fige “Halbmenschen” darzustellen. Die Wehrmacht sei demnach in den Osten gezogen, um eine zivilisatorische Mission zu erftillen. Der jiidische Bolschewismus habe sich als unfahig erwiesen, das Land aufzubauen und die Bevolkerung zu versorgen. Die Stilistik der Nazi-Plakate, die fur die Bevolkerung in Deutschland entworfen wurden, beschrieb den Feind als stark und heimtiickisch.9 Im Gegensatz dazu stellte die fur die feindlichen Truppen gedachte Propaganda den “russischen Soldaten” anders dar — als einen Menschen mit einer Waffe, des Krieges unendlich miide und ge- fangen im Netz einer ungeliebten Macht (Abb. 13).
Die Fotomontage Alexander Schitomirskijs ist ein ausdrucksvolles Beispiel fur das von der anderen Kriegspartei kreierte Bild des deutschen Soldaten (Abb. 14). Der wahnsinnig dreinschauende junge Mann vor dem Hintergrund brennender Ruinen illustriert anschaulich das Unfass- bare des Krieges. Die Zeichnung wurde gemeinsam mit einem Gedicht des deutschen kommunistischen Dichters Erich Weinert abgedruckt. Der Titel des Gedichts ist zugleich das Motto der Zeichnung: “Die Toten von Stalingrad mahnen”. Das ausdrucksstarke und treffende Bild sorgte bei den Wehrmachtssoldaten nicht nur fiir Angst vor dem unvermeidlichen Untergang, sondern machte sie fiir ihre Taten verantwortlich. Ware der Krieg anders verlaufen, d.h. ware es bei Stalingrad nicht zur Zerschlagung der deutschen Sechsten Armee gekommen, hatte das Motiv eine sehr viel geringere Wirkung erzielt. Fiir die Wissenschaft ist es deshalb wichtig, sich immer wieder zu vergegenwartigen, dass psychologische Kriegsfiih- rung nie unabhangig vom realen Kriegsgeschehen funktionieren bzw. siegreich sein kann. Propaganda, die sich auf reale Kriegserfolge sttitzt
und sich selbst tiber die Frontlinien hinweg an den Gegner wendet, ist in der Lage, einen realen Beitrag zum Sieg zu leisten. Das zeigen die Erfah- rungen des Zweiten Weltkriegs allgemein und ganz konkret die Lehren der Schlacht um Stalingrad. I II III IV V VI VII VIII IX
DER GROBE VATERLANDISCHE KRIEG: VOLKSGEDACHTNIS UND STAATSPOLITIK (am Beispiel des Gebietes Archangelsk)
Roman Boldyrew,
Nordliche (Arktische) Federate Universitat, Archangelsk
Das historische Gedachtnis besitzt eine einzigartige Eigenschaft. Es erneuert sich an Krisen- und Wendepunkten der Gesellschaft. Einzelne historische Ereignisse erscheinen herausgehoben, andere werden ausge- blendet. Mitunter personifiziert sich das historische Gedachtnis auch, indem es durch die Bewertung von geschichtlichen Epochen und Akteu- ren die Ansichten und das Bewusstsein von Angehorigen spaterer Gene- rationen pragt.
Das Gedenken an den GroBen Vaterlandischen Krieg 1941-1945 ist eingrundlegender Baustein des russischen historischen Bewusstseins. Die Erinnerung an den siegreichen Krieg konsolidiert die Gesellschaft und alle Nachkriegsgenerationen. Es ist ein Ereignis, an dem alle teilhaben, denn die Nachkommen sind zugleich die Erben jener GroBtat des Volkes. Der Sieg im GroBen Vaterlandischen Krieg ist deshalb ein wesentliches Element des russischen Nationalstolzes.
Unterdessen haben sich die Informationsquellen liber den Krieg in den vergangenen 65 Jahren gewandelt. Soziologische Umfragen zeigen, dass die Erinnerung an den GroBen Vaterlandischen Krieg vor allem in Form von Familienlegenden erhalten geblieben ist. Die Halfte der Rus- sen kennt den Krieg unmittelbar aus den Erzahlungen von Verwandten und Bekannten, die einst an der Front gekampft oder im Hinterland ge- arbeitet haben sowie aus den Familienarchiven. Es wachst jedoch die Zahl derjenigen, die keinerlei personliche Beziehung zum Krieg haben. Das betrifft etwa ein Drittel der Bevolkerung und sogar die Halfte der jungeren Generation.1 Die Jugendlichen entnehmen ihre Informationen tiber die Kriegsereignisse heutzutage hauptsachlich Filmen, der Literatur oder dem Schulunterricht. Diese Informationskanale formen ihre Vor- stellungen vom GroBen Vaterlandischen Krieg und geben Auskunft tiber Grtinde, Verlauf und die Folgen des Kriegs. Zugleich sind sie abstrakt, d.h. wenig emotional und sorgen ftir eine psychologische Distanz zu den
Kriegsereignissen. AuBerdem tragen sie in nicht unerheblichem MaBe zur Mythologisierung des Krieges bei.
Die ideologische, soziale und politische Transformation der Jahre zwi- schen 1980 und 1990 hat die Einstellung zum Krieg stark beeinflusst. Die russische Bevolkerung sieht in ihm einerseits das herausragendste und andererseits das tragischste Ereignis des 20. Jahrhunderts.2 Die Mehrheit der Bevolkerung halt den Sieg im GroBen Vaterlandischen Krieg zudem fur den groBten historischen Triumph Russlands uberhaupt und ist des- halb iiberzeugt, dass seine Bedeutung keineswegs geringer geworden ist.* Allerdings hat in den letzten Jahren auch die Zahl der Skeptiker zuge- nommen. Sie glauben, dass die Russen den Krieg zunehmend vergessen.'1 Aus soziologischen Umfragen geht hervor, dass sich die Aufmerksamkeit der Gesellschaft heutzutage vor allem auf Siegesfeiern und Kriegsjubilaen richtet.5 Die Meinung der Bevolkerung zu den Feiertagen ist hingegen nicht einhellig: 55 Prozent der Befragten halten den Tag des Sieges fur einen staatlichen Feiertag, 41 Prozent fur einen Volksfeiertag.6
In der Einstellung der Bevolkerung zu den Schliisselereignissen des GroBen Vaterlandischen Krieges haben sich zwischen 1990 und 2000 ebenfalls wesentliche Veranderungen vollzogen. Die groBe Mehrheit der Bevolkerung meint, dass der GroBe Vaterlandische Krieg als ein vom Zweiten Weltkrieg isoliertes Ereignis betrachtet werden kann (82 Prozent). Zugleich wachst jedoch die Zahl derjenigen, die glauben, dass der Sieg ein Verdienst aller beteiligten Krafte der Anti-Hitler-Koalition gewesen ist (im Mai 2010-45 Prozent).7 Letztere Uberzeugung wird Schwierigkeiten haben, sich weiter durchzusetzen, denn die ideologi- schen Klischees des Kalten Krieges sitzen noch fest in den Kopfen. 82 Prozent der Befragten glauben, dass die UdSSR den entscheidenden Bei- trag zum Sieg geleistet hat,8 und etwa 65 Prozent sind davon iiberzeugt, die UdSSR hatte den Sieg auch allein erringen konnen.9 Hinsichtlich der Kriegsverluste machen viele Russen (2010 waren es 50 Prozent) die so- wjetische Fiihrung und insbesondere Stalin verantwortlich, wahrend nur 28 Prozent dem Feind die Schuld daran geben.10 Unterdessen zeigen die soziologischen Umfragen der letzten Jahre, dass die Kritik an der sowje- tischen Kriegsfuhrung leiser wird und mehr Befragte den unerwarteten Oberfall Deutschlands auf die UdSSR als den entscheidenden Grund fur die enormen Verluste betrachten. Es ist bemerkenswert, dass vor allem junge Menschen (bis 25 Jahre) und altere Menschen (iiber 55 Jahre) die Fiihrung Stalins und der Armeeoberbefehlshaber eher unkritisch bewer- ten.11 Bei der Aufarbeitung des Kriegsgeschichte nehmen die Werte und Ideale, fiir die die sowjetischen Soldaten einst kampften, einen wichtigen Platz ein. Die Mehrheit der Bevolkerung ist davon iiberzeugt, dass die Soldaten fiir die Heimat in den Krieg zogen, fur ihre Verwandten und Freunde (77 Prozent). Nur 14 Prozent der Befragten glauben, dass sie fiir die Sowjetunion und die Kommunistische Partei kampften.12 Die Russen halten die Vernichtung des Hitlerregimes und die Befreiung des besetz- ten Europas fur das wichtigste Resultat des Sieges.13 Das historische Ge- dachtnis an den GroBen Vaterlandischen Krieg hat dank der Griindung der Prasidialen “Kommission gegen Versuche der Geschichtsfalschung” besondere Bedeutung erlangt. Bei groBer Zustimmung zur Notwendig- keit der Einsetzung einer solchen Kommission (78 Prozent der Befragten im Juni 2009) sind jedoch nur 34 Prozent der Meinung, dass in erster Linie die Geschichtsaufarbeitung des GroBen Vaterlandischen Krieges einer Kommission bedurfe.14
Fur die Politik war und ist der GroBe Vaterlandische Krieg einer der wichtigsten staatsbildenden Mythen. Das gait fur die sowjetische Ideologic und das gilt heutzutage ebenfalls. Das Gedenken an den Krieg ist eines der bedeutsamsten strukturbildenden Elemente der Konsolidierung des nationalen Bewusstseins. Es vereint und mobilisiert die Bevolkerung angesichts neuer sozialer und politischer Herausforderungen und tragt zur Bildung und Festigung des Verteidigungsbewusstseins bei. Aller- dings stehen die von der Politik diktierten Darstellungen nicht immer im Einklang mit den in der verbreiteten Bevolkerung Vorstellungen und Bildern vom Krieg. Offizielle Darstellung und Volksgedachtnis treten jedoch miteinander in Wechselwirkung, stimmen in einigen Punkten iiber- ein, erganzen oder widerlegen einander. Dieses Spannungsverhaltnis wird am Beispiel des Gebiets Archangelsk deutlich.
Eine sehr schone Illustration zum Schulunterricht jener Jahre ist das Siegesdenkmal, das 1967 an den Ufern der Nordlichen Dwina in Archan- gelsk von dem Architekten Kibirjew geschaffen wurde. Drei Bronzefigu- ren — ein Infanterist, ein Matrose und eine Frau — symbolisieren den Anted der Bevolkerung des Nordens am Sieg. Sie tragen die Ziige beruhmter Kriegsteilnehmer. Der Infanterist ist Iwan Galuschin nachempfunden, der bei der Schlacht am Kursker Bogen um den Preis des eigenen Le- bens ein deutsches Ferdinand-Sturmgeschutz aufhielt. Der Matrose stellt Alexander Torzew dar, einen Seeinfanteristen, der in Kampfen bei Murmansk die GroBtat Matrossows wiederholte. Rosa Schanina, die erste He- ckenschiitzin der sowjetischen Armee, hat der Kiinstler in der bronzenen Frauenfigur verewigt. Die Schuler aus dem Gebiet Archangelsk, die diese wenigen Angaben vorgesetzt bekamen, miissen enttauscht gewesen sein: keine epochalen Schlachten, keine heroische Verteidigung von Stadten, keine Partisanenbewegung. Tatsachlich konnte sich ihre Stadt nicht mit den Heldenstadten Moskau, Stalingrad oder Minsk messen.
In Familienkreisen sprachen die Bewohner unterdessen uber andere Begebenheiten, die von der offiziellen Geschichtsschreibung ignoriert und sorgfaltig verschwiegen wurden, denn in den Jahren des Kalten Krie- ges war alles, was mit der Hilfe der Alliierten zusammenhing, tabuisiert. Das gait auch fur das Lend-Lease-Programm und die arktischen Hilfs- lieferungen fiber Archangelsk. Die sowjetische Fuhrung bezifferte den Anteil der alliierten Hilfslieferungen am Sieg mit sechs Prozent. In der UdSSR hat niemand diese Zahl je hinterfragt, geschweige denn widerlegt. In Folge wurde die Beteiligung der Archangelsker am Kriegsgeschehen unterschatzt. In GroBbritannien und den USA sind seit vielen Jahren die Veteranenorganisationen “Arctic convoys” aktiv. Vergebens baten die Veteranen bei der sowjetischen Regierung um Erlaubnis, Archangelsk und Molotowka (jetzt Sewerodwinsk) besuchen zu diirfen. Sie hatten eine Fahrt durch die gefahrlichen Wasser des Europaischen Nordmeers und der Barentssee entlang der 2.000 “Feuermeilen” zwischen Reykjavik, Scapa Flow und Archangelsk geplant. Sewerodwinsk und Archangelsk galten zu sowjetischen Zeiten als wichtige Verteidigungsobjekte, deshalb war der Aufenthalt von Auslandern dort nicht erwiinscht. Wahrend der offiziellen Feierlichkeiten zum Tag des Sieges im Jahr 1990 suchten die englischen Veteranen bei der sowjetische Regierung um die Erlaubnis nach, eine Feier zu Ehren der ersten Landung eines Konvois in Archangelsk durchzufuhren und erhielten schlieBlich die lang erwartete Zustim- mung. Am 31. August wurde erstmals feierlich und offiziell ein lange Zeit verschwiegene Ereignis, die Landung des ersten Konvois “Derwisch”, gewurdigt.15
Viele Stadtbewohner der Nachkriegsgenerationen erfuhren mit Er- staunen erstmals, dass in den Kriegsjahren in Archangelsk 41 alliierte Konvois landeten und 37 Konvois ablegten, insgesamt 738 Schiffe. Der Hafen von Archangelsk fertigte drei Millionen Tonnen Giiter ab, da- runter 2.000 Flugzeuge und mehr als 4.000 Panzer und Panzerwagen.18 Davon war bis dahin weder in den Lehrbuchern die Rede, noch gab es ent- sprechende Gedenkorte. Die Offentlichkeit war fasziniert von der zuvor geheimgehaltenen Geschichte des Nordens. Es erschienen Erinnerungen von Konvoi-Teilnehmern, Monografien auf der Basis geheimer Archiv- dokumente und Memoiren der im Hinterland verbliebenen Arbeiter. In den Jahren 1991 bis 2000 wurde eine ganze Buchserie mit den Erinnerungen der Konvoi-Teilnehmer publiziert.17 2002 erschienen ebenfalls erstmals Erinnerungen an den Kriegsalltag in Archangelsk. Die einfa- chen und sehr detaillierten Beschreibungen des Lokalhistorikers Leonid Schmigelskij berichten (iber den Alltag der Kadetten der Seefahrtsschu- le, das Befinden der jungen Leute, die Nahrungsmittelrationen, populare Lieder der Hafenstadt, in der die Konvois der Alliierten ankamen.18
2005 wurde schlieBlich ein groBer Teil der Kriegdokumente des Staat- lichen Gebietsarchivs und des regionalen Archivs des Foderalen Sicher- heitsdienstes (FSB) offentlich zuganglich gemacht. Die unter dem Titel “Der Krieg. Festgehaltene Tage: 1941-1942” herausgegebenen Doku- mente machten die Offentlichkeit mit zahlreichen bislang unbekannten Fakten bekannt. Der Band dokumentiert, dass der Krieg (iber eine vollig unvorbereitete Stadt hereinbrach und die Lebensmittelrationen unzu- reichend waren (Archangelsk belegte in der Rangliste des Hungertodes nach dem von der Blockade betroffenen Leningrad den zweiten Platz). Fur Aufregung sorgte in diesem Zusammenhang die Veroffentlichung der Tagebucher des aus Archangelsk stammenden F. N. Parschinskij. Er war erschossen wurde, weil er zwei Katzen verzehrt hatte. Zu Diskussionen fiihrte ebenso das Bekanntwerden der ErschieBung zweier Kommandeu- re der Partisanentruppen des NKWD, die an der Karelienfront gekampft hatten.19
Die Veroffentlichung von Archivdokumenten setzte sich mit dem Buch “Die Partisanen von Archangelsk in Karelien. 1942-1944” fort. Der Band dokumentiert die Aktivitaten der Partisanengruppen “Poljar- nik”, “Stalinez” und “Bolschewik”, die von den Einwohnern des Gebietes Archangelsk gebildet worden waren. Die Partisanengruppen waren an Kampfhandlungen auf karelischen und finnischen Territorium beteiligt. Die wissenschaftliche Aufarbeitung und Neubewertung des Beitrags der Einwohner des Gebietes Archangelsk zum Sieg lieB ebenfalls nicht lange auf sich warten. Der in Archangelsk lehrende Historiker Michail Suprun widmete seine Habilitationsschrift der Schliisselrolle der Stadt bei der Versorgung der UdSSR im Rahmen des Lend-Lease-Programms. Er be- schreibt das Heldentum der sowjetischen, englischen und amerikanischen Matrosen, die unter Einsatz ihres Lebens strategisch wichtige Gtiter auf kiirzestem Wege an ihren Bestimmungsort brachten.20 In den Jahren 2000 und 2005 fanden in Archangelsk zwei internationale wissenschaftliche Konferenzen statt, die sich mit dem Krieg in der Arktis und der Rolle des Lend-Lease-Programms befassten. An den Tagungen nahmen Wissen- schaftler aus Russland, Deutschland, den USA, GroBbritannien, Frank- reich und den skandinavischen Landern teil.21
Leider unterstiitzten die Politiker des Gebietes Archangelsk und der Stadt Archangelsk in den Jahren 1990 bis 2000 die Bestrebungen der Bevolkerung kaum und legten ihnen stattdessen bewusst oder unbe- wusst Steine in den Weg. In den “Wirren” der 1990er Jahre fielen zahl- reiche Gedenkorte dem Vergessen anheim. Dem Platz des Sieges droh- te der Abriss. Der noch in Kriegstagen geschaffene Gedenkort erinnert an die Kriegszerstorungen und an die Bewohner eines Wohnhauses, das durch deutsche Bombenangriffe dem Erdboden gleichgemacht wor- den war. Ein Stadtpolitiker schlug vor, auf dem Platz eine den Figuren des Marchenerzahlers Stepan Pisachow nachempfundene Skulpturen- allee zu errichten. In den 1990er Jahren entstanden neue Denkmale wie das Denkmal fur die gefallenen Schiffsjungen. Lange Zeit lehnten die Lokalpolitiker den Vorschlag gesellschaftlicher Organisationen ab, den Robben ein Denkmal zu setzen. Robbenfleisch war in den Kriegs- jahren Nahrungsgrundlage der Archangelsker. Viele retteten sich mit dem Verzehr von Robbenfleisch vor dem Hungertod. Am Vorabend des 65. Jahrestags des Sieges anderten die Politiker dann ihre Meinung. Im Mai 2010 wurde das Denkmal fur die “Retter-Robben” feierlich ein- geweiht. Parallel dazu entstand an den Ufern der Nordlichen Dwina das Denkmal fur den aus Archangelsk stammenden Flottenadmiral der Sowjetunion, Nikolaj Kusnezow. Den vielleicht wichtigsten Erfolg erzielten die Politiker der Stadt und des Gebiets, als der russische President Dmitrij Medwedjew Archangelsk am 5. Dezember 2009 den Eh- rennamen “Stadt des Ruhmes” verlieh.22 Archangelsk ist insoweit eine Ausnahme, als bislang nur Stadte, die sich in den Kriegstagen direkt an der Frontlinie befanden, den Ehrentitel “Stadt des Ruhmes” tragen durf- ten. Die Auszeichnung erkennt die Verdienste der Archangelsker und des Gebiets Archangelsk im GroBen Vaterlandischen Krieg an und wird den historischen Ereignissen und der Wahrheit liber den Krieg gerecht. I
