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Россияне и немцы в эпоху катастроф.docx
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01.07.2025
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  • Guten Tag, junger Mann. Warum fahren Sie nicht weiter?

  • Ich komme nicht vom Fleck.

  • Wissen Sie, warum ich hier bin? Kaufen Sie fur mich so und soviet Meter weiften Stoff.

  • Gut, das mache ich.

  • Dann kommen Sie wieder zuriick. Ich werde hier auf Sie warten.

Sofort sprang das Auto an .... Sie kauften so viel Stoff, wie sie verlangt

hatte. Er fuhr zu jenem Ort und dort blieb sein Auto wieder stehen. Es tauchte dieselbe Frau auf:

  • Na, hast du das Leinen gekauft?

-Ja, hier.

Sie reiBt den Stoff in zwei Halften.

  • Das ist fiir dich, und das ist fiir mich...

  • Nein, so geht das nicht. Sie haben bestellt, ich habe den Stoff gekauft.

  • Nein das darf nicht sein. — Sie zerriss den Stoff. — Das ist fiir dich, und das ist meins.

  • Sagen Sie bitte, gibt es bei uns bald Krieg?

  • Nein, so bald wird es keinen Krieggeben.”x

Neben der nackten Frau haben in dieser Erzahlung auch das Bild des Kraftfahrers und der in zwei Halften gerissene Stoff semantische Bedeu- tung. Der Kraftfahrer ist ein Mensch, der unterwegs ist (in einem margi- nalen Raum). Er hat das Territorium der ansassigen, kultivierten Zone verlassen und ist ein eigentiimlicher Mittler zwischen den Raumen. Die StraBen und Wege, auf denen er sich bewegt, sind Informationskanale, die Wei ten verbinden. Die Aufteilung des Stoffes symbolisiert einen Auf- schub des Krieges. Die nackte Frau bzw. die Gottesmutter teilt den Men- schen Los und Schicksal zu.

In einer in der Siedlung Tepikinskaja aufgezeichneten Version sym­bolisiert die nackte Madonna eine Kriegsprophezeiung: “Ein Kraftfahrer sollte zum Niederen Don fahren. Er fuhr und hatte Urjupino schon verlassen, als er eine nackte Frau auf dem Weg laufen sah. Die Gottesmutter. Plotz- lich blieb sein Auto stehen. ,Ich habe nicht gebremst oder angehalten, aber mein Auto steht... \ sagte er. Nach dieser Geschichte warteten alle auf den Krieg.”2 Die irdische Gottesmutter steht fur die im Volk weit verbreitete Vorstellung von einem “irdischen Doppelganger” aller mythologischen Figuren (Himmelsbewohner). In einer Erzahlung Wassilj Schukschins erzahlt eine Alte die Geschichte von einem jungen Soldaten, dem zu Gast bei Freunden eine Frau erscheint. Die Frau beweint die junge Generation und stellt sich ihm als irdische Gottesmutter vor. Ganz irdisch beweint die Frau jene, denen der Tod bevorstand.3

Die Motive des Leinenstoffs und der nackten Gottesmutter sym- bolisieren den volkstiimlichen Glauben an ein gemeinsames Schicksal bzw. Los, iiber dessen Aufteilung im Himmel entschieden wird. Auf die Verbindung zwischen Los und Schicksal in der ostslawischen Tradition hat bereits A. A. Potebnja hingewiesen. Gott verteilt “in der Welt eine bestimmte Menge Gliick und Ungliick, Krankheiten, Gutes und Boses, und keines von ihnen verringert sich. Wird jemand krank, dann ist die Krankheit von einem anderen, den sie verlassen hat oder der gestorben ist, auf ihn gekommen.” Hat jemand Gliick gehabt, dann ist einem ande­ren Gliick abhanden gekommen. (“Gott faulenzt nicht, er misst das Gute nach.”) Das Los erscheint so als der Teil eines Ganzen, den Gott jedem Einzelnen zumisst.4

Die Blofle der irdischen Madonna verkorpert hier das Los der irdi­schen Menschen. In der Siedlung Kotowskaja wurde folgende Version des Motivs aufgenommen: “Ein Chauffeur war mit seinem Auto unterwegs. Da steht eine Alte am Weg und bittet ihn, sie mitzunehmen. Sie fahren also, und sie gibt ihm ein Biindel. Er offnet das Biindel und darin befinden sich Brot, ein Messer und Seife. Die Alte ist schon weg. Er fahrt nach Hause und fragte die Dorfaltesten:, Was hat das zu bedeuten?’ Und sie sagen ihm: ,Das Brot meint die Emte (1941 war ein sehr ertragreiches Emtejahr), das Messer bedeutet Krieg und die Seife — Ein Dummkopf kann mehr Fragen stellen als zehn weise Manner beantworten konnen. ’”5 Obwohl das Thema sehr ernst ist (und vielleicht auch gerade deshalb), endet die Geschichte mit einer scherzhaften Schlussformel, die aus der Legende eine lehrhafte Anekdote macht.

Die Losverteilung ist in dem Sujet eindeutig. Von Bedeutung ist der Umstand, dass in diesen (und anderen) Texten Frauen (nackte, wei- nende) die Vorboten der Not und des Krieges sind. Die Verarmung der weiblichen, lebenserhaltenden Sphare und deren Reduzierung auf das Korperliche steht in der volkstiimlichen Vorstellungswelt in engem Zu- sammenhang mit einem Uberfluss an Lebensenergie und Lebenskraft der mannlichen Sphare. Das aber bedeutet Krieg. Auf die Verletzung der Nor- men folgt unvermeidlich die Strafe, was wiederum zur Verkiimmerung des mannlichen Parts fiihrt.

Weniger aufgeladen, doch nicht weniger deutlich ist die Semantik der Vorboten des Krieges in den folgenden Texten: “Ich habe in Kalmykien gearbeitet, als der Krieg begann. Dort erzahlte man sichfolgende Geschichte. Es trafen sich zwei Hahne, ein roter und ein schwarzer. Sie kampften mit- einander und der rote Hahn besiegte den schwarzen. Da sagten alle, als der Krieg begann, wir siegen so oder so .... Auf den Feldem gab es vor Kriegs- beginn furchtbar viele Giftschlangen. Da sagten die Leute, dass uns etwas Schlimmes bevorsteht. **

In der ostslawischen Tradition wird das Bild des Hahns mit Feuer as- soziiert. Zwei Hahne (oder doppelkopfige Vogel) interpretieren die rus- sischen Volkskunstforscher als Verkorperung des himmlischen und des irdischen Feuers. Der symbolische Kampf der bosen (irdischen) mit den himmlischen Kraften in der ersten Geschichte ist hier durch eine spatere Konkretisierung ersetzt worden. Der rote Hahn steht fur die Rote Armee und den sowjetischen Staat.

Die Schlangen in der zweiten Erzahlung symbolisieren die unterirdi- sche Welt (das Jenseits). Wichtig ist in diesem Zusammenhang der Uber­fluss an Schlangen. Das wird in der Volkstradition mit einer Normverlet- zung assoziiert. (Ist an einer Stelle etwas hinzugekommen, dann wird es an einer anderen Stelle weniger.) Daran kniipfen sich ebenfalls Kriegs- erwartung und die Vorstellung, dass eine ubergroBe Ernte oder die Ge- burt vieler Jungen in mehreren aufeinanderfolgenden Jahren Zeiten der Not nach sich ziehen.

Schliefllich sind Lichtsaulen oder Kreuze am Horizont weit verbreite- te Vorzeichen des Krieges: “Die Nachbarin kommtzu uns: ,Geht und schaut euch das anV Wir gehen hinaus. Am Himmel sind Saulen zu sehen. Rote, einige feurig-rot. Sie riicken zusammen und dann wieder auseinander. Vor dem Krieg war das. Und im ersten Kriegsjahr. ”7 “Vor dem Krieg erschienen am Himmel Saulen, rot, weift, gelb, nachts, wie ein Regenbogen. "Die Leute sagten, Kreuze und Saulen erscheinen im Westen. Das ist eine Erscheinung.

Ich war zehn Jahre alt, als ich die Saulen vor dem Krieg sah. Meine Mut­ter sagte, dass es ein Ungluck geben wiirde, denn Saulen seien erschienen. Das erste Mai im Osten, das zweite Mai im Westen. Sie hatten verschiedene Farben wie ein Regenbogen. Die rote Farbe bedeutet Blut, die blaue Farbe Trauer.

Die farbenfrohen Lichtsaulen, die sich von der Erde in den Himmel erhoben, werden in zwei Texten mit dem Regenbogen verglichen. Der Re­genbogen wird in der volkstiimlichen Tradition auch “Galgen” genannt und als Erscheinung aufgefasst, die das Diesseits und das Jenseits verbin- det. Der kommende Krieg gait als den Menschen von den himmlischen Kraften zugeteiltes “Schicksals-Los der Welt”.