Добавил:
Upload Опубликованный материал нарушает ваши авторские права? Сообщите нам.
Вуз: Предмет: Файл:
Россияне и немцы в эпоху катастроф.docx
Скачиваний:
1
Добавлен:
01.07.2025
Размер:
2.95 Mб
Скачать

In der Erinnerung sind lebendig die Toten Moskau im Schnee, im Feuer Stalingrad.

Nach vier unvorstellbaren Jahren weint wie ein Kind erst der Soldat.

Wahrend sie die Zeilen des Gedichts rezitierte, brach sie in Tranen aus. Dass die Erinnerungen und Portraits der russischen und deutschen Veteranen im Panorama-Museum “Die Schlacht um Stalingrad” gezeigt werden, an einem Gedenkort, der wie kein anderer die russische Sicht des Krieges widerspiegelt, ist keine Selbstverstandlichkeit, sondern vor allem dem Entgegenkommen der Wolgograder Konferenzveranstalter zu ver- danken.

Auch das Portrait Anatoli Mereschkos, Veteran, Generaloberst im Ru- hestand und engagierter Teilnehmer der Konferenz, ist in der Ausstellung zu sehen. Im August 1942 waren der Offiziersschuler Mereschko und sei­ne Kameraden, nur mit Klappspaten ausgerustet, in die Wolgasteppe be- fohlen worden, um den Gegner um jeden Preis aufzuhalten. Seine Kame­raden starben nahe der Siedlung Rossoschki, dem Ort, an dem sich heute ein Gedenkfriedhof mit den sterblichen Uberresten der Soldaten beider Armeen befindet. Am Rande des Konferenzgeschehens verriet der Vete­ran der Sowjetarmee den Teilnehmern ein weiteres Detail seiner spannen- den Lebensgeschichte. Als stellvertretender Stabschef der Truppen des Warschauer Pakts war er im Sommer 1961 mit den militartechnischen Planungen fur den Bau der Berliner Mauer befasst. In Mereschkos Bio- grafie kamen so einige der tragischen Kapitel der sowjetisch-deutschen Beziehungen im zwanzigsten Jahrhundert zusammen.

Rein akademisches Interesse war von den Konferenzbeitragen kaum zu erwarten. Die unterschiedlichen Herangehensweisen der Referenten fallen dem Leser sofort ins Auge. Die Differenzen sind unterdessen nicht unbedingt am nationalen Hintergrund des jeweiligen Referenten fest- zumachen. Die Auffassungen scheiden sich vielmehr an der These vom sowjetisch-deutschen Weltanschauungskrieg. Letzterer impliziert den kompromisslosen Charakter der Kriegshandlungen, die Grausamkeit der “Neuen Ordnung” in den besetzten Gebieten. Die Rassenlehre der Nationalsozialisten begriff den Krieg im Osten demnach als Teil des histo- rischen Kampfes der Arier um ihre Existenz. Damit sie in der Geschichte bestehen konnten, mussten die slawischen Volker unterworfen und letzt- lich vernichtet werden. Die Propaganda des Dritten Reiches verband die rassistisch-biologische Interpretation des Krieges mit einer klassen-ideo- logischen Perspektive, indem sie behauptete, dass eben die Deutschen dazu berufen seien, Europa vor der bolschewistischen Gefahr zu bewah- ren. Mehrere deutsche Konferenzteilnehmer legten dar, dass der Aufruf “zum europaischen Feldzug gegen den Kommunismus” keineswegs origi- nell war, sondern auf Vorlaufer in der Zwischenkriegszeit zuruckblickte. Die sowjetischen Kriegspropagandisten wandten sich ihrerseits von der standardisierten Darstellung des monopolkapitalistischen Faschismus ab und interpretierten den Krieg als eine Auseinandersetzung zwischen Zivilisation und Barbarei. Ubertreibungen sind jeder Propaganda eigen. Das trifft fur die Kriegspropaganda in besonderem MaBe zu. Die Losung “Tote den Deutschen!”, die keinen Unterschied mehr zwischen der Armee Hitlers und der deutschen Zivilbevolkerung machte, stand in ihrer Entfa- chung von Hass und Zerstorung der nationalsozialistischen Konzept vom “Untermenschen” kaum nach.

Ein zentrales Thema der Konferenz waren die Kriegsopfer auf bei- den Seiten — Kinder, Frauen, Fliichtlinge, Kriegsgefangene. Der Bogen reichte von jenen, die in der Schlacht von Stalingrad ihr Leben lieBen bis zu den traumatischen Nachwirkungen unter Uberlebenden des Kriegs. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang die Tatsache, dass in den ersten Nachkriegsjahren 13 Prozent der Bewohner Stalingrads deutsche Kriegsgefangene waren. Auf diese Weise sahen sie doch noch die Wolga, deren Erreichen ihnen die NS-Propagandisten verhieBen hatten, und halfen beim Wiederaufbau der Stadt, die von Bomben und Granaten des Dritten Reiches zerstort worden war.

Nicht nur in den Ruinen der Stadte hinterlieB der Krieg allenthalben Spuren, sondern auch in den Briefen, Tagebuchern und Zeichnungen von Kriegsteilnehmern. Diese historischen Quellen sind sehr viel schwerer als die offizielle Kriegsberichterstattung zu lesen und zu “entziffern”. Gerade sie bergen jedoch die menschliche Dimension des Krieges, die sich bislang nur durch Werke der Literatur und Kunst erschlieBt. Einige Aufsatze des Buches befassen sich mit den Besonderheiten privater Zeugnisse sowie mit den miindlichen Uberlieferungen der Don-Kosaken und den Zeich- nungen sowjetischer und deutscher Kriegsmaler auf beiden Seiten der Front.

Das historische Kriegsgedachtnis pragen heutzutage vor allem Kunst- werke. Monumentalen Gedenkstatten und Filmen kommt dabei grofie Bedeutung zu. So ist die Vorstellung vom Sieg fur die sowjetische Bevol- kerung untrennbar mit der Figur der Mutter-Heimat auf dem Mamajew- Htigel in Wolgograd verbunden oder mit Szenen aus Filmen wie “HeiBer Schnee” und “Die Befreiung”. Fur Deutsche Zuschauer war es schwieri- ger, sich mit dem “Weg nach Stalingrad” auseinanderzusetzen. Erst ab den sechziger Jahren erfolgte eine kritische und zunehmend unbefangene Sicht auf den Krieg, die mit dem Eingestandnis einher ging, dass “Hitler noch nicht vollig besiegt” sei. Wie paradox diese Aussage auch klingen mag, sie verdeutlichte, dass der Krieg erst dann als beendet gelten kann, wenn kein Beteiligter, kein Thema verschwiegen wird. Ein solch ausge- wogener Ansatz konnte erst mit historischen Dokumentationen und Do- kumentarfilmen greifen, die die Kriegsteilnehmer von beiden Seiten zu Wort kommen IieBen. Dies war der Fall im Dokumentarfilm “Stalingrad” aus dem Jahr 2002, der ganz entscheidend die Sicht der heutigen deut- schen Gesellschaft auf dieses historische Ereignis pragt.

Mindestens ebenso intensiv wie tiber den schwierigen Umgang der Deutschen mit dem Krieg wurde auf der Konferenz fiber das historische Gedachtnis im heutigen Russland diskutiert. Was verstehen die russi- schen Machthaber unter der “Falsifizierung der Vergangenheit”, die sie in einem kurzlich erschienenen Gesetz unter Strafandrohung gestellt ha- ben? Kann und darf die Staatspolitik sich uberhaupt anmaBen, tiber die Geschichtsschreibung zu wachen? Wie hat sich in Russland die Stilistik von Kriegsdenkmalen verandert? In welcher Beziehung steht die vom Staat gepflegte monumentale Gedenkkultur zum individuellen und pri- vaten Gedenken an den Krieg? Viele Fragen — mehr Fragen als Antwor- ten — wurden im Verlauf der Konferenz artikuliert, und Leser dieses Ban- des sind eingeladen, sich an der Fortsetzung des Dialogs zu beteiligen.

Die Konferenzteilnehmer kamen ubereinstimmend zum Schluss, dass wir nie einer Meinung sein werden tiber jenen Krieg, der ftir die Russen immer der GroBe Vaterlandische und ftir die Deutschen immer der Krieg im Osten bleiben wird. Es ist auch wenig sinnvoll, Historiker der Fal- schung zu beschuldigen. Falschungen werden zumeist von bestimmten po- litischen Gruppen initiiert, wahrend andere Politiker sich mitunter nicht scheuen, der Wissenschaft “Ietzte Wahrheiten” aufzudrangen. Historiker hingegen brauchen etwas ganz anderes: den freien Zugang zu historischen Quellen, die Militararchive eingeschlossen, uneingeschrankte Publikati- onsmoglichkeiten und eine von staatlicher Kontrolle freie Diskussions- plattform zum essentiellen Austausch von Konzepten und Meinungen. Eine solche Plattform stand uns in Wolgograd zur Verftigung. Aus die- sem Grund seien die Organisatoren und Gastgeber noch einmal ausdrtick-

lich gedankt: die Wolgograder Gebietsverwaltung, das Auslandsbiiro der Konrad Adenauer Stiftung in Russland, die Arbeitsgruppe der deutschen Historiker und Germanisten, die Wolgograder Akademie fur Staatsdienst und die Wolgograder Staatliche Universitat. Unser Dank gilt ferner den Obersetzerinnen Arina Lasarjewa und Susann Weien sowie der Lektorin Tatjana Nekrasowa, ohne deren Einsatz dieses deutsch-russische Buch nicht hatte entstehen konnen. Moge seine Veroffentlichung einen weite- ren Meilenstein auf dem Weg der weiteren Annaherung unserer Volker sein, ein Prozess, fur dessen Gelingen Historiker nicht weniger Verant- wortung tragen als Politiker.

Jochen Hellbeck, Alexander Vatlin, Lars Peter Schmidt

EROFFNUNGSWORTEIM WOLGOGRADER PANORAMA-MUSEUM AM 7. SEPTEMBER 2010

Amulf Baring, Freie Universitat Berlin

Es ist mir sehr schwer gefallen, nach Wolgograd, dem fruheren Sta­lingrad, zu fahren. Denn ich wusste nicht, wie man sich als Deutscher an einem Ort verhalten soil, verhalten kann, an dem, wie wir gehort haben, damals eine Million Menschen umgekommen sind, vorwiegend junge Russen, junge Deutsche, viel Zivilbevolkerung, Frauen, Alte, Kinder. Ich bin tiberzeugt, dass man nur dann angemessen einer solchen Situa­tion begegnet, wenn man sich vorstellt, dass alle diese Toten, alle diese viel zu friih Verstorbenen, Ermordeten uns zuhoren. “Das Vergangene ist nicht tot, es ist nicht einmal vergangen. Wir trennen es von uns ab und stellen uns fremd”, schreibt Christa Wolf am Anfang ihrer Jugenderinne- rungen “Kindheitsmuster”, in denen sie das Kriegsende in Landsberg an der Warthe, den Untergang des damals deutschen Ostens beschreibt.

Wir, Deutsche und Russen, sollten uns, miissen uns wahrend dieser Konferenz der nachsten Tage immer bewusst sein, dass die unendlich gro- Be Zahl der damals hier elend Umgekommenen uns geisterhaft umgibt, ihre Seelen uns zuhoren. Wahrend der ganzen Konferenz, wie schon an diesem Abend, werden uns die Toten schweigend begleiten und leise fra- gen, was wir aus ihrem Sterben gelernt haben.

Ich selbst erinnere mich gut an die Katastrophe von Stalingrad. Na- turlich nicht als Kampfer. Denn ich war ein Kind, war zehn Jahre alt. Ich weiB noch genau, dass der Fall Stalingrads nicht nur von meinen Eltern, von Nachbarn und Lehrern, sondern auch von mir mit tiefem Erschre- cken, als Schock erlebt wurde. Wie wohl viele erwachsene Deutsche habe ich instinktiv die furchtbare deutsche Niederlage, den Untergang einer ganzen, der sechsten Armee, als entscheidende Wende des Krieges emp- funden. Ich erinnere mich, dass ich deshalb die damals maBgebliche Zei- tung, den “Volkischen Beobachter”, mir beiseite gelegt und jahrzehnte- lang aufgehoben habe. Seine Titelseite war wie bei einer Traueranzeige mit dicken schwarzen Balken umrandet. Die Uberschrift lautete: “Sie starben, damit Deutschland lebe” — ein Satz, der mir freilich schon im Februar 1943 nicht einleuchten wollte.

Was wir damals als beginnende Niederlage erlebten, war fur Sie, die Russen, der Beginn einer langen, schmerzhaften Entwicklung zum Guten, zum Sieg liber Deutschland. Die Erinnerung unserer beiden Volker an Stalingrad ist also diametral verschieden, hat gegensatzliche Perspekti- ven.

Doch ich glaube zugleich, dass wir uns in der Bewertung des Ruck- blicks auf beiden Seiten trotzdem nicht sehr unterscheiden. Gemeinsam erschreckt uns, denke ich, alle gemeinsam die ideologische Verbissenheit, mit der Nationalsozialisten und Bolschewisten rucksichtslos Massen von Menschen opferten. Die einen, um die Stadt des verhassten Namensgebers zu erobern und damit einen symbolischen Sieg fiber ihn zu erringen. Die anderen, die Gegenseite, war aus eben diesem Grunde fanatisch entschlos- sen, Stalingrad um jeden Preis zu halten.

An dieser Stelle muss man historisch die beiden verfeindeten Fiih- rungspersonlichkeiten bewerten, also Hitler einerseits, Stalin anderer- seits.

Ich bin mir sicher, dass wir alle in diesem Raum, also Deutsche wie Russen, in der Einschatzung Hitlers einig sind. Der letzte Reichskanz- ler war unter jedem denkbaren Gesichtspunkt ein groBes Ungliick fur die Deutschen — und natiirlich nicht nur fur sie. Seine zwolf Jahre werden zu recht rundum negativ bewertet. Er hat nicht nur halb Europa gewaltsam okkupiert und — zumal die Sowjetunion — schwer verwiistet, dann unser Land in die totale Niederlage manovriert, sondern auBerdem durch seine Verbrechen unseren Ruf auf lange Zeit sehr beschadigt.

Ich bezweifle, dass wir uns in gleicher Weise einig sein werden in der Beurteilung Stalins. Auch er war rucksichtslos, hat Dutzende von Millio- nen Menschen auf dem Gewissen. Dennoch wird man bei ihm, jedenfalls in Russland, zu geteilten Einschatzungen kommen. Denn von ihm bleibt neben alien Verbrechen auch die Erinnerung an den sowjetischen Sieg im GroBen Vaterlandischen Krieg unter seiner Fuhrung. Bis heute ist der militarische Triumph liber Hitlerdeutschland zentral fur das russische Selbstgefiihl, fur den Stolz auf eine unbestreitbar positiv bejahte, gemein- same groBe Leistung.

Sie ist umso wichtiger, als es im heutigen Russland eine breite inter­ne Auseinandersetzung dariiber gibt, was von der jahrzehntelangen kom- munistischen Herrschaft im Riickblick zu halten ist. Die einen verurteilen das damalige Regime in Bausch und Bogen. Aber sie scheinen nur eine Minderheit zu sein. Die Mehrheit erinnert offenbar nostalgisch viele Ziige der kommunistischen Jahrzehnte. Ministerprasident Putin — und mit ihm manch einer Ihrer Landsleute — halt den Untergang der Sowjet­union fur das groBte historische Ungliick des vergangenen Jahrhunderts. Dabei spielt, wie gesagt, der triumphale Sieg im Zweiten Weltkrieg und die durch ihn ermoglichte zeitweilige Weltmachtposition eine entschei- dende Rolle. Eine vergleichbare Beurteilung Hitlers ist in Deutschland natiirlich vollig undenkbar.

Es gibt ubrigens erhebliche Meinungsverschiedenheiten zwischen Russen einerseits, Ostmitteleuropaern andererseits liber die historische Einordnung der beiden totalitaren Fiihrer Hitler und Stalin. Fur die rus- sische Geschichtsschreibung beginnt der Zweite Weltkrieg mit dem deut- schen Uberfall auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 und endet mit der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands am 8./9. Mai, beziehungs- weise Japans am 2. September 1945.

Wenn ich mich beispielsweise mit polnischen Kollegen unterhal- te, nennen sie ganz andere Daten. Fur sie begann der Krieg bereits am 23. August 1939, mit dem Hitler-Stalin Pakt, der Voraussetzung fiir das gemeinsame deutsch-sowjetische Vorgehen gegen Polen und seine spa- tere Aufteilung. Viele Historiker weltweit wissen noch immer nicht, wie intensiv die militarische Zusammenarbeit zwischen der Sowjetunion und dem Deutschen Reich wahrend des Polenfeldzuges gewesen ist.

Fiir die Polen ist der Zweite Weltkrieg nicht 1945, sondern erst 1990/91 zu Ende gegangen, mit dem Ende der sowjetischen Okkupation Osteuropas, die eine zwangslaufige Folge der voriibergehenden Zusam­menarbeit Berlins und Moskaus war, die Ende August 1939 begonnen hatte.

Man darf nie vergessen, dass die beiden gegnerischen imperialen Ideo- logien und ihre ruchlosen Anfiihrer keine Hemmungen gehabt hatten, sich einige Jahre auf eine Zusammenarbeit mit ihrem Todfeind einzulas- sen, wobei die beiderseitigen Erwartungen natiirlich hochst gegensatzlich waren.

Was sind die Konsequenzen dessen, was ich hier andeute? Ich glau- be, dass wir uns gemeinsam forschend und lehrend immer wieder, immer weiter mit dieser gemeinsamen Vergangenheit beschaftigen miissen. Je- der irrt, der annimmt, mit dem Verschwinden der Generationen — die als Erwachsene, als Mitkampfer, oder, wie ich, als Kind — den Zweiten Weltkrieg miterlebt haben, wiirden die Nachwirkungen seines Grauens verblassen. Die traumatischen Erlebnisse vieler Millionen Menschen der sich abwechselnden Schreckenszeiten vererben sich auf nachfolgende Ge- schlechter — und zwar gerade dann, wenn die, die sie am eigenem Leibe erlitten haben, nie ein Wort iiber ihre Leiden verloren haben, um Kinder und Kindeskinder nicht zu belasten. In Deutschland schatzt man, dass ein Drittel der Bevolkerung durch Traumata des letzten Weltkrieges und seiner Folgen belastet bleibt. In wahrscheinlich noch groberem Umfang wird dies auch fur Russland gelten. Im Leningrader Blockadebuch von Daniil Granin steht an mehreren Stellen, die unmittelbar Betroffenen hatten das Erlebte so furchtbar gefunden, dass sie nie im Leben dariiber ein Wort sprechen konnten.

Vielleicht noch einige, wenige Worte zum Schluss zur Frage, wie wir Deutschen nach 1945 mit unserer Niederlage umgegangen sind. Haben wir etwas aus ihr gelernt und beherzigt? Nach dem Ersten Weltkrieg meinten viele unserer Landsleute, sie seien 1918 nur durch einen Dolch- stoB, durch Verrat der Heimat um den Sieg gebracht worden. Die Nie­derlage im Zweiten Weltkrieg wurde hingegen sofort rundum akzeptiert. Wir hielten und halten sie fur ein gerechtes Urteil der Geschichte iiber unsere maBlosen imperialen Ambitionen, mit denen wir so offenkundig gescheitert waren.

Das hat ein anhaltendes Nachdenken, eine tiefe Selbstprufung ausge- lost. Lagen unsere friiheren aggressiven Anwandlungen eigentlich je im Interesse Deutschlands und der Deutschen? Waren sie nicht eine volli- ge Verirrung, geradezu absurd? Miissen nicht alle Anstrengungen eines Volkes in erster Linie immer dem Ziel dienen, den eigenen Burgern zu angemessenen Lebensbedingungen zu verhelfen?

Die positive Antwort auf diese Fragen war eine entschlossene Wen- dung nach innen. Sie hat zunachst nur den Deutschen im Westen, seit zwei Jahrzehnten alien Deutschen gut getan.

Sie setzte natiirlich einen friedlichen, kooperativen Umgang mit den friiheren Feinden und Nachbarn voraus. Konrad Adenauers groJ3e Leis- tung war die Aussohnung mit dem atlantisch gefiihrten Westen. Willy Brandts Entspannungspolitik, sein partieller Ausgleich mit dem Osten, erganzte seit den spaten sechziger Jahren, was Adenauer westwarts be- gonnen hatte.

Neben diesen beiden ist Ludwig Erhard die zentrale Figur unserer Nachkriegsentwicklung gewesen. Seine Parole, seine Forderung, unser zentrales Ziel miisse “Wohlstand fur alle” sein (so der Titel seines wich- tigsten Buches), wurde allgemein in der Bundesrepublik akzeptiert und seither in die Tat umgesetzt — Grundlage fur das erfolg versprechende Streben nach Gerechtigkeit, Freiheit und Demokratie.

DER BLICK AUS DEUTSCHLAND AUF DEN “ANDEREN KRIEG” IM OSTEN 1941-1945

Bemd Bonwetsch, Grundungsdirektor des Deutschen Historischen Instituts Moskau

An der deutschen Ostfront entschied sich der Zweite Weltkrieg. Auch wenn andere Kriegsschauplatze nicht unterschatzt werden diirfen, ins- besondere der ostasiatische, der der deutschen wie auch der russischen Wahrnehmung ferner liegt: an der Ostfront wurden wahrend des ganzen Krieges die weitaus meisten Truppen eingesetzt und gab es die weitaus meisten Opfer unter Soldaten und Zivilisten. Das war nicht nur eine Fol- ge der Kriegshandlungen. Hitlers Antibolschewismus und seine Vorstel- lungen von der Notwendigkeit, “Lebensraum” im Osten zu erobern, sind nicht aus seinem Entschluft zum Krieg gegen die Sowjetunion wegzuden- ken, auch wenn der deutsche Angriff seit dem Sommer 1940 zunachst als “normaler” Krieg, als strategischer Ausweg aus dem Dilemma im Westen geplant wurde. Englands Widerstandswillen sollte der “Festlandsdegen”, die Hoffnung auf militarische Entlastung durch die Sowjetunion genom- men werden.

Nachdem am 18. Dezember 1940 mit der “Weisung Nr. 21” die grund- satzliche politische und strategische Entscheidung fur den “Fall Bar- barossa” getroffen und Ende Januar 1941 auch noch die entsprechende Aufmarschanweisung des Oberkommandos des Heeres ausgearbeitet worden war, erhielt der geplante Krieg jedoch Zug um Zug einen anderen Charakter als die friiheren Kriege der Wehrmacht. Es sollte “mehr als nur ein Kampf der Waffen” werden, wie Generalstabschef Haider am 3. Marz 1941 notierte, ein “Krieg der Weltanschauungen”, ein “Vernichtungs- krieg”.1 So erlauterte ihn Hitler am 30. Marz 1941 in einer Rede vor etwa 250 Generalen des uber 3 Mio. Mann zahlenden “Ostheeres”. Wahrend nach konventionellen Wertvorstellungen aller Armeen der Welt, darun- ter auch der Wehrmacht, der militarische Gegner zugleich Kamerad war, sollte das fur den geplanten “Russlandfeldzug” nicht gelten. Die Kom- munisten waren, wie Hitler in derselben Rede ausfiihrte, weder wahrend noch nach dem Kampf Kameraden.2 Wie sich das auswirken sollte, war an den beriichtigten, noch vor Kriegsbeginn erlassenen “verbrecherischen

Befehlen” abzulesen, wie etwa dem KriegsgerichtsbarkeitserlaB vom 13. Mai, den Richtlinien fur das “Verhalten der Truppe in Russland” vom 19. Mai, dem Kommissarbefehl vom 6. Juni und den Richtlinien des OKW fur die Behandlung der Kriegsgefangenen vom 16. Juni 1941.

Die Kriegsvorbereitungen waren deshalb zum einen gepragt von strategischen-operativen und riistungswirtschaftlichen Absichten und Vorstellungen und zum anderen von spezifisch nationalsozialistischer Weltanschauung: Antibolschewismus, Antisemitismus, Rassismus und Expansionismus waren darin untrennbar miteinander verknupft. Den Deutschen als Angehorigen der iiberlegenen Rasse sollte der ihnen an- geblich fehlende Lebensraum im Osten geschaffen und die Russen als sla- wische Untermenschen vertrieben oder vernichtet werden. Folgerichtig wurden in den nichtmilitarischen Planungen nicht nur Vorkehrungen fur den Umgang mit spezifischen Gruppen der sowjetischen Bevolkerung wie Juden und Tragern des Sowjetregimes getroffen, sondern auch die Ver- treibung und das Verhungern-Lassen von Millionen von Menschen als Notwendigkeit vorgesehen.

Das Erschreckende daran ist weniger, daB Hitler und iiberzeugte Nazis so dachten, denn es war schlieBlich Hitlers eigentlicher Krieg, wie And­reas Hillgruber in der Kontroverse um die Wendung Hitlers nach Osten betont hat. Das Erschutternde ist vielmehr, dass auch “normale” Ange- horige der deutschen Eliten nur selten daran AnstoBiges fanden. So heiBt es in einer Aktennotiz zum Treffen der Staatssekretare vom 2. Mai 1941: “1. Der Krieg ist nur weiter zu fiihren, wenn die gesamte Wehrmacht im 3. Kriegsjahr aus Russland ernahrt wird. 2. Hierbei werden zweifellos zig Millionen Menschen verhungern...” Kurz darauf wird dementsprechend in einer Richtlinie des Wirtschaftsstabes Ost am 23. Mai 1941 erlautert: “Ein deutsches Interesse an der Erhaltung der Erzeugungskraft dieser Ge- biete ist, auBer hinsichtlich der Versorgung der dort stehenden Truppen, nicht vorhanden... Die Bevolkerung dieser Gebiete ...wird groBter Hun- gersnot entgegensehen mussen. Es wird darauf ankommen, die Bevolke­rung in die sibirischen Raume abzudrangen.”3

Im Geiste oder eher Ungeiste derartiger Vorstellungen brach mit dem Kriegsbeginn am 22. Juni 1941 eine gewaltige Propagandaflut liber die deutsche Bevolkerung herein. Zeitungen, Rundfunk und Wochenschauen sollten in konzertierter Aktion den Krieg als notwendigen Kampf gegen den “jiidischen Weltbolschewismus” und als “Kreuzzug” zur Rettung Eu- ropas und der germanischen Rasse bewusst machen. Entsprechend wurde die Truppenpropaganda an der Ostfront ausgerichtet.4 Ihren Hohepunkt erreichte sie zweifellos im Reichenau-Befehl vom 10. Oktober 1941 zum “Verhalten der Truppe im Ostraum”.5 Generalfeldmarschall Walter von Reichenau war Oberbefehlshaber der 6. Armee, unter deren Beteiligung zehn Tage zuvor das Massaker von Babij Jar in Kiev durchgefuhrt worden war. Der bis hinunter auf Kompanieebene verteilte und verlesene Befehl war eine unverhiillte Aufforderung zu unsoldatischem, verbrecherischem Verhalten in nationalsozialistischem Geiste. Hitler bezeichnete den Be- fehl als vorbildlich und ernannte Reichenau wenig spater zum Ober- befehlshaber der Heeresgruppe Slid.

In einzelnen Einheiten der Wehrmacht wurden Reichenaus Aussagen sinngemaB und zum Teil wortlich wiederholt. So hieB es z. B. in “Tagespa- rolen” der 4. Panzerdivision im Bereich der 6. Armee Ende 1941/Anfang 1942: “Trager und Drahtzieher der bolschewistischen Idee ist der Jude... Jiidische Zivilisten und Partisanen ... sind zu erschieBen. ...Gegeniiber dem bolschewistischen Untermenschentum gibt es keine Gnade, auch nicht fur Weiber und Kinder. An den nachsten Baum mit Partisanen und JudenL Mitleid mit der Zivilbevolkerung ist am falschen Platz. Sei hart gegen jeden verdachtigen Zivilisten. ErschieBe ihn, bevor er deinen Ka- meraden erschieBen kann.”6

Eine Armee, die derartige Parolen ausgibt, braucht tatsachlich keine ideologisch-politischen Aufseher, wie es sie in der Roten Armee seit dem ersten Kriegstag auf den hoheren Ebenen als politische Mitglieder der Kriegsrate und seit dem 16. Juli 1941 als Kommissare in alien Einheiten bis hinunter auf die Kompanieebene gab. In der Wehrmacht wurden der- artige Aufseher, die NS-Fiihrungsoffiziere, nach sowjetischem Vorbild dennoch eingefuhrt, allerdings erst um die Jahreswende 1943/1944, als das Ende schon absehbar war.7 Die Propagandaparolen der Wehrmacht waren zwar keine Befehle, aber sie wirkten vor dem Hintergrund der “verbrecherischen Befehle” wie eine Art Freibrief und forderten eine Ent- hemmung, die sich mit der allgemeinen, kriegsbedingten Verrohung auf verhangnisvolle Weise verband.

Auf die Folgen von Enthemmung und Verrohung und auf die Ver- wicklung der Wehrmacht in das Verbrecherische des Nazi-Regimes soli hier nicht naher eingegangen werden. Sie sind bereits des langeren be- kannt. Die hochst umstrittene “Wehrmachtsausstellung” hat sie aller­dings mehr ins offentliche Bewusstsein gerufen, als es wissenschaftliche Darstellungen je vermocht hatten.8 Die von der Wehrmacht selbst oder mit ihrem Einverstandnis oder ihrer Duldung begangenen Verbrechen sind wahrhaftig ein Zeugnis der Schande. Verwiesen sei hier nur auf zwei Autoren: Christian Gerlach und Dieter Pohl. Sie haben die zivile wie die militarische deutsche Besatzungsherrschaft in der Sowjetunion keines- wegs unangemessen als Verbrechensgeschichte beschrieben, selbst wenn ihre Darstellungen auf diesen Aspekt der Besatzungsherrschaft konzen- triert sind und andere Aspekte unterbelichten oder ganz ausblenden.9 Das Verhalten der Wehrmacht als Besatzungsmacht erscheint dabei noch als wesentlich schlimmer als das, was der den Deutschen gegeniiber sehr kri- tische Alexander Dallin einst als “Deutsche Herrschaft in RuBland” be­schrieben hat.10

Nicht die Frage, ob die Wehrmacht Verbrechen veriibt hat oder daran beteiligt war, hat deshalb in den letzten beiden Jahrzehnten Wissenschaft und Offentlichkeit bewegt, sondern die Frage, in welchem AusmaB und warum.11 Das AusmaB hat sich, wie durch zahlreiche Studien in den letz­ten Jahren belegt, als erschreckend groB erwiesen, so dass die Frage nach dem Warum, nach den Motiven des verbrecherischen Handelns “ganz normaler Deutscher” immer drangender geworden ist.

Die Antwort ware in gewisser Weise geradezu erleichternd, wenn festzustellen ware, dass alles auf nationalsozialistische “Weltanschauung” zuriickzufuhren ist, dass also die Tater, ob Individuen oder Kollektive, in nationalsozialistischem Geiste und damit im iibrigen ohne Unrechts- bewusstsein gehandelt hatten. Es besteht auch kein Zweifel daran, dass viele Deutsche insgesamt wie auch viele Wehrmachtsangehorige den Krieg gegen die Sowjetunion so sahen, wie die NS-Propaganda es ih- nen nahe legte, wobei in das Feindbild Sowjetunion viele traditionelle Vorurteile und eine ebenso traditionelle Uberheblichkeit eingingen.12 Ein Kenner der Materie wie Omer Bartov meint zum Beispiel, dass die Wehrmacht nationalsozialistisch indoktriniert gewesen sei und sich des­halb so brutal und verbrecherisch verhalten habe.13 Ahnlich sieht es etwa Sven Oliver Muller, ein Vertreter des “Volksgemeinschafts”-Konzepts, der von der “’Volksgemeinschaft’ an der Ostfront” spricht und meint, dass die deutschen Soldaten sich als Teil dieser sinnstiftenden “Volksgemein­schaft” fuhlten und dementsprechend handelten.14 Zum Beleg werden Soldatenbriefe von der Front und die Behandlung von Kriegsgefange- nen, Juden und Partisanen angefuhrt. So weit sie allerdings Verhaltens- motive wiedergeben, ist ihr Reprasentativcharakter fraglich. Hinsichtlich der Brutalitat und des Verbrecherischen des Verhaltens der Wehrmacht schildern sie dagegen das, was ohnehin nicht bezweifelt wird, selbst wenn es zum Beispiel die von Gerlach betonte vorsatzliche Vernichtung der Kriegsgefangenen nicht gab. Ihre Behandlung war trotzdem in der Regel schandlich und haufig sogar verbrecherisch.15

Warum ware es erleichternd, wenn man all dies auf NS-Weltanschau- ung und entsprechende Indoktrination zuriickfuhren konnte? Weil man dann beruhigt glauben konnte, dass nicht entsprechend indoktrinierte Truppen sich anders verhielten. Aber vor derartiger Beruhigung warnen schon die Erfahrungen uns zeitlich naher liegender Kriege, seien es die Kolonialkriege in Indochina, Algerien und Kenia, sei es der im Namen von Freiheit und Demokratie gefuhrte Vietnamkrieg, seien es die asym- metrischen Kriege seit der sowjetischen Invasion in Afghanistan. Sie alle zeigen, dass es auch ohne entsprechende Indoktrination, ja sogar entgegen entsprechenden Befehlen zu Verbrechen kommt, die man normalen Sol­daten eigentlich niemals zutrauen wiirde. Und “irregularer Krieg” provo- ziert das zweifellos in besonderem MaBe. Uberdies ist zu konzedieren, dass auch in rechtsstaatlich verfassten Gesellschaften die Ahndung derartiger Verbrechen unbefriedigend ist.

Was nun konkret den Krieg gegen die Sowjetunion betrifft, so wa- ren im Gefolge der “verbrecherischen Befehle” viele Anordnungen und MaBnahmen der Wehrmacht direkt von nationalsozialistischer Ideologie gepragt und forderten zu Verbrechen auf oder zogen diese nach sich. Auf den hoheren Ebenen passten sich Zivilisten wie Militars diesen Vorgaben an, wenn sie nicht gar mit ihnen iibereinstimmten. Widerstand oder auch nur Protest dagegen hielten sich in engen Grenzen. Entsprechende Be­fehle wurden erteilt und befolgt. Dennoch bedeutet dies keineswegs, dass die Mehrheit der Deutschen oder der Wehrmachtsangehorigen ebenfalls so dachte und mit dem entsprechenden Handeln einverstanden war. Die Erfassung der Gedankenwelt von Burgern in einer Diktatur ist generell schwierig. Ihre propagandistische Bearbeitung durch das Regime ist selbstverstandlich nicht mit deren Wirkung gleichzusetzen.16 Die Frage, wie weit das Verhaltnis der deutschen Bevolkerung insgesamt zum Krieg im Osten von nationalsozialistischen Einstellungen oder durch blofie Hinnahme gepragt war, wird unterschiedlich beantwortet und ist wohl nicht eindeutig in Prozentzahlen zu klaren.17 Unbestreitbar aber scheint zu sein, dass das Verhaltnis zum Krieg und zur offiziellen Propaganda sich im Zuge der erfahrenen Wirklichkeit mit dem Kriegsverlauf anderte. Dabei spielten gerade Briefe von Soldaten an der Ostfront und direkter Kontakt mit Ostarbeitern und sowjetischen Kriegsgefangenen eine ent- scheidende Rolle. Losten die anfanglichen Erfolge in der deutschen Be­volkerung allenthalben Begeisterung oder zumindest Erleichterung aus, so ist ebenso sicher, dass die Propaganda die “Grenzen ihrer Deutungs- macht” schon 1942 erreichte.18 Das weitere Ausharren und Mitmachen der Bevolkerung hatte mit nationalsozialistischer Indoktrination wenig zu tun. Alle Goebbelsschen Propagandabemiihungen vermochten das “Stimmungstief”, das sich an der Ostfront wie im Reich verbreitete, nicht zu beseitigen.19

Was das Verhalten der Truppe betrifft, so lasst sich manches, das fur die Bevolkerung im Reich gilt, sinngemaB auf die Wehrmachtsangehori­gen an der Ostfront iibertragen. Das zu erklarende Problem ist in ihrem Falle aber nicht nur Ausharren und Mitmachen bis zum bitteren Ende, sondern die massenhafte Beteiligung an Vergehen und Verbrechen, die jenseits der normalerweise im Kriege angewandten Gewalt lagen. Inso- fern ist das Verhalten der Truppe zweifellos nicht im wesentlichen auf die spezifischen Bedingungen des “Russlandfeldzuges” und auf reaktive Ra- dikalisierung zuriickzufuhren, wie es Klaus Jochen Arnold zu deuten ver- sucht hat.20 Das mag lediglich fur einen Teil des brutalen Vorgehens der Wehrmachtsverbande oder einzelner Soldaten, etwa im Zuge wirklicher und nicht nur behaupteter Partisanenbekampfung zutreffen.21 Eine reak­tive Radikalisierung kann aber nicht als Erklarung fur Misshandlungen, Vergewaltigungen, Raub, Pliinderung, Brandschatzung u.a.m. herhalten.

Derartige Vorkommnisse aber nahmen im Krieg gegen die Sowjetunion einen weit groBeren Raum ein als in den Kriegen im Westen.22

Nationalsozialistische Einstellungen spielten zweifellos eine Rolle. Ein von ihnen ausgehender direkter oder indirekter EinfluB ist iiberhaupt nicht zu bezweifeln.23 Schwerer zu beantworten ist allerdings die Frage, wie verbreitet sie waren und als Verhaltensmotiv wirkten. Denn national­sozialistische Einstellungen gab es bei vielen, aber mit Sicherheit nicht bei alien Wehrmachtsangehorigen. Soweit man sich auf Feldpostbriefe als Quelle verlassen kann, waren sie sogar relativ selten. So finden sich zwar bisweilen Klischees der NS-Propaganda, aber Identifikationen mit den politischen Zielen des NS-Regimes, ideologische Begriindungen fur das Verhalten oder iiberhaupt wesentliche nationalsozialistischer Ideen sind kaum anzutreffen. Nun gibt es auch Einverstandnis, iiber das man keine Worte zu verlieren braucht. Aber die Abwesenheit von NS-Ideologie und Propaganda-Parolen in der Masse der Briefe ist doch erstaunlich. Obwohl den Schreibern die Zensur nicht unbekannt war, waren die Briefe viel- mehr iiberwiegend realistisch und zum Teil sogar uberraschend kritisch hinsichtlich der eigenen Lage.24 “Von der sogenannten Volksgemeinschaft ist nichts zu lesen”, konstatiert deshalb Katrin Kilian. Dagegen scheint ganz deutlich zu sein, dass die “Stimmung seit dem Uberfall auf Russland zu sinken begann”.25 Wenn Hitler am 22. Juni 1941 seinen “eigentlichen Krieg" startete, dann haben sich die Soldaten offenbar damit nicht iden- tifiziert. Der Krieg erschien vielen von ihnen als bedrohlich und unheim- lich, und die Hoffnungen zielten eher auf ein glimpfliches Ende als auf ei­nen Sieg. Denn groBe Teile der sogenannten Volksgenossen besaBen “kein Verstandnis fur die Kriegsziele im Osten".26

Trotz des fehlenden Verstandnisses haben die Soldaten aber nicht nur an der Front militarisch gekampft, sondern sich dariiber hinaus ak- tiv oder zumindest passiv an Verbrechen beteiligt. Wenn es nicht der “nationalsozialistische Blick” auf den Krieg im Osten oder situations- bedingte “Radikalisierung” allein waren, dann muB nach weiteren Ver- haltensmotiven gefragt werden. Und eben dies ist ein Ansatz, den Chris­tian Hartmann in seiner umfangreichen Studie zur “Wehrmacht im Ostkrieg” verfolgt hat. Und dabei zeigt sich, dass es eine Vielzahl unter- schiedlicher Einflusse und Verhaltensweisen gegeben hat. So schlossen selbst nationalsozialistische Einstellungen unterschiedliche Verhaltens­weisen nicht aus. Sie haben zweifellos zu Radikalisierung und Brutali- sierung gefuhrt, mussten aber nicht alternatives dazu ftihren. Man den- ke nur an die wechselnden Strategien der Partisanenbekampfung, des Umgangs mit den Kriegsgefangenen oder sogar mit den Kommissa- ren oder Reprasentanten des Regimes. Der ihnen geltende Befehl vom 13. Juni 1941 wurde nach vielen Vorhaltungen von Militars zwar nicht aus Menschlichkeit, aber wegen seiner kontraproduktiven Wirkung am 6. Mai 1942 ausgesetzt. SchlieBlich hatte auch das Prinzip von Be- fehl und Gehorsam wesentlichen Einflufi auf das Verhalten der Truppen. Wo Offiziere entsprechende Befehle gaben, wurden sie ausgefuhrt, un- geachtet nationalsozialistischer Standpunkte. Und was den Umgang mit sowjetischen Kriegsgefangenen in der Praxis betrifft, so wurden diese von den ersten Kriegswochen an doch zu “Kameraden”, sofern sie als “Hiwis” fur die deutschen Truppen Dienst leisteten. Der verbreitete Einsatz von “Hiwis” in den Verbanden an der Ostfront war schon im Herbst 1941 ein “offenes Geheimnis” (A. Dallin). Der Personalmangel wirkte mehr als na- tionalsozialistische Ideologie und ablehnende Anordnungen Hitlers.

Diese Hinweise auf unterschiedliche Verhaltensweisen bedeuten nicht, dass die Wehrmacht “sauber” war. Ganz gewiB nicht. Die fuhrenden Mi- litars agierten, wie von Hitler befohlen. Weder gegen den militarischen GroBenwahn, noch gegen die so genannten “verbrecherischen Befehle” ist nennenswerter Einspruch erhoben worden, sieht man von riihmens- werten Ausnahmen wie der des Chefs der deutschen Abwehr Admiral Canaris ab, der im September 1941 formlich gegen einen ErlaB des OKW zur Behandlung sowjetischer Kriegsgefangener protestierte, weil er ge­gen das Volkerrecht und soldatische Ehrbegriffe verstieB.27 Die Wehr- machtsfuhrung, Offiziere und Soldaten haben den Krieg seit dem 22. Juni 1941 ohne Murren mitgemacht — manche waren skeptisch, viele waren begeistert. Generalstabschef Haider jubelte bereits am 3. Juli 1941, dass der Krieg gewonnen sei, und ein fur viele stehender Offizier notierte eine Woche spater, das sei der “tollste Krieg”, an dem er bisher teilgenommen habe.28 Wichtig ist, dass dieser Offizier, so viel ist aktenkundig, keines- wegs ein iiberzeugter Nazi war. Das leichte Siegen bestatigte vielmehr ein Oberlegenheitsgeffihl und — man traut sich kaum, das zu Papier zu bringen — machte geradezu SpaB.29 Das gilt selbst fur diejenigen, die an- gesichts des Angriffsbefehls eher skeptisch gewesen waren oder an der Berechtigung des Angriffs gezweifelt hatten.30 Aber der SpaB horte auf, sobald es die ersten groBeren Riickschlage und Verluste gab.

Was die Einstellung der deutschen Truppen im Zusammenhang mit Verbrechen betrifft, so sei auf die bahnbrechende Untersuchung von Christopher Browning zum Verhalten und vor allem der Motivation eines Polizeibataillons bei der Judenvernichtung im Russlandfeldzug hingewie- sen.31 Hier geht es um eine spezielle Einheit, die hinter der Front agierte und im wesentlichen Juden ermordete. Man sollte glauben, dass es sich bei den Angehorigen der Einheit um eingefleischte Nationalsozialisten oder zumindest um besonders Indoktrinierte handelte. Aber das erstaunliche ist, dass es sich, wie Browning iiberzeugend darlegt, um “ganz normale Manner” handelte. Nicht Fanatismus oder ideologische Uberzeugungen, sondern insbesondere gruppendynamische Prozesse waren es, die hinter den Verbrechen standen. Das Schuldbewusstsein verschob sich auf gera­dezu groteske Weise: von der Frage, ob man toten solle, auf die Frage, ob man sich bewusst von der Gemeinschaft der Totenden absondern solle.

Es wurde den Angehorigen der Einheit sogar zum Teil freigestellt, sich an den Mordaktionen nicht zu beteiligen — und kaum jemand machte davon Gebrauch.

Hartmanns Studie umfasst sehr viel mehr unterschiedliche Wehr- machtseinheiten und deren Handlungen in verschiedenen Funktionen und Situationen als die Studie Brownings. Ihm kommt es darauf an, im konkreten Handeln die “rote Lime” zu finden, bei deren Uberschreiten legitime militarische Gewaltanwendung im Krieg zu Verbrechen wur­de und wie, wann und mit welchen Motiven sie uberschritten wurde. Er kommt zu differenzierten Ergebnissen und zeigt ebenfalls, dass es weder zur Beteiligung an den eigentlichen Kampfhandlungen, und sei es unter noch so harten, ja aussichtslosen Bedingungen, noch zur Beteiligung an VerstoBen gegen das Volkerrecht oder Verbrechen nationalsozialistischer Indoktrination bedurfte. Seine Ermittlungen ergeben, dass der Faktor der Enthemmung, der Freisetzung von Bosem oder niedrigen Beweggrunden, die im Menschen angelegt sind, aber normalerweise durch Gesetze, soziale Kontrolle und sittliche Traditionen in Schach gehalten werden, sollte zur Erklarung verbrecherischen Verhaltens von Wehrmachtsangehorigen im Krieg gegen die Sowjetunion jedenfalls nicht zu gering angesetzt wer­den sollte. Je kritischer die Situationen waren, in denen gehandelt wer­den musste, desto mehr radikalisierte sich das Verhalten. Es waren aber iiberwiegend “ganz normale Manner” die aus Uberzeugung, Gehorsam, Gedankenlosigkeit oder Enthemmung zu Hitlers nicht immer “willigen”, aber doch “Vollstreckern” wurden.

Ein spezifisches Verhalten im “anderen Krieg” im Osten gab es mit- hin, einen spezifisch nationalsozialistischen Blick hingegen nicht. Das gilt sowohl fur die Soldaten an der Front selbst, fur die dieser Krieg der eigentliche Krieg war, als auch fur die Bevolkerung im Deutschen Reich, fur die der Bezug zum Krieg an der Ostfront im wesentlichen in der Anteilnahme am personlichen Schicksal der dort kampfenden eigenen Angehorigen bestand. Ansonsten war dieser Krieg fur sie sehr weit weg. Der eigentliche Krieg fur die Bevolkerung im Reich, insbesondere natiir- lich im stadtisch-industriellen bereich, war der Luftkrieg. Der “Tommy” mit seinen taglichen und vor allem nachtlichen Luftangriffen pragte in der Bevolkerung das Bewusstsein vom Krieg in viel groBerem MaBe als der morderische Krieg im Osten, zumindest solange dieser sich noch jenseits der Reichsgrenzen abspielte. I

Darmstadt, 1998. S. 21-37; David Stahel. “Operation Barbarossa” and Germany’s Defeat in the East. Cambridge, 2010.

  1. Franz Haider. Kriegstagebuch. Band 2. Stuttgart, 1963. S. 335.

  2. Zit. nach Hans-Heinrich Nolte, Kriegskinder. Zu Differenzen zwischen Deutschland und Russland. In: Zeitgeschichte 36.2009. S. 316. A. J. Kay. Das Hungervorhaben und das Tref- fen der deutschen Staatssekretare am 2. Mai 1941, in: ZWG 11/1.2010. S. 81-105.

  3. Sven O. Muller. Deutsche Soldaten und ihre Feinde. Frankfurt am Main, 2007. S. 95-114; C. Hartmann. Wehrmacht im Ostkrieg. Front und militarisches Hinterland 1941/42. Mun- chen, 2009. S. 247-249.

  4. Bernd Bonwetsch. Die Partisanenbekampfung und ihre Opfer im Russlandfeldzug 1941 — 1944. In: Gegen das Vergessen. Der Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion 1941-1945. Hrsg. v. Klaus Meyer, Wolfgang Wippermann. Frankfurt am Main, 1992. S. 108. Text des Befehls: Der deutsche Uberfall auf die Sowjetunion. “Unternehmen Barbarossa” 1941. Hrsg. von Gerd R. Ueberschar, Wolfram Wette. Frankfurt am Main, 1991. S. 285-286.

  5. Hartmann. Ostkrieg. S. 3.

  6. Ebenda. S. 46.

  7. Hannes Heer, Klaus Naumann (hrsg.). Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941-1944. Hamburg, 1995. Diese erste Fassung wurde 1999 zuruckgezogen und von ei- ner Historiker-Kommission iiberpruft und in iiberarbeiteter Form publiziert: Verbrechen der Wehrmacht. Dimensionen des Vernichtungskrieges 1941-1944. Ausstellungskatalog. Hamburg, 2000.

  8. Christian Gerlach, Kalkulierte Morde. Deutsche Wirtschafts- und Vernichtungspolitik in WeiBruBland 1941-1944. Hamburg, 2000; Dieter Pohl. Die Herrschaft der Wehrmacht. Deutsche Militarbesatzung und einheimische Bevolkerung in der Sowjetunion 1941-1944. Munchen, 2008. Einen kommentierten Literaturiiberblick geben Gerd R. Ueberschar, Rolf- Dieter Muller. Hitlers Krieg im Osten 1941-1945. Darmstadt, 2000.

  9. Alexander Dallin. Deutsche Herrschaft in Russland 1941-1945. Dusseldorf, 1958.

  10. Siehe dazu: Christian Hartmann u. a. (hrsg.). Verbrechen der Wehrmacht. Bilanz einer Debatte. Munchen, 2005.

  11. Wolfram Wette. Die Wehrmacht. Feindbilder, Vernichtungskrieg, Legenden. Frankfurt am Main, 2002.

  12. Omer Bartov. Hitlers Wehrmacht. Soldaten, Fanatismus und die Brutalisierung des Krie- ges. Hamburg, 1995.

  13. Muller. Deutsche Soldaten. Кар. IV.

  14. Reinhard Otto / Rolf Keller / Jens Nagel: Sowjetische Kriegsgefangene in deutschem Gewahrsam 1941-1945. Zahlen und Dimensionen, in: Vierteljahrshefte fur Zeitgeschichte. Heft 4/2008. S. 557-602.

  15. Siehe hierzu die Kapitel “Wahrnehmungen und Sinnstiftungen” in: Jorg Echternkamp (hrsg.). Die deutsche Kriegsgesellschaft 1939 bis 1945. Munchen, 2005 (= Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg. Bd. 9/2).

  16. Urteile mit sehr unterschiedlicher Tendenz bei: Hans Mommsen. Hitler, die Deutschen und der zweite Weltkrieg, in: ders., Zur Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert. Miin- chen, 2010. S. 148-161; Sven Oliver Muller. Nationalismus in der deutschen Kriegsgesell­schaft, in: Echternkamp, Kriegsgesellschaft. S. 9-92.

  17. Aristotle A. Kallis, Der Niedergang der Deutungsmacht. Nationalsozialistische Propagan­da im Kriegsverlauf, in: Echternkamp, Kriegsgesellschaft. S. 203-250.

  18. Mommsen. Hitler. S. 157.

  19. Klaus Jochen Arnold. Die Wehrmacht und die Besatzungspolitik in den besetzen Gebie- ten der Sowjetunion. Kriegfuhrung und Radikalisierung im “Unternehmen Barbarossa”. Berlin, 2005.

  1. In der ersten Kriegsphase wurde Judenvernichtung vielfach als Partisanenbekampfung ausgegeben.

  2. Siehe als Beispiel Gunter Friedrich, Kollaboration in der Ukraine im Zweiten Weltkrieg. Die Rolle der einheimischen Stadtverwaltung wahrend der deutschen Besetzung Charkows 1941 bis 1943. Diss. phil. Bochum, 2008. S. 167-176: http://www-brs.ub.ruhr-uni-bochum. de/netahtml/HSS/Diss/FriedrichGunter/diss.pdf

  3. Siehe neben Bartov, Hitlers Wehrmacht, und Muller, Deutsche Soldaten, auch Klaus- Michael Mallmann u. a. (hg.). Deutscher Osten 1939-1945. Der Weltanschauungskrieg in Photos und Texten. Darmstadt, 2003.

  4. A. Golovchansky u. a. (hg.). “Ich will raus aus diesem Wahnsinn”. Deutsche Briefe von der Ostfront 1941-1945. Reinbek, 1993.

  5. Katrin A. Kilian. Kriegsstimmungen. Emotionen einfacher Soldaten in Feldpostbriefen, in: Echternkamp, Kriegsgesellschaft. S. 251-288. Zit. S. 286, 288.

  6. Mommsen. Hitler. S. 155-157

  7. Alfred Streim. Sowjetische Gefangene in Hitlers Vernichtungskrieg. Berichte und Doku- mente 1941-1945. Heidelberg, 1982. S. 33-34.

  8. Hartmann. Ostkrieg. S. 255.

  9. Ebenda. S. 247-249, 297.

  10. Siehe z. B. eine Tagebuchnotiz vom 21.6. 1941: Mallmann. Deutscher Osten. S. 21.

  11. Christopher Browning, Ganz normale Manner. Das Reserve-Polizeibataillon 101 und die “Endlosung” in Polen. Hamburg, 1999.

DAS BILD DER MILITARISCHEN UND POLITISCHEN NAZI-ELITEN VON DER SOWJETUNION WAHREND DES ZWEITEN WELTKRIEGS

MichailJerin,

Staatliche Demidow-UniversitatJaroslawl

Die Analyse der Vorstellungen der Nazi-Eliten von der Sowjetunion wirft eine Reihe von Fragen auf. Wie blickten die Fiihrer des NS-Regimes auf die Sowjetunion und ihre Politiker nach Ausbruch des Zweiten Welt- kriegs (1939) und dann spater nach dem Beginn des GroBen Vaterlan- dischen Krieges (1941-45)? Wie schatzten sie die sowjetische Fiihrung und das Kriegs- und Wirtschaftspotential des Landes ein, und inwieweit trafen ihre Einschatzungen zu? Zur Beantwortung dieser Fragen stehen voneinander abweichende Quellen unterschiedlichster Art zur Verfiigung: Gestandnisse und Verlautbarungen, Dokumente und Berichte, Erinne- rungen und Tagebuchaufzeichnungen der Nazi-Fiihrer und Oberbefehls- haber, d.h. Primarquellen, die unmittelbar Auskunft iiber das Denken und Handeln der politischen und militarischen Eliten der Nazis geben.

Was die vielfaltigen Informationen verbindet, ist ihre “Feind- perspektive”. Wesentlichen Einfluss auf die Wahrnehmung der Sowjet­union hatte die nationalsozialistische Ideologie, die den Bolschewismus zur feindlichen Ideologie erklarte und sich die Vernichtung des “jiidischen Bolschewismus” zum Ziel setzte. Im Gesprach mit Hermann Rauschning etwa verkiindete Adolf Hitler, der Bolschewismus sei der Todfeind des Nationalsozialismus. Die Nazis wxirden ihren Ideen treu bleiben und das im Ersten Weltkrieg begonnene Werk fortsetzen. Die Vernichtung der bedrohlichen Masse des panslawischen Imperiums sei durch den Waffen- stillstand von 1918 lediglich unterbrochen worden.1 Aber nicht allein der Hass auf den Bolschewismus bestimmte Hitlers Einstellung zur UdSSR. Er war zugleich begeistert von den riesigen Rohstoffvorkommen, deren Eroberung Deutschland Autarkie sichern und es vor den Folgen einer Wirtschaftsblockade bewahren wxirde. Hitler betrachtete Russland als “Rohstoffquelle und Warenabsatzgebiet”. Der Ukraine kam die Rolle einer “Kornkammer Europas” zu, die Deutschland mit Lebensmitteln versorgen wtirde. Hitlers Verhaltnis zu Russland hatte auch einen personlichen Anstrich. Er hasste die Russen und das russische Imperium bereits in der vorrevolutionaren Zeit, denn er sah im russischen Volk den typischen Trager panslawistischer Stimmungen. Ein Konflikt der Deut- schen und der deutschen Rassentheorie mit dem Massendenken der Sla- wen war laut Hitler unumganglich. Das sei ein ewiger Kampf, dem allge- meine politische Interessen nichts entgegenzusetzen hatten geschweige denn, dass sie ihn iiberwinden konnten. Es ginge um nicht weniger als die Herrschaft des deutschen Rassebewusstseins iiber die Masse, die ewig dazu verdammt sei, zu dienen und zu dulden.

In “Mein Kampf’ legte sich Hitler ein Grundprinzip der kunftigen “Ostpolitik” zurecht. Es verband “nationale Ideen, die Rassentheorie, Antibolschewismus und Antisemitismus mit der Lebensraumtheorie.2 Daraus leitete sich ebenfalls der Zusammenhang zwischen der Beseiti- gung der Juden und dem Russlandfeldzug ab. Hitler nannte Deutschland in der Offentlichkeit oft die Bastion des Westens gegen den Bolschewis- mus. Auf dem Reichsparteitag der Arbeit im September 1937 beschrieb Hitler den “jiidischen Weltbolschewismus” als “absoluten Fremdkorper” in den Gesellschaften des europaischen Kulturkreises.3 Der Nichtangriffs- pakt zwischen der UdSSR und dem faschistischen Deutschland vom 23. August 1939 bedeutete keinesfalls einen Wandel. Hitler nannte das Vertragswerk einen “Pakt mit dem Satan, um den Teufel auszutreiben.” Gegen die Sowjetunion waren alle Mittel recht. Hitler liefi keinen Zweifel aufkommen, dass der Vertrag mit der UdSSR fur ihn nur eine erzwun- gene und temporare MaBnahme darstellte. Die Zusammenarbeit mit der Sowjetunion hielt er fur Verrat an den eigenen Ideen und friiheren Ver- pflichtungen.

Wahrenddessen waren bereits zu jener Zeit Ansichten und ideologi- sche Klischees verbreitet, denen zufolge die Sowjetunion aufgrund ih- rer Schwache fur Deutschland keine Gefahr darstelle. Das Wirtschafts- system sei chaotisch, das kommunistische System beim Volk verhasst, die Kampfbereitschaft der russischen Streitkrafte gering. Stalin habe die Mehrheit der Generate und Offiziere ausgeschaltet. Die Rote Armee kenne die Methoden der modernen Kriegsfuhrung kaum. Der sowjetisch- finnische Krieg 1939-1940 habe gezeigt, dass die Rote Armee “nichts wert sei”, und die befehlshabenden Manner zu schlecht vorbereitet seien, um der Wehrmacht Widerstand entgegensetzen zu konnen. Hitler machte sich iiber die Russen lustig: “Einen netten Verbiindeten haben wir uns da gesucht!”4 Er war der Uberzeugung, dass sich eine slawische Kriegsmacht den rassisch iiberlegenen Deutschen nicht in den Weg stellen konne. Die- se stereotypen Vorstellungen schlugen tiefe Wurzeln im Bewusstsein der deutschen Elite.

Nach dem schnellen Sieg iiber Frankreich und dessen Kapitulation im Juni 1940 war Hitler von den militarischen Streitkraften des Reichs der­ail eingenommen, dass er selbst einen Krieg mit den “Unmenschen” des Ostens fur moglich hielt. Er mutmaBte, die Eroberung Russlands wiirde sich noch einfacher gestalten als die Frankreichs: “Der russische Feldzug wird letztlich nur ein Stabsmanover sein.” Die sowjetische Armee verffige lange nicht iiber die Schlagkraft des russischen Heeres im Ersten Welt- krieg. Die Sowjetunion war fur Hitler und die deutschen Generale ein Koloss auf tonernen FiiBen. Sie glaubten, das im Vergleich zu Frankreich in militarischer und okonomischer Sicht noch schwachere und instabile Russland eine leichte Beute fur die “unbesiegbare Wehrmacht” sei. Man musse lediglich mit dem FuB die Tiir eintreten und das gesamte morsche Gebaude werde einstiirzen, so Hitler.5 Am 31. Juli 1940 beschloss der deutsche Fuhrer wShrend einer Beratung auf dem Obersalzberg: “Russ­land muss liquidiert werden. Termin — Friihling 1941.”6 Die Operation sollte in ffinf Monaten abgeschlossen sein und zwar auf einen Schlag. Alle bei der Beratung Anwesenden, die Generale der Wehrmacht eingeschlos- sen, waren sich dariiber einig, dass strategisch nur ein Blitzkrieg in Frage kam. Der Chef der operativen Abteilung des Oberkommandos der Wehr­macht, General Jodi, erklarte, das russische Kartenhaus wtirde bereits wenige Wochen nach dem deutschen Angriff in sich zusammensturzen.7 Besonders verheerend fiel das Urteil der deutschen Befehlshaber iiber das russische Offizierskorps aus. Das militarische Oberkommando der Roten Armee, so die deutschen Generale, sei unselbstandig, mit der neuesten Taktik der Kriegfiihrung und den Methoden des modernen Kriegs nicht vertraut. Angefiihrt wurde auBerdem der Zustand der iiberholten Panzer- und Panzerwagentechnik, der Kommunikationsmittel und die mangelnde Mechanisierung der Roten Armee. Am 5. Mai 1941 berichtete Unter- offizier Krebs, Stellvertreter des Militarattacl^s Kostring in Moskau, auf einer Beratung des Oberkommandos: “Die russische Armeeffihrung halt keiner Priifung stand und macht einen bemitleidenswerten Eindruck, schlimmer noch als 1933. Russland braucht zwanzig Jahre, um sie auf den Stand von damals zu bringen.”8

Bis zum Juni 1941 war der Krieg gegen die UdSSR in jeder Rede Hit­lers Thema, in jedem Gesprach, auf jeder geheimen Sitzung. In den ersten Monaten des Jahres 1941 bis zum Vorabend des Krieges ging es dabei noch mehr als sonst iiblich um die ideologischen Ziele des Angriffs auf die UdSSR. Das machen vor allem die Anweisungen und “verbrecherischen Befehle” Hitlers und der Militarfiihrung deutlich. Am 30. Marz 1941 begriindete Hitler auf einer groBen Beratung mit der Militarspitze die Notwendigkeit einer militarischen Losung des russischen Problems und unterzog den Zustand der Bewaffnung der Roten Armee einer vernich- tenden Kritik. Seiner Meinung nach wiirden die Russen dem massiven Schlag der deutschen Panzer und Flugzeuge nicht standhalten. Am 4. Juli 1941 erklarte er mit groBer Uberzeugung: “Stalin hat den Krieg faktisch schon verloren.”9 Wenige Tage spater erklarte er gegeniiber dem japani- schen Botschafter Osima: “Unsere Feinde sind schon keine Menschen mehr, das sind Tiere”. Mit Begeisterung schrieb Propagandaminister

Goebbels am 30. Juni in sein Tagebuch: “Wir sind wieder auf dem Gipfel des Triumphs. Das sowjetische Regime stiirzt zusammen wie ein tonerner Riese. Das Krebsgeschwiir (d.h. der Bolschewismus) muss ausgebrannt werden. Stalin wird sturzen.”10

Generaloberst F. Haider, Chef des Generalstabs der Landstreitkraf- te, war nicht weniger optimistisch. Am 12. Tag der Ostkampagne schrieb er in sein Tagebuch: “Der Feldzug gegen Russland wird im Verlaufe von 14 Tagen gewonnen sein. Natiirlich ist er damit noch nicht abgeschlos- sen.”“ Haider merkte ironisch an: “Die Russen hat der Schlag getroffen”. Mitte August musste derselbe Haider zugeben: “Es wird immer deutli- cher, dass wir den Koloss Russland, der sich bewusst auf den Krieg vor- bereitet hat, bei aller MaBlosigkeit, die den totalitaren Systemen eigen ist, unterschatzt haben.”12 Der Reichsfuhrer SS und Chef der Deutschen Polizei, Himmler, hatte noch im Januar folgendes Ziel fur den Feldzug in Russland ausgegeben: Im Osten sollten 30 Millionen sowjetische Burger verschwinden. Die Uberlebenden seien nach Sibirien zu deportieren. Das okkupierte Territorium sei zu deindustrialisieren und zu deurbanisieren. Die landwirtschaftliche Produktion solle erhalten bleiben.

Grundlage der deutschen Kriegsstrategie war der rassenideologische Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion. Grausamkeit und Gnaden- losigkeit waren im Umgang mit den Russen Standard. Die Generale brachten keine entschlossenen Einwande vor. Sie versuchten vielmehr, die Idee Hitlers befehlsgemafi umzusetzen wie beispielsweise General Erich Hoepner mit seinem Befehl vom 2. Mai 1941. Darin hieB es “Der Krieg gegen Russland ist die unvermeidliche Folge des uns aufgezwunge- nen Existenzkampfes insbesondere um die okonomische Unabhangigkeit Grofigermaniens und des ihm unterworfenen europaischen Raumes. Es ist der alte Kampf der Germanen gegen das Slawentum, der Kampf um die Verteidigung der europaischen Kultur gegen die russisch-asiatische Inva­sion, die Abwehr des jiidischen Bolschewismus. Ziel des Kampfes ist die Zerstorung des heutigen Russlands, und deshalb muss er mit nie gekann- ter Grausamkeit gefuhrt werden.... Vor allem darf es keine Schonung fur die Stiitzen des russisch-bolschewistischen Systems geben.”13 Der noch vor dem Uberfall auf die UdSSR von General W. Warlimont am 6. Juni 1941 unterzeichnete “Kommissarbefehl” enthielt die Forderung, alle poli- tischen Kommissare, derer man habhaft werden konnte, an Ort und Stelle zu erschiefien. Sie wurden als die “wirklichen Trager des Widerstands” betrachtet und stellten demnach eine Gefahr fur die deutsche Sicherheit und die schnelle Befreiung der Bevolkerung in den besetzten Gebieten dar.14 Der “Kommissarbefehl” ist ein eindeutiges Zeichen daffir, dass die Wehrmacht an der nationalsozialistischen Vernichtung des politischen Gegners beteiligt war, schreibt der Historiker Christian Streit.15

Die politische und militarische Elite des Dritten Reiches sprach mit grofiter Verachtung iiber die Russen und Russland. Im Februar 1942 er- klarte Hitler in der Wolfsschanze: “Die Russen werden nicht alt, 50 bis 60 Jahre. Warum sollten wir sie impfen? Man muss da wirklich unseren Juristen und Arzten Gewalt antun: nicht impfen, nicht waschen! Schnaps sollen sie haben und Tabak, soviel sie wollen.”16 Fur die Russen bedeute das Wort “Freiheit” lediglich, sich an einem Feiertag im Badehaus zu wa­schen. Die Kultur des russischen Volkes, der Polen und der anderen sla- wischen Volker, so Hitler, sei zu vernichten, die “Ureinwohner” im Osten miissten auf der niedrigsten Kulturstufe gehalten werden, damit sich ihre Zahl standig verringere. Bildung miisse ihnen vollig verwehrt werden. Am besten ware es, sie nur mit Gesten sprechen zu lassen.17 Um das zu erreichen, konne man so wie Stalin mit absoluter Grausamkeit vorgehen. Die Unmenschlichkeit der Nazis wurde besonders im Umgang mit den sowjetischen Kriegsgefangenen 1941-1945 deutlich. An ihrem tragischen Schicksal zeigte sich die Rassenideologie des Nationalsozialismus und de- ren Menschenverachtung von ihrer grausamsten Seite.18

Die Soldaten und Offiziere der Wehrmacht machten sich das Bild des “russischen Feindes” zu eigen, vor allem in den ersten Kriegsmonaten. Sie beschrieben die Russen als ein Volk von Sklaven, “Barbaren”, “menschen- ahnlichen Tieren”. Feldmarschall Wilhelm Keitel erklarte im Mai 1942, dass die Mehrheit der Russen auch heute noch Dummkopfe seien, obwohl Stalin gern kluge Menschen wie die Deutschen aus ihnen machen wurde. Das ware ja ein unerhorter Fortschritt fur die Russen.19 Der Reichsfuhrer SS, Heinrich Himmler, schiirte die Propaganda. Auf seine Anordnung hin erschien in hoher Auflage die Broschiire “Der Untermensch”. Sie ffihrte effektvoll die rassisch “unwerten” Russen vor und unterstrich den Kon- trast zwischen den “entarteten” Menschen des Ostens und den gesunden, sauberen und nordischen Deutschen. Stalin wurde zum “Untermenschen Nr. 1 ” erklart.20

Die Wahrnehmung und Bewertung der Fiihrer der UdSSR, vor allem Stalins, war weniger eindeutig. Reichsmarschall Goring, am Vorabend des GroBen Vaterlandischen Krieges auf dem Hohepunkt der Macht ange- langt, erklarte, dass die bolschewistischen Fiihrer wahrend der Besetzung der Sowjetunion so schnell wie moglich zu erledigen seien. Stalin wurde unterdessen von Hitler und von Ribbentrop sehr geschatzt. Aus Ribben- trops Erinnerungen geht hervor, welch starken Eindruck Stalin bei ihrem ersten Treffen aus Anlass der Unterzeichnung des Nichtangriffspakts am 23. August 1939 bei ihm hinterlassen hatte. “Ein Mensch ungewohnli- chen MaBstabs”, schreibt Ribbentrop. Seine niichterne, fast trockene und zugleich klare Art sich auszudriicken, sein barter ebenso wie groBziigiger Verhandlungsstil zeigten, so Ribbentrop, dass Stalin seinen Namen zu- recht trage. Ribbentrop war beeindruckt von der Kraft und Macht die­ses Menschen, “der sein Imperium von 200 Millionen Menschen besser zusammenhalte als zuvor die Zaren.”21 Ribbentrop und seine Begleitung waren begeistert tiber den Empfang im Kreml, von den Gesprachen mit den Mitgliedern des Politburos, fuhlten sich ab und an wie “unter langjah- rigen Parteigenossen”. Stalin erhob sein Glas tibrigens nicht nur, um auf Hitler anzustoBen, sondern auch zu Ehren Himmlers als dem Garanten der Ordnung in Deutschland. Die Geste beeindruckte Ribbentrop und seinen Kreis, denn ihrer Meinung nach konnte nur ein sehr groBer Mensch dem- jenigen Gesundheit wunschen, der die deutschen Kommunisten, d.h. alle, die an Stalin glaubten, umgebracht hatte.22 Veroffentlichten Dokumenten zufolge hegte Hitler fur Stalin ohne Zweifel Sympathie. Er habe bereits im Herbst 1938 beschlossen, gemeinsam mit Stalin zu handeln. Hitler erklar- te stolz, dass es auf der ganzen Welt nur drei groBe Staatsmanner gebe: Stalin, ihn selbstund Mussolini. Allerdings: “Mussolini ist der schwachste. Stalin und ich sind die einzigen, die in die Zukunft sehen.”23 Hitler nannte Stalin mit einem leichten Anflug von Bewunderung ein Genie, einen “ge- nialen КегГ, einen “genialen Typen”. Er verglich ihn mit einem schlauen Tiger und schatzte seine gnadenlose Tyrannei. “Churchill ist ein Schakal, Stalin — ein Tiger.”24 Stalins Ideal sei Dschingis Khan. Er wisse alles iiber den groBen Herrscher, und Stalins wirtschaftliche Plane seien beispiellos und wiirden nur von den deutschen Vierjahrplanen ubertroffen.25 Bis zum Schluss, auch als die Deutschen bei Moskau eine Niederlage erlitten, der “Blitzkrieg” scheiterte, selbst nach der Schlacht um Stalingrad blieb es bei Hitlers Bewunderung fur Stalin. Goebbels merkt in seinem Tagebuch an, dass Hitler anstrebte, sich mit der Sowjetunion zu verstandigen. “Stalin konnte wohl eine Veranderung der Militarpolitik herbeifuhren, denn er muss sich nicht um die offentliche Meinung in seinem Lande scheren.”26 Goebbels dagegen hielt laut seinen Tagebuchaufzeichnungen wenig von Stalin. Er beschreibt ihn oft mit negativem Vorzeichen, als listigen und unehrlichen Politiker, der sich vor den deutschen Panzern und einer kriegerischen Auseinandersetzung mit Deutschland furchte. Er nannte Stalin einen “gewissenlosen Menschen”, den Nachfolger Peters des Gro­Ben, einen Vertreter des Panslawismus. Fur die Russen gelte er als Va- terchen und die einzige Hoffnung. Am 9. Mai 1941 vermerkt Goebbels: “Stalin scheint allmahlich zu verstehen, was vor sich geht, aber insgesamt scheint er erstarrt wie das Kaninchen vor der Schlange.”27 In Goebbels1 letzten Aufzeichnungen im Marz und April 1945 wird Stalin oft erwahnt. Goebbels charakterisiert ihn als grausamen und gnadenlosen Politiker, fur den selbst der amerikanische Prasident Roosevelt und GroBbritan- niens Premier Churchill dumme Jungen seien.28 Alle drei — Roosevelt, Churchill und Stalin — seien dabei, todliche Plane gegen die Deutschen zu schmieden. Goebbels' Hoffnung auf einen schnellen Sturz Stalins nach dem tJberfall auf die Sowjetunion erfullte sich nicht. Im November 1940 hatte der Reichspropagandaminister in Berlin den Volkskommissar fur internationale Angelegenheiten Molotow getroffen. Goebbels charakte- risierte Molotow als “klugen, schlauen (Menschen), sehr verschlossen, das Gesicht von einem todesbleichen Gelb”. Er hore aufmerksam zu, mehr nicht. Molotow sei eine nur Art Vorposten Stalins, von dem letztlich alles abhange.29 Goebbels war der Meinung, dass Molotow fest an die deutsche Freundschaft glaube und gegen die Westmachte eingestellt sei.30

Stereotype herrschten auch in der Frage vor, wie die russische Be- volkerung zum sowjetischen politischen Regime stand. Hitler war der Meinung, dass es nur einer antibolschewistischen propagandistischen Tendenz bediirfe, denn die Volker des Ostens wurden den Bolschewis- mus hassen und furchten. Die politische Elite Nazi-Deutschlands erwar- tete, dass die Sowjetburger sich gegen das bolschewistische System auf- lehnen und die deutschen Soldaten als Befreier empfangen wurden. Das war nicht der Fall. Die militarische und politische Spitze des Reichs war auf den hartnackigen Widerstand seitens der Roten Armee unvorberei- tet ebenso wie auf die Starke Partisanenbewegung. Nach Stalins Aufruf zum Partisanenkampf hielt Hitler dagegen: “Das gibt uns die Moglich- keit, alles auszumerzen, was sich uns in den Weg stellt.”31 Hitler irrte, als er davon sprach, “dass der Russe der massiven Anwendung von Panzern und Flugzeugen nicht standhalt.” In vielen deutschen Berichten war vom “auBergewohnlich zahen Widerstand der Roten Armee” die Rede. Die hartnackige Verteidigung, das AusmaB der russischen Angriffe und Gegenangriffe erstaunten die Frontoffiziere und auch die einfachen deut­schen Soldaten.32 Die Generale verstanden nicht, warum die Russen trotz der katastrophalen Verluste nicht kapitulierten. Goebbels erklarte die Misserfolge der Deutschen im Osten mit dem Fanatismus des sowjeti­schen Volkes, wahrend General Bliimentritt daruber schrieb, “dass der russische Soldat ein starker Kampfer ist. ... Selbst in der Einkesselung kampften die Soldaten hartnackig weiter.... Uns stand eine Armee gegen- iiber, die alien anderen Armeen hinsichtlich ihrer kampferischen Qualita- ten einiges voraus hatte.”33

Das Bild der Nazi-Elite von der Roten Armee und der sowjetischen Militarfiihrung wandelte sich im Verlauf des Krieges. Mit fortgesetzter Kriegsdauer stieg Hitlers unwillkurliche Bewunderung fur die Rote Ar­mee. Ihre Fahigkeit, Niederlagen zu ertragen, beeindruckte ihn besonders stark. Er verglich den Kampfgeist der russischen Soldaten mit dem der SS-Truppen. Hitler gelangte zu der Uberzeugung, dass die groBen Sau- berungen vor dem Krieg die Rote Armee nicht etwa geschwacht, sondern sogar gestarkt hatten.34 Zwar habe Stalin nicht einen einzigen genialen Strategen an seiner Seite, dafiir jedoch eine Vielzahl hervorragender Kommandeure.35

Goebbels war erstaunt, als er im Marz 1945 ein Dossier der Biografi- en und Portrats sowjetischer Generale und Marschalle zu lesen bekam. Das Dossier zeige, schrieb Goebbels in sein Tagebuch, welche Fehler die Deutschen in den letzten Jahren gemacht hatten: “Diese Generale und Marschalle sind im Durchschnitt sehr jung, kaum einer ist iiber fimfzig. Sie haben eine reiche Erfahrung in der revolutionaren und politischen Ar­beit, sind uberzeugte Bolschewisten und uberaus energische Menschen. Ihren Gesichtern kann man ablesen, dass sie aus einem guten Volksstamm kommen. ... Mit anderen Worten,” so musste Goebbels eingestehen, “die Armeefuhrer der Sowjetunion stammen aus besseren Volksschichten als unsere eigenen Leute.3fi So versuchte der Propagandaminister, sich den Er- folg der Roten Armee zu erklaren, und er kam dabei nicht zufallig erstmals auf die sowjetischen Marschalle zu sprechen: “Stalin hat alien Grund, sie fast wie Kinohelden zu feiern.”37 In der Endphase des Krieges unternahm Goebbels sogar den Versuch, die gewaltsam aus Russland vertriebenen “Ostarbeiter” fur seinen Kampf gegen die sowjetische Fuhrung zu nutzen. Er machte propagandistisch Verbundete aus ihnen, ihre Arbeit wurde als Beitrag im Kampf gegen den Bolschewismus dargestellt.

Hitler und die Militars zogen aus den katastrophalen Misserfolgen in den Jahren 1941-1942 keine Schlussfolgerungen. Ungebrochen setzten sie auf die unvermeidliche Niederlage der Sowjetunion und auf die eige- ne Unverwundbarkeit. Sie unterschatzten die Stabilitat des sowjetischen Systems. Ihre furchtbare Arroganz, die Umsetzung der unmenschlichen Rassentheorie, die Verachtung gegenuber der russischen Intelligenzija und dem russischen Volk und die extreme Uberbewertung der Kampfkaft der Wehrmacht fuhrten zu einer volligen Fehleinschatzung der Sowjet­union, ihrer Menschen und ihres militarischen und wirtschaftlichen Po- tenzials. Nach dem Krieg erklarte Generalfeldmarschall von Rundstedt frei heraus: “Ich habe gleich nach dem Beginn des Einmarsches entdeckt, dass alles, was liber Russland geschrieben wird, Unsinn ist.”38 General F. Mellenthin hatte alien Grund zu seiner Annahme, dass die eiserne Dis- ziplin in der Roten Armee einer der entscheidenden Faktoren fur die Er- folge Stalins war.39 Die deutschen Generale gaben sich beeindruckt von den Kampfeigenschaften des Panzers T-34 und hielten ihn sogar fur den besten Panzer weltweit.30 Generaloberst Haider und Generaloberst Gude- rian, die sich in den Jahren 1940 und 1941 sehr negativ tiber die Rote Ar­mee geauBert hatten, gaben nun zu, “dass die sowjetische Strategie in den Kriegsjahren hochsten Anforderungen entsprach”, und dass die Militar- fuhrung flexibel und operativ handelte. Guderian schreibt im Ruckblick und unter Beriicksichtigung der bitteren Erfahrungen in Russland, dass “der Ausgang der Kampfhandlungen, vor allem in Russland, nicht vor- hergesagt werden kann.” Deshalb durfe sich kein Armeefuhrer, wie gut er auch immer plane, auf den Erfolg eines “Blitzkriegs” in Russland ver- lassen. Seiner Meinung nach zeichnete sich der russische Soldat zu alien Zeit durch eine besondere Hartnackigkeit, Charakterfestigkeit und An- spruchslosigkeit aus. “Im Zweiten Weltkrieg ist deutlich geworden, dass auch das sowjetische Kommando groBe Fahigkeiten auf dem strategischen Gebiet vorzuweisen hat... Die russischen Generale und Soldaten verste- hen es, Befehle genau auszufuhren. Selbst in der schweren Situation von 1941 behielten sie einen kuhlen Kopf.”41

Der Krieg hat fur bedeutende Korrekturen in der Wahrnehmung und im subjektiven Bild von der Sowjetunion gesorgt. Die grenzenlose Arro- ganz und verbrecherische Anmafiung Hitlers, seiner Generate und Offi- ziere hatte katastrophale Folgen nicht nur fur die UdSSR, sondern fur alle Deutschen und ganz Deutschland. I II

  1. Das andere Gesicht des Krieges. Deutsche Feldpostbriefe 1939 bis 1945. Mime hen, 1982. S. 87.

  2. Rokowoje reschenije. Moskwa, 1958. S. 72, 84, 98.

  3. Fiihrerund Reichskanzler Adolf Hitler 1933-1945. Miinchen, 1989. S. 562.

  4. GebbelsJ. Poslednije sapisi. S. 93.

  5. Ebenda. S. 200.

  6. Ebenda. S. 189.

  7. Schirer U. L. Plan “Barbarossa” // Ot “Barbarossa” do “Terminala”: wsgljad s Sapada. S. 51.

  8. Mellentin F. Tankowyje srashenija 1939-1945. Bojewoje primenenije tankow wo Wtoroj mirowoj wojne. Moskwa, 2003. S. 356.

  9. Frisner G. Proigrannyje srashenija. Moskwa, 1966. S. 224.

  10. Guderjan G. Opyt wojny s Rossijej // Itogi Wtoroj mirowoj wojns. Sb. st. M., 1957. S. 133.

WELTKRIEG UND BURGERKRIEG - DIE EUROPAISCHE PERSPEKTIVE

Nikolaus Katzer, Deutsches Historisches Institut Moskau

Das Ende des Ost-West-Konflikts ist von der zeitgeschichtlichen For- schung friihzeitig mit dem Abschluss des 20. Jahrhunderts gleichgesetzt worden. Doch hat sich die darauf gemunzte Formel vom “Ende der Ge- schichte” als wenig fruchtbar erwiesen. Die dramatische Entwicklung nach 1991 hat lediglich den Kalten Krieg als eine Periode relativer Stabi- litat in Europa erscheinen lassen. Seither ist eher das Gespiir fur die Of- fenheit des historischen Prozesses gewachsen. Kaum Widerspruch hat die inzwischen redundante Einschatzung gefunden, es handele sich beim 20. um ein “kurzes” Jahrhundert. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und ihrer gestaffelten imperialen Ordnung fiel in der Tat ein Hauptfaktor der Weltpolitik aus. Wie das Vakuum sich allerdings fallen wurde und welche Kontinuitaten fortbestehen wiirden, offenbaren allmahlich erst die folgenden Jahrzehnte.

Seither ist das 20. Jahrhundert wiederholt wissenschaftlich vermes- sen und interpretiert worden. Doch setzte sich weder ein universales, noch ein europazentriertes Geschichtsbild durch, das konsensfahig ware. Vielmehr erlebten zunachst im Osten Europas die jahrzehntelang ideolo- gisch verzerrten Nationalgeschichten eine Renaissance. Diese stehen in Konkurrenz zu den Bemuhungen im Westen, transnational Bilanzen zu ziehen. Beispielsweise stieBen Vergleiche zwischen nationalsozialistischer und stalinistischer Diktatur oder zwischen vermeintlich systembeding- ten Gewalterfahrungen immer dann an Grenzen, wenn es darum ging, die immensen Leiden der Opfer in alien Teilen des Kontinents angemes- sen zu erfassen, zu bewerten und zu erinnern.1 Holocaust, Massenterror, Zwangsmigrationen und Kriegsgrauel stehen dabei symptomatisch fur die Schwierigkeiten, Formen gemeinsamer Erinnerung an die Gewaltge- schichte des 20. Jahrhunderts zu finden. Der Vorwurf, die jeweils “ande- ren” Opfer nicht anzuerkennen, ihre Leiden zu relativieren oder aufzu- rechnen, war mit diesem komparatistischen Ansatz kaum zu entkraften. Andererseits boten die nationalen Perspektiven erst recht keinen Ausweg aus der Falle retrospektiver Selbstbezogenheit und selektiver historischer Wahrnehmung.

Die Erinnerungsschube wahrend dieses epochalen historiographi- schen, geschichtspolitischen und erinnerungsgeschichtlichen Vorgangs wurden durch die Offnung der osteuropaischen Archive befltigelt und losten einen wissenschaftlichen Paradigmenwechsel aus. Eine interdiszi- plinar vergleichende Kulturgeschichte, die ausgedehnte Anwendung der oral history und innovative Verfahren bei der erweiterten Auswertung von Selbstzeugnissen setzten neue MaBstabe bei der Erforschung gerade jener Bereiche, die mit herkommlichen Methoden kaum erschliefibar waren. In einigen Fallen gelang es dabei, das “Unsagbare” und das Unerhorte, die alle bisherige Vorstellungskraft ubersteigende Bilderwelt des Grauens im Gedachtnis der Oberlebenden und die entfesselten Gewaltszenarien sowie die paradoxe Parallelitat von Terror und schonen Scheinwelten in Worte zu fassen. Eine wesentliche Folge dieser Hinwendung zu den Gefuhlen und Wahrnehmungen der Erlebensgenerationen und der Oberlebenden, der Opfer und der Tater, der namenlosen und namhaften Akteure war einerseits die Einsicht in komplexe Lebenslaufe mit mehrfachen Briichen. Neben den vielen, die vollkommen unschuldig in die Maschinerie des To- des gerieten, lieBen sich andere von den VerheiBungen neuer Ideologien anziehen, um diesen dann bis zur Selbstverleugnung und Amoralitat zu verfallen, wechselten wieder andere aus Opportunisms oder blanker Not mehrfach die Seiten.

In dieser Sicht auf das 20. Jahrhundert markieren die beiden Weltkrie- ge zweifellos die Hohepunkte. Hingegen findet das beide verbindende, teils auch untergrundige Geschehen mit seinen langen Nachwirkungen durch Epochen-Begriffe wie “Zwischenkriegszeit”, “Nachkriegszeit” oder “Kalter Krieg” schwerlich angemessenen Ausdruck. Vielmehr haben zahl- reiche neue Untersuchungen zu den Weltkriegen Kontinuitaten einer Gewaltgeschichte, unterdruckter Selbstverstandigung von Gesellschaf- ten und lediglich oberflachlicher Befriedung von ungelosten innerstaat- lichen oder internationalen Konflikten zutage gefordert, die treffender mit “Biirgerkrieg” zu bezeichnen sind. Aufgrund einer langen Geschichte weist die Semantik dieses Begriffs Sedimente heterogener sozialer Kon- stellationen auf. Seit den Revolutions- und den Befreiungskriegen, dem Krimkrieg und dem amerikanischen Biirgerkrieg, also den “modernen”, sozial, ethnisch-national und ideologisch motivierten Waffengangen, sind damit vor allem die Verhaltnisse jenseits der volkerrechtlich definierten Zustande von “Krieg” und “Frieden” gemeint. In diesem prekaren Vaku- um zwischen Krieg und Frieden herrschte “Ausnahmezustand”, regierten provisorische Autoritaten. Im Vergleich mit Staatsordnungen sind sie regellos, in ihrer inneren Verfassung folgen sie aber einer eigenen Ratio­nalist.2

Das neue politische Tauwetter nach 1991, das die Eiszeit der Erin- nerung wahrend des Kalten Krieges abldste, hat also nicht nur neue Nationalgeschichten angestoBen. Vielmehr weckte es auch ein neues Ge- spiir fur tiefer gehende Fragen nach dem Eintritt Europas ins “Zeitalter der Weltkriege”, nach den Ursachen und Folgen entfesselter Gewalt in einem nahezu permanenten Ausnahmezustand vom Jahrhundertbeginn bis zur Jahrhundertmitte. Die Kennzeichnung des Ersten Weltkrieges als “Urkatastrophe” des 20. Jahrhunderts wies nicht allein hinsichtlich Ost- europas und namentlich Russlands Erklarungsdefizite auf. Sie vermochte den Unterschied zwischen Gewinnern, den neuen Nationalstaaten und Revolutionsregimes, und Verlierern, den Imperien und alten Eliten, nicht plausibel zu machen. Jedenfalls leugnete eine wesentliche Stromung der europaischen Historiographie, dass der Weltkrieg und nicht die Oktober- revolution den Epochenschnitt setzte.

In der jungsten Zeit hat die wissenschaftliche Forschung nun einen neuen Anlauf genommen, das vergangene Jahrhundert noch einmal von seinen Anfangen her neu zu durchdenken. Die beiden Jahrzehnte zwi­schen 1904 und 1923 riicken dabei als Geschehenszusammenhang von Revolutionen und bewaffneten Aufstanden, Regionalkriegen und Welt­krieg, paramilitarischen Nachfolgekonflikten und Burgerkriegen in den Blickpunkt. In der Ruckschau zeichnet sich darin nicht bloB ein Vorspiel ab. In dieser Epoche werden Gewaltpotentiale freigesetzt, Bevolkerungs- verschiebungen erzwungen und Vernichtungsstrategien erprobt, die da- nach durch die erschutterten staatlichen Strukturen nur partiell wieder eingedammt werden konnten, sofern sie nicht mit den Staatszwecken ver- quickt wurden.

Das 20. Jahrhundert als historiographisches Problem

Schon die erste russische Revolution von 1905 folgte auf die ersten demtitigenden Niederlagen in einem auswartigen, dem Russisch-Japani- schen Krieg. Und obwohl auch die erfolgreichen Revolutionen des Jahres 1917 unmittelbar aus dem Weltkrieg hervorgingen und — wie Befrei- ungsbewegungen in anderen Landern — von den kriegfuhrenden Mach- ten geschurt worden waren, blieb die Entsorgung des Weltkriegs durch die sowjetische Geschichtsschreibung weitgehend unwidersprochen. Das neue Zeitalter setzte demnach mit dem Oktoberumsturz als Stunde Null ein, wahrend der “imperialistische Krieg” als “letzter Krieg des Zarismus” gleichsam dem 19. Jahrhundert zugeschlagen wurde. Aus dieser Sicht- weise ergaben sich zwei parallele Meister-Narrative — das starker aus westlicher Sicht gestaltete vom Weltkrieg als “Urkatastrophe” und das auf der Wahrnehmung der Bolschewiki beruhende von der Oktoberrevo- lution als “Weltenwende” — sozusagen also zwei Grtindungsmythen des europaischen bzw. des globalen 20. Jahrhunderts. Unweigerlich geriet da- ruber die Geschichte der Ostfront im Ersten Weltkrieg allmahlich in Ver- gessenheit, nachdem das Echo der namentlich in Mitteleuropa popularen Romane und pseudo-authentischen Erinnerungen verklungen war, die bis in die 1930er Jahre hinein Schreckensszenarien kolportierten.3 Eben- so wurde im westlichen Europa der russische Btirgerkrieg (1918-1921) trotz massiver auslandischer Intervention zum regionalen Randereignis herabgestuft, wahrend sich die sowjetische Heldensaga gerade auf diesen internationalen Zusammenhang sttitzte, wenn sie den beispielhaften Sieg des russischen Proletariats in einem weltweit angelegten Klassenkrieg beanspruchte. Stalin schrieb 1927 die These von der kapitalistischen Einkreisung und dauerhaften Bedrohung der Sowjetunion fest. Wie im Btirgerkrieg sollte sich in den Kopfen ein dichotomes Weltbild festsetzen, das nur zwischen den “Unsrigen” und den “Anderen”, den “Eigenen” und den “Fremden” unterschied.

Weltkrieg und Burgerkrieg waren entkoppelt. Die nachfolgenden Krisen wurden mit unterschiedlichen Begriffen und spezifischer Syste- matik analysiert. Vor diesem Hintergrund entbehrte der spate deutsche Historikerstreit von 1986 und 1987 iiber die Ursachen der europaischen Diktaturen nicht einer gewissen Logik, auch wenn er wissenschaftlich wenig ergiebig war.4 Ernst Nolte hatte ihn mit der These vom Zaun ge- brochen, dem nationalsozialistischen Massenmord an den Juden seien die “urspriinglichen” Gewaltverbrechen der Bolschewiki in kausalem Sinne vorangegangen. Nur die politischen Umstande der achtziger Jahre ma- chen in der Ruckschau nachvollziehbar, warum eine dermafien extreme, einseitige und selektive Sicht auf die Frtihgeschichte des 20. Jahrhunderts eine solche offentliche Resonanz erfuhr. Was Nolte danach noch in ei­nem umfangreichen Buch unter dem Titel “Der europaische Burgerkrieg” ausbreitete, entwertete vollends diesen Versuch einer Synthese trans­national Entwicklungen nach 1918. Durch die Engfuhrung der Welt- kriegs- und Revolutionsgeschichte auf ein einziges Motiv — die Geburt der Gewalt aus dem Geiste des Bolschewismus — machte sich der Ver- fasser unglaubwtirdig. Sein Buch war rasch vergessen, zugleich aber we- sentlich daftir verantwortlich, dass der Topos “europaischer Btirgerkrieg”, hier fahrlassig verktirzt und ideologisch aufgeladen, fortan gemieden wur­de. Wenn also in der aktuellen Forschung die Heimatfronten, der innere Krieg, die Internationalisierung regionaler Konflikte und die Militarisie- rung der europaischen Nachkriegsgesellschaften im Fokus mikrohistori- scher, mentalitats- und alltagsgeschichtlicher Studien stehen, handelt es sich gleichsam um eine nachholende Semantisierung einer alten Begriffs- htilse. Uber die Jahre 1914 bis 1918 hinweg wird nun nach dem inneren Zusammenhang der Epoche mit ihren auBeren und inneren Kriegen von der Jahrhundertwende bis Anfang der 1930er Jahre gefragt. Dazu zahlen Pogrome an der westlichen Peripherie des Zarenreiches, die Selbstbewaff- nung radikaler Gruppen auf der Linken und der Rechten, Bauernrebellio- nen, Arbeiteraufstande, ethnische Unruhen und Demobilisierungskrisen. Diese konkreten Begleiterscheinungen des Zusammenbruchs der alten Ordnungen verweisen auf die mangelnde Stabilitat der neuen Regierun- gen und Gesellschaften sowie die gewaltsamen Bemuhungen, Sicherheit neu zu definieren und durchzusetzen.

Vor dem Hintergrund dieser jungsten Forschung zu Deportation, Vertreibung, Zwangsmigration und paramilitarischer Gewalt vor der Epoche der ausgeformten Diktaturen5 konnen die bisherigen Gesamt- geschichten des 20. Jahrhunderts nur als vorlaufige Bilanzen gelten. Sie versuchen schon auf den Begriff zu bringen, was in seiner Komplexitat erst jetzt freigelegt wird und noch Gegenstand kontroverser Debatten ist. Was Jurgen Osterhammel fur das 19. Jahrhundert unternommen hat, wi- derstrebt angesichts der Ungleichgewichte bei der Erforschung des 20. noch einer ausgewogenen Synthese. Unverbunden stehen Darstellun- gen eines “amerikanischen”, “russischen” oder “deutschen” Jahrhunderts neben solchen eines “Jahrhunderts der Lager”, der “Vertreibungen” und des “Volkermords”. Was an Eric Hobsbawms Formel vom “Zeitalter der Extreme” heute iiberzeugt, gait eine Generation fruher fur Karl-Dietrich Brachers “Zeitalter der Ideologien”. Alle diese ernsthaften Versuche, dem Jahrhundert ein Signum zu verleihen, es verstehbar zu machen und Kontinuitaten aufzuzeigen, kommen ohne Vereinfachungen und Verktir- zungen nicht aus. Was einst die traditionelle Diplomatic- und Militar- geschichte leisten wollte, wurde danach der politischen Ideengeschichte aufgebtirdet, um dann von der Sozial- und Strukturgeschichte endgultige Antworten zu erwarten. Doch hat man inzwischen auch vom Diktum des “deutschen Sonderwegs” Abschied genommen, weil die vielfaltigen Fa- cetten des europaischen “Weges in die Katastrophe” sichtbar geworden sind.6 Die Schuldfrage bei der Organisation des Holocaust und der Ent- fesselung des Vernichtungskrieges im Osten kann auch ohne durchgangi- ge Kausalketten eindeutig beantwortet werden. Hingegen wirft die hete­rogene gesamteuropaische Krise, die nicht erst mit dem Ersten Weltkrieg einsetzte und mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs nicht endete, noch immer zahlreiche Fragen auf.

Weltkriege und Biirgerkriege

In dieser offenen Forschungssituation nach dem Ende des Ost-West- Konflikts, die sich keineswegs in einer kulturwissenschaftlichen Wende erschopft, verandert sich zwangslaufig der Blick auf die gesamte Epoche der Weltkriege und des nachfolgenden Kalten Krieges. Ungeachtet der Suche nach Kontinuitaten zwischen Erstem und Zweitem Weltkrieg kann die Herstellung eines kausalen Zusammenhangs nur teilweise tiberzeugen. Die Formel vom neuen “DreiBigjahrigen Krieg” erfasst nicht hinreichend die Auflosung des “GroBen Krieges” in zahlreiche Biirgerkriege, die meist unterschiedliche Ursachen und Konfliktpotentiale aufwiesen und in ganz verschiedenen Perioden des europaischen 20. Jahrhunderts ausbrachen. Die Schauplatze in Russland (1918 bis 1921) und in Spanien (1936 bis 1939), in Griechenland (1946 bis 1949) und in Frankreich-Algerien (1954 bis 1962) oder in den 1990er Jahren in Siidosteuropa markieren eine un- vollstandige Topographie innerer Kriege. Diese bewaffneten Konflikte zwischen paramilitarischen Verbanden, Freikorps, den Gefolgsleuten von Warlords, “Banden” oder sonstigen Gruppen von Freischarlern und in- ternationalen Brigaden reichten liber alte Staatsgrenzen hinweg und han- delten von sozialer Ungleichheit, nationaler Unterdriickung, interethni- schen und religios-konfessionellen Gegensatzen oder von der Anarchie zerfallender staatlicher Strukturen.7 In den staatsfernen und rechtsfreien Raumen ging es nicht bloB um die Entscheidung zwischen alternativen Staats- und Gesellschaftsmodellen, um ideologische Zweikampfe zwi­schen “Roten” und “Weiflen” oder zwischen “Republikanern” und “Falan- gisten”. Tatsachlich erklart sich die Erbitterung der Kampfe gerade aus der Uniibersichtlichkeit des Geschehens, der iiberall lauernden Gefahr, der fehlenden Eindeutigkeit der Uberzeugungen und der Vielschichtig- keit der Konflikte. “Freiwillige” kampften oftmals um das nackte Uber- leben, wechselten die Fahnen nach Opportunist und passten sich den jeweiligen Machtverhaltnissen an. Identitaten wurden meist erst retro- spektiv geschmiedet und verschafften den Uberlebenden eine vorlaufige Aufenthaltsgenehmigung in einer provisorischen neuen Ordnung. Andere schwiegen und verleugneten ihre “iiberholte” Weltsicht verleugnen. Die Geschichte der Partisanen im 20. Jahrhundert beispielsweise zeigt solche widerspriichlichen Bilder zwischen Kollaboration und Widerstand, An- passung und Subversion. Dies meint keineswegs, dass die Motive und In- teressen stets beliebig oder wiirdelos gewesen waren. Vielmehr geht es bei der Rekonstruktion ihrer Geschichten darum, den Noten des Subjekts inmitten des “totalen Krieges” Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.8 Wahrend im klassischen Staatenkonflikt Kriegsursachen und Kriegs- schuld in ihrer Genese nachvollziehbar sind, also klar ist, wann sie an- fangen (durch Kriegserklarung oder Angriff) und wann sie enden (durch Friedensschluss oder Kapitulation), bleiben Sieg und Niederlage, Gewin- ner und Verlierer in Biirgerkriegen prekare Kategorien. Deshalb scheuen manche Gesellschaften die Erinnerung an den Biirgerkrieg im eigenen Land, weil er einen “Biirgerkrieg der Erinnerung” heraufbeschworen kann. Das Ringen um die Vergangenheit wird zum Kampf um die An- eignung und Deutung von Bildern und Relikten. Wie die Debatten der jiingsten Vergangenheit etwa in Spanien oder Frankreich zeigen, konnen die Fronten des inneren Krieges auch nach Jahrzehnten noch zumindest in symbolischer Form wieder aufbrechen. Eine sichere Gewahr fur die Be- friedung und Aussohnung von Burgerkriegsgesellschaften bieten offenbar weder die schonungslose Aufklarung noch das erzwungene Schweigen.

Ein besonders schmerzliches Kapitel der Geschichte der Weltkriege sind die latenten Btirgerkriege. Wo es um die Verteidigung von “Vater- land” und “Heimat” ging, verlangt die Erinnerungskultur einen gesell- schaftlichen Konsens. Die todliche auBere Gefahr lasst alle inneren Konflikte in den Hintergrund treten. Schwindet allerdings die akute Be- drohung oder verliert das Idealbild von einer einheitlichen Abwehrfront an Bindekraft, werden die sozialen, nationalen und religiosen Bruchstellen wieder sichtbar. Die jungere Forschung erortert solche Fragen am Bei- spiel etwa der Partisanen oder des Kollaborationsproblems im Zweiten Weltkrieg. Im Ersten Weltkrieg zeigten insbesondere die imperialen Ge- sellschaften fruhzeitig Risse. Frontsoldaten und Bevolkerung im Hinter­land entfremdeten einander und fur Mehrheitsnation und Minderheiten gait zunehmend unterschiedliches Recht. Besonders verhangnisvoll war indessen die Propaganda von den “inneren Feinden”, die angeblich den gesellschaftlichen Zusammenhalt untergruben und dem militarischen Gegner in die Hande spielten. Sie radikalisierte den alten Vorwurf des Verrats, indem ganze ethnische Gruppen haftbar gemacht wurden. Wohl auch deshalb verhallte in Russland der Ruf, sich in Ruckbesinnung auf 1812 wie in einem neuen “Vaterlandischen Krieg” um die Fahne der Monarchic zu scharen.

Gewalterfahrungen im fruhen 20. Jahrhundert

Die Belebung und Differenzierung der Forschung zum ersten Drittel des 20. Jahrhunderts legt nahe, dass die Zeit der groBen Bilanzen furs ers- te voriiber ist. Eher scheint sich eine zweite Historisierung Weg zu ver- schaffen. Nach der intensiven Untersuchung des Nationalsozialismus und des Stalinismus so wie des Zweiten Weltkrieges richtet sich der Blick er- neut auf das Geschehen in den Jahrzehnten zuvor. Ausgestattet mit dem dabei entwickelten methodischen Riistzeug und der vertieften Kenntnis der vielschichtigen Erfahrungswelten unter den Diktaturen geht es nicht einfach um eine Revision der Vorgeschichte totalitarer Herrschaft. Anlass scheint auch nicht bloB das Unbehagen an der alteren Diplomatic- und Militargeschichte gewesen zu sein, die sich vorwiegend fur Kriegsursa- chen und Kriegsziele, materielle Ressourcen und Kriegsverlaufe interes- sierten. Vielmehr hatte die Diktaturforschung nicht abgeschlossene Pro- zesse entdeckt, die es verdienten, bis ins 19. Jahrhundert zuriickverfolgt zu werden. Sie betrafen etwa die Nationsbildung, die Zivilgesellschaft und die Modernisierung. Vor allem aber kamen innovative Studien zu unbe- kannten Einsichten in individuelle Lebenslaufe und kollektive Verhal- tensweisen. Am Beispiel mehrfach gebrochener Biographien konnte die Widerspruchlichkeit kollektiver Erfahrungen aufgezeigt werden.9 Das Subjekt wurde zur schillernden GroBe, gleichgiiltig, ob es sich um eine Person in verantwortlicher Stellung oder um Durchschnittsburger han- delte. Die Disposition fur diesen Typus moderner Individualist konnte schwerlich durch die Sozialisation in den jungen Diktaturen selbst ange- legt worden sein.

Der “Krieg in den Kopfen” ging auf unterschiedliche Gewalterfah- rungen in der revolutionaren Krise wahrend und nach dem Ersten Welt- krieg zuriick. Er beherrschte die europaischen Nachkriegsgesellschaften.10 Schon zuvor forderten irregulare bewaffnete Gruppen das staatliche Gewaltmonopol heraus. Vor allem aber die chaotische Demobilisierung insbesondere in den zerfallenden Imperien ffihrte nach Einstellung der Kriegshandlungen zur Austragung von sozialen, politischen, ethnischen und religiosen Konflikten mit Waffengewalt und einem dramatischen An- stieg der Kriminalitat.11 Dieses Geschehen lief teils parallel, teils zeitlich verschoben und teils mit spezifischen Merkmalen ab. In Russland wurde es durch den Ausbruch der Revolution noch wahrend des Krieges, den nachfolgenden verheerenden Biirgerkrieg und eine Hungersnot gepragt. Dennoch macht auch hier die vergleichende Forschung mit anderen Lan- dern Sinn. Sie deutet an, dass es trotz besonderer Umstande auch hier eine kontinuierliche Krise seit der vorrevolutionaren Zeit gab.12 Sie eska- lierte nach 1917 in heftigen Schiiben. Auf dem Territorium des Zaren- reiches entstanden zahlreiche konkurrierende Herrschaften. An den Peri- pherien errichteten echte oder selbsternannte “Atamane” Regime eigenen Rechts.13

Ziel der neuen Forschung ist es nicht, eine direkte Linie von der Ge- walterfahrung vor und wahrend des Ersten Weltkriegs zu den Bauern- rebellionen, Arbeiteraufstanden und ethnischen ZusammenstoBen zu zie- hen. Eher zuriickhaltend werden auch Versuche eingeschatzt, Ersten und Zweiten Weltkrieg in direkte Beziehung zueinander zu setzen. Wesentli- cher ist die Analyse der Faktoren, die langfristig die alten staatlichen und administrativen Strukturen aushohlten, die rechtlichen Instanzen de- legitimierten und die Errichtung rivalisierender, gewaltbereiter Regimes begiinstigten bzw. anarchische Verhaltnisse schufen. In langfristiger Per- spektive ware zu untersuchen, inwiefern offene oder latente biirgerkriegs- ahnliche Konstellationen und Zustande die Geschichte des Jahrhunderts durchziehen. Nicht zuletzt steht die historische Wissenschaft vor dem schwierigen Problem, die Weltkriege auch als Rahmen von Biirgerkrie- gen zu beleuchten, den Biirgerkrieg also als Paradigma des 20. Jahrhun­derts zu fassen.H

Konsistenz und Ambivalenz

Kann es iiberhaupt eine europaische Erinnerung geben, zumal eine an das beispiellose Jahrhundert der Weltkriege? Schon nationale Historio- graphien tun sich schwer mit der Aufgabe, Biirgerkriegsvergangenheiten angemessen im Kernbereich der offentlichen Geschichtspflege zu veran- kern. Ob das heutige Europa mehr als Ы06 die Interessen einer politi- schen und okonomischen Zweckgemeinschaft verbindet, wird zwischen Briissel und Moskau, Madrid und Helsinki kontrovers diskutiert. Tony Judt spricht von der “groBen Illusion” europaischer historischer Koha- renz.15 Dennoch gehort die gemeinsame Aufarbeitung der Geschichte des 20. Jahrhunderts zu den zentralen Aufgaben der wissenschaftlichen For- schung, der historischen Bildung und der Geschichtspolitik. Der konzer- tierte Erkundungsprozess tragt zur kulturellen Identitat des Kontinents und zur Schaffung einer europaischen Gedachtniskultur bei.

Indessen ist eine “europaische Geschichtsschreibung” nur als Prozess vorstellbar. Wie jede Nationalgeschichte unterliegt sie mit dem Wechsel der Zeiten der Revision, um nicht in Schablonen zu erstarren. Ein “eu- ropaisches Gedachtnis” ist entsprechend nur als dynamische Auseinan- dersetzung mit nationalen und transnationalen Geschichtsbildern vor­stellbar. In Polen zieht man aus den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts andere Schliisse als in Russland, in Italien andere als in Frankreich, in Deutschland andere als in der Tschechischen Republik. Aus nationalen Geschichten iiber Widerstand (Resistance) und Befreiungskampf lasst sich zweifelsohne ein positives Geschichtsbild ableiten. Doch oftmals ge- lingt dies nur um den Preis der Ausblendung von Begleiterscheinungen wie Kollaboration oder Desertion. Diese konnen objektiv verwerflich sein, je nach Perspektive und Kontext aber auch legitim erscheinen. Ein Konsens hangt maBgeblich von einer verlasslichen Basis gemeinsamer Uberzeugungen ab. So setzte 1996 die Einrichtung des 27. Januar als Ge- denktag an die Befreiung von Auschwitz durch die Rote Armee im Jahre 1945 zunachst fur das geeinte Deutschland den Schlusspunkt unter einen langen historischen Aushandlungsprozess, der zugleich als transnationa- les Signal fiir Europa wirken sollte. Erst der konkrete Erinnerungsort und der zeitliche Fixpunkt schaffen die Voraussetzung fiir gemeinsames Erin- nern, das iiber den Tod der Zeitzeugen hinaus fortbestehen kann.

Die Konsistenz solcher Festschreibungen bedarf indessen auch der Erinnerung an die Ambivalenzen der Geschichte. Was nachtraglich als Heldentat gewiirdigt wird, war den Zeitgenossen nicht unbedingt einseh- bar und bewusst oder geschah unter Umstanden, die ein sachliches Urteil verhinderten. Was nachtraglich vorbildhaft erscheint, blieb in der Zeit oftmals verborgen, unterlag ganz anderer Wahrnehmung oder wurde als Abweichung vom Verhalten der Mehrheit denunziert. Selbst Siege wie der der Roten Armee in Stalingrad reihten sich zunachst in den Kriegsfluss ein. Sein auBerordentlicher Rang erschloss sich erst nach und nach. Da er durch drakonische Disziplin und unter hohen Verlusten errungen werden musste, hinterlieB er neben Triumphgefiihl und Stolz auch Trauer und Traumata. In die Genugtuung iiber die vollbrachte Leistung mischte sich Entsetzen iiber die Umstande des Erfolgs. Wie schwer muss es gefallen sein, liber diesen Erinnerungen die Tragodie des Gegners anzuerkennen? Die Stadt an der Wolga ist aber nicht nur wegen der Ereignisse von 1943 zum denkwiirdigen Ort auf der Landkarte des Jahrhunderts geworden. Sie war schon 1919 im russischen Biirgerkrieg — noch unter dem Namen Caricyn — wegen ihrer strategischen Bedeutung Schauplatz erbitterter Kampfe und einer Entscheidungsschlacht gewesen. Hier iiberlagern sich also in besonderer Weise hochst verschiedene und widerspriichliche Er- innerungssedimente. Innerhalb einer Generation durchlebten die Bewoh- ner den inneren und den auBeren Krieg, das Drama des Hungers nach der Kollektivierung und den GroBen Terror. Nach welchen MaBstaben ordneten sie dieses Geschehen, gaben ihm einen Sinn, schopften aus ihm die Kraft zu iiberleben?

Historiker forschen nach gesichertem Wissen und bemiihen sich um sachliche, ausgewogene Urteile. Die Geschichte der Weltkriege und der Biirgerkriege ringt ihnen trotz jahrzehntelanger Distanz zum Geschehen oftmals aber auch moralische Bekenntnisse ab. Denn die Dimensionen der Gewalt, die Komplexitat der Motivlagen von Tatern und Opfern und die Verflechtung der Nationalgeschichten machen Objektivitat und Niich- ternheit zu schwer einlosbaren Anspriichen. Kontroversen sind fur die His- toriographie des 20. Jahrhunderts konstitutiv, weil sie den Asymmetrien der Wahrnehmung und der Multivalenz des Geschehens entsprechen. Unterschiedliche Erfahrungen und Wertungen konnen nicht aufgehoben werden. Sie konnen wohl am besten durch “dialogisches Erinnern” repra- sentiert werden, durch einen “Konsens im Dissens” (Aleida Assmann). Eine europaische Geschichtsschreibung entsteht wohl nicht aus der Sum- me nationaler Geschichtsmonologe. Rechenschaft iiber das Jahrhundert der Weltkriege und Biirgerkriege abzulegen, bleibt eine aktuelle Aufgabe transnationaler Wissenschaft. Das “Patchwork der Erinnerungen” muss nicht in einer europaischen Meistererzahlung aufgehen. Es steht symbo- lisch fiir eine unendliche, teilweise auch unerklarliche Geschichte. I

  1. Bilanzierend Ulrich Herbert: Der Historikerstreit. Politische, wissenschaftliche und bio- graphische Aspekte, in: Martin Sabrow, Ralph Jessen, Klaus Grofle Kracht (hrsg.). Zeitge- schichte als Streitgeschichte. GroBe Kontroversen seit 1945. Miinchen, 2003. S. 94-113.

  2. Peter Gatrell: A Whole Empire Walking: Refugees in Russia during World War I. Bloo­mington, 1999; Eric Lohr: Nationalizing the Russian Empire: The Campaign Against Enemy Aliens During World War I. Cambridge, 2003.

  3. Emil A. Pain (hrsg.). Ideologija “osobogo puti” v Rossii I Germanii: istoki, soderzanie, posledstvija. Moskau, 2010.

  4. Andreas Wirsching: Vom Weltkrieg zum Biirgerkrieg? Politischer Extremismus in Deutschland und Frankreich 1918-1933/39. Miinchen, 1999.

  5. Siehe etwa Aaron B. Retish: Russia’s Peasants in Revolution and Civil War. Citizenship, Identity, and the Creation of the Soviet State, 1914-1922. Cambridge, 2008; O. S. Porsneva. Krest’jane, rabocie i soldaty Rossii nakanune i v gody pervoj mirovoj vojny. Moskau, 2004.

  6. Schamma Schahadat. Extremer All tag. Russische Kriegstagebiicher im 20. Jahrhundert (Gippius, Bunin, Ginzburg, Lichaev), in: Plurale. Zeitschrift fur Denkversionen. 2008, H. 7. S. 181-212; Christa Ebert. Dichter-Ich versus Revolution. Autobiographische Revolutions- Berichte von Gippius, Cvetaeva, Bunin und Remizov, in: Jochen Hellbeck, Klaus Heller (Hrsg.): Autobiographical Practices in Russia - Autobiographische Praktiken in Russland. Gottingen, 2004. S. 197-222; Orlando Figes. Die Fliisterer. Leben in Stalins Russland. Berlin, 2008. S. 39-139; Dietrich Beyrau. Broken Identities: The Intelligentsia in Revo­lutionary Russia, in: Madhavan K. Palat (hrsg.). Social Identities in Revolutionary Russia. Basingstoke, 2001. S. 134-160.

  7. Siehe Alan Kramer: Dynamic of Destruction: Culture and Mass Killing in the First World War. Oxford 2008 sowie die Beitrage des von Andreas Wirsching und Dirk Schumann her- ausgegebenen ersten Hefts des erstenjahrgangs der Zeitschrift Journal of Modern European History unter dem Titel “Violence and Society after the First World War”.

  8. Michael A. Reynolds: Shattering Empires: The Clash and Collapse of the Ottoman and Russian Empires, 1908-1918. Cambridge, 2011; Robert Gerwarth: The Central European Counter-Revolution: Paramilitary Violence in Germany, Austria and Hungary after the Great War, in: Past and Present 200 (2009). S. 175-209.

  9. Peter Holquist: Violent Russia, Deadly Marxism? Russia in the Epoch of Violence, 1905- 21, in: Kritika. Explorations in Russian and Eurasian History 4 (2003). № 3. S. 627-652.

  10. Joshua Sanborn: The Genesis of Russian Warlordism: Violence and Governance during the First World War and the Civil War, in: Contemporary European History 19 (2010). №3. S. 195-213.

  11. Dazu, ausgehend von der revolutionaren Krise von 1905, etwa Alfred J. Rieber: Civil Wars in the Soviet Union, in: Kritika. Explorations in Russian and Eurasian History 4 (2003). № 1. S. 129-162. Vgl. Alexander V. Prusin: The Lands Between: Conflict in the East Euro­pean Borderlands, 1870-1992. Oxford, 2010. S. 177 ff.

  12. Tony Judt: A Grand Illusion? An Essay on Europe. New York, 1996.

VORLETZTE BRIEFE AUS DEM KRIEG: DER DEUTSCHE WEG NACH STALINGRAD

Jochen Hellbeck, Rutgers University, New Brunswick (USA)

Ich bin Fatalist, meine personlichen Bediirfnisse sind so gering, daft ich jeden Augenblick, wenn dererste Russe zur Tiir hereinkommt, meinen Rucksack nehmen und ihm entgegengehen kann. Ich werde nicht schieften, wozu auch? Um einen oderzwei zu toten, die ich nicht kenne? Ich werde mich auch nicht erschieften, warum auch? Erweise ich damit irgendjemandem einen Dienst, vielleicht Herm Hitler?

Ich bin schwer erschiittert und zweifle sehr an allem. Einst war ich glaubig und stark, jetzt bin ich klein und unglaubig. Vieles, was hier vor sich geht, werde ich nicht erfahren; aber das wenige, das ich mitmache, ist schon so viel, daft ich es nicht schlucken kann. Mir kann man nicht einreden, daft die Kameradenmit dem Worte “Deutschland” oder “Heil Hitler” auf den Lippen starben.

Zum Schluft das Personliche. Du kannst dich darauf verlassen, daft alles anstdndig zu Ende gehen wird. Ist ein bifichen frtih mit dreifiig Jahren, ich weft. Keine Sentiments. Handedruck fiir Lydia und Helene. Kuft fiir die Mama (vorsichtig sein, alter Herr, Herzfehler bedenken), Kuft fiir Gerda. Grundsatzlich Gruft an alle iibrigen. Hand an den Helm, Voter, Oberleutnant... meldet sich bei Dirab?

Dies sind Ausziige aus den “Letzten Briefen aus Stalingrad”, einer 1950 in Westdeutschland erschienenen Briefsammlung von Wehrmachtssol- daten aus dem Stalingrader Kessel an ihre Angehorigen in der Heimat. Vielfach nachgedruckt und in andere Sprachen iibersetzt, wurden diese Stimmen gleichsam aus dem Grab fiir lange Zeit mit der Erfahrung der deutschen Soldaten in Stalingrad gleich gesetzt. Fast alle dieser Briefe eint ein klares Bewusstsein von der sich abzeichnenenden militarischen Niederlage und dem Bruch im eigenen Leben, den diese mit sich brachte. Einige Soldaten verabschieden sich von ihren Angehorigen, andere klagen die Militarfiihrung und Hitler personlich an. Durchweg auBern sie sich als kritisch reflektierende, anstandige Menschen, deren einziger Fehler darin bestand, daB sie sich von ihren Fiihrern in die Irre hatten fiihren lassen.

Die Idee einer vom NS-Regime missbrauchten und sinnlos geopferten Armee entsprach der Wunschvorstellung vieler Deutscher vom Krieg, die in den Nachkriegsjahren florierte, der anhaltende Erfolg der Letzten Briefe aus Stalingrad iiberrascht daher auch nicht.2

In jungerer Zeit haben Forscher freilich die historische Echtheit der Briefedition in Zweifel gezogen. Nirgendwo lassen sich die Originalbriefe finden; misstrauisch stimmt auch, dab die in der Edition wiedergegebenen Brieffassungen von personlichen Namen, Feldpostnummern oder Daten getilgt sind. Diese Tilgung, so der anonyme Herausgeber, hatte die Нее- resfeldpost-Priifstelle der Wehrmacht vorgenommen, aus deren Bestan- den er die Briefe bezogen haben will. Das steht jedoch im Widerspruch zu anderen Stimmungsuntersuchungen der Priifstelle, bei denen Namen und Daten der Verfasser ausdriicklich genannt werden. Zu denken gibt ferner der ahnungsvolle Blick der meisten Briefeschreiber auf das sie harrende Schicksal. Ihre Beschworung von Stalingrad als einem tiefen Einschnitt oder Bruch in ihrem Leben scheint einem nachtraglichen Wissensstand zu entspringen. Konnten die in Stalingrad eingeschlossenen deutschen Soldaten so denken?3

Ungeachtet der gegen diese Edition vorgebrachten Bedenken fas- ziniert die Gattungsform der “letzten Briefe aus Stalingrad” weiterhin. Anfang der neunziger Jahre begann Walter Kempowski sein monumen- tales Echolot-Projekt, einen aus Briefen und Tagebuchern montierten vielstimmigen Chor, mit den Monaten Januar und Februar 1943, also dem Zeitraum der deutschen Niederlage in Stalingrad. Zum 60. Jahres- tag der Einkesselung und Vernichtung der Sechsten Armee richtete der Deutschlandfunk eine Sendestaffel ein, in der von Lesern eingesandte unveroffentlichte “Feldpostbriefe aus Stalingrad” verlesen wurden. Eini- ge dieser Briefe fanden Eingang in eine namensgleiche Edition von Jens Ebert (2006), die zusatzlich deutsche Soldatenbriefe aus den Bestanden des Wolgograder Panorama-Museums aufnahm.4 All diesen Initiativen ist gemein, dab sie mit “Stalingrad” den Kessel von Stalingrad meinen und nur Briefe und Stimmen aus der Zeit nach dem Beginn der sowjetischen Gegenoffensive vom 19. November 1942 beriicksichtigen. Diese Engschau macht die deutschen Soldaten zu Opfern — gleichgiiltig, wie sehend oder unwissend sie in ihr Ungliick gingen5 Stalingrad bleibt weiterhin vom Ende her gedacht.

Eine wirklich historische Perspektive hingegen muss die Erfahrungs- geschichte von Stalingrad mit offenem Ende schildern. Sie kann sich nicht auf die letzten Briefen beschranken oder mit ihnen beginnen, sondern muss sich auch die ihnen vorhergehenden Mitteilungen beriicksichtigen, um zu zeigen, mit welchem gedanklichen Riistzeug deutsche Soldaten sich auf Stalingrad zu bewegten. Die umkampfte Stadt an der Wolga war im Herbst 1942 in aller Munde, nicht mit Blick auf einen moglichen deut­schen Untergang, sondern als Sinnbild fur den scheinbar unaufhaltbaren

Eroberungsdrang des Dritten Reiches. Die dieser Eroberungspolitik zu- grundelegende und von ihr weiter genahrte Hybris muss mit in den Blick genommen werden, wenn man die Erfahrungshorizonte von deutschen Soldaten in Stalingrad ausmessen will.6

Dieser Beitrag weitet nicht nur die zeitliche, sondern auch die raum- liche Linse, indem er soldatische AuBerungen mit Stimmungen in der Heimat in Verbindung bringt. Die Schlacht von Stalingrad wurde in Deutschland mit groBter Aufmerksamkeit verfolgt, in erster Linie von den Vatern, Miittern, Geschwistern und Ehefrauen der an der Ostfront kampfenden Soldaten. Ihnen galten die meisten der in Stalingrad verfass- ten soldatischen Briefe. Hier soil die Gedankenwelt von zwei deutschen Zeitzeugen exemplarisch vorgestellt werden, zum einen des an der Ost­front kampfenden Artilleristen Helmut Hartmann (1915-1943), dessen Briefe an einen ehemaligen Studienfreund in Deutschland tiefe Einblicke in die Gedankenwelt eines Frontkampfers von den ersten Tagen der Inva­sion der Sowjetunion bis hin nach Stalingrad geben; und zum anderen des Oldenburger Lehrers Rudolf Tjaden (1895-1981), der die Ereignisse um Stalingrad in seinem Kriegstagebuch verfolgte. Als iiberlebender Teilneh- mer des Ersten Weltkrieges kommentierte Tjaden den Beginn und Ver- lauf des Zweiten Weltkrieges mit einem bis nach 1914 zuriickreichenden Erfahrungshorizont. 1942 wurde sein altester Sohn Enno in den Kriegs- dienst berufen und wenige Monate spater an die Ostfront verlegt.7

In der Zusammenschau verdeutlichen die beiden Quellen die Ein- schaltung von gebildeten und reflektierenden Menschen unterschiedli- cher Generationen in die Eroberungspolitik des Dritten Reichs. Der al- tere Tjaden verfolgte den Zweiten Weltkrieg als Fortsetzung einer schon im Kaiserreich angebrochenen neuen historischen Epoche; viele seiner Uberlegungen — vom Wirtschaftskrieg bis hin zu Stalingrad als einem “zweiten Verdun” — waren von Erfahrungen aus dem Ersten Weltkrieg gepragt, trugen zugleich aber auch deutlich nationalsozialistische Ziige. Der wesentlich jungere Frontkampfer Hartmann verflocht riickhaltlos groBdeutsche Kolonialinteressen und die Vernichtung der von ihm als rassisch minderwertig angesehenen Volker im Osten. Sowohl Hartmann wie Tjaden schrieben in Erkenntnis ihrer besonderen geschichtlichen Verantwortung — beide sahen sich als Zeitzeugen und Akteure eines weltgeschichtlichen Geschehens. Ihre Stimmen waren kongruent mit de- nen von nationalsozialistischen Propagandisten, die deutsche Soldaten und ihre Familien dazu anhielten, alle personlichen AuBerungen iiber den Krieg sorgfaltig zum Nutzen kiinftiger Generationen zu sammeln.

Hierzu ein Beispiel: Wahrend der Kriegsjahre wurden in deutschen Schreibwarengeschaften speziell angefertigte Kladden zum Aufbewahren von “Feldpostbriefe(n), welche die Heimat erreichten”, verkauft. Ein von einem “Oberstudiendirektor Prof. J. K. Brechenmacher” in die Kladde ge- heftetes Geleitwort informierte Kaufer iiber die geschichtliche Bedeutung dieser Briefe, die von ihren Adressaten sorgfaltig aufzubewahren seien:

Feldpostbriefe!

Zu Hunderttausenden flattern sie taglich heimatwarts, diese grau- en, oft nur fliichtig mit Bleistift hingekritzelten Feldpostbriefe. Von den auBersten Borden deutschen Lebens kommen sie, wo, iiber endlose Fronten verstreut, unsere Feldgrauen in schicksalschwerem Kampfe stehen. In der sengenden Glut der afrikanischen Wiiste sind die einen, in den trostlosen Eisfeldern RuBlands die andern geschrieben. ...Viel- leicht ist Dir die Kraft Deutschlands, die GroBe des Vaterlandes nie so heftig ins BewuBtstein getreten, als da Du zum erstenmal diese Zei- len iiberflogst, die Dich zum Zeugen unerhorten Geschehens machten. Welch beispielloses Leben durchpulst diese schlichten Mitteilungen! ... Einst haben diese Blatter, die Du aufschichtest und sorgsam hiitest, Front und Heimat verbunden. Aber kommen wird der Tag, wo die­se fernen Fronten nicht mehr sind, wo der befreiende Friede, um den wir kampfen, neue Geschlechter herauffuhrt. Und dann ist die Zeit, wo diese Feldpostbriefe nicht mehr den einzelnen mit seiner Sippe, sondern das Volk selber mit einer groBen Vergangenheit verbinden. Feldpostbriefe sind Urkunden, sind Geschichtsdenkmaler. ... Heute sind diese Briefe fur Dich geschrieben, morgen gehoren sie dem Vol- ke. Fernen Geschlechtern werden sie Bausteine der Geschichte sein. Darum muB ihrer Zerstreuung gewehrt werden; denn Zerstreuung ist Vernichtung. Dieses Buch will die leicht verwehten Blatter sammeln, will sie Deinem Geschlecht bewahren, will sie dem Volk erhalten!

Dieses Buch hiitet das Erbe einer Zeit ohne Beispiel!8

Im Kontext dieses normativen Rahmens lesen sich deutsche Briefe aus dem Zweiten Weltkrieg auf neue Art. Das nationalsozialistische Re­gime erinnerte Verfasser und Adressaten von Feldpostbriefen an ihre ge­schichtliche Mission. Diese Briefe wiirden eines Tages noch von fernen Nachfahren der gegenwartigen Weltkriegsgeneration gelesen werden als Bausteine eines siegreichen “GroBdeutschlands” und seiner rassereinen “Geschlechter”. Wieviele schreibenden Soldaten und ihre Angehorigen, die deren Briefe sammelten, von dem hier beschriebenen Bewusstsein um historische GroBe gelenkt wurden, ist schwer auszumachen, doch geben die NS-Vorgaben fur die Erforschung der Gedankenwelt von Soldaten mehr Aufschluss als es viele Nachkriegseditionen von “letzten Briefen” mit ihrer wahlweise heroischen oder antiheroischen Inszenierung zu leis- ten vermogen.9

Im September 1939 beginnt der Oldenburger Mittelschullehrer Rudolf Tjaden, er ist damals 44 Jahre alt, mit dem Schreiben eines “Kriegs- tagebuchs”. Den Zweck seiner Chronik erlautert er in der ersten Eintra- gung: “Die Zeit, in der unsere Generation lebt, hat schon Jahre gewaltiger Entwicklungen und hochster Spannungen gehabt, wie den Weltkrieg, die Jahre der nationalsozialistischen Revolution und der Entstehung GroB- deutschlands.” Leider habe er es versaumt, diese historische Zeit von ih- rem Anbeginn an fur die Nachwelt zu dokumentieren, doch wolle er nun endlich die Rolle des Chronisten ergreifen. Als Daheimgebliebener sei sei­ne Perspektive eingeschrankt, doch trostet Tjaden, daB im “totalen Krieg ja jeder mehr oder weniger beteiligt” sei.

Bemerkenswert ist, wie Tjaden aus der Ruckschau im Jahr 1939 die vergangenen funfzehn Jahre, eine an politischen Umbruchen und Rissen in seiner personlichen Biographie nicht arme Zeit, als eine geschlosse- ne Epoche begreift. Als Neunzehnjahriger hatte sich Tjaden im August 1914 freiwillig zum Kriegsdienst gemeldet. Schwer verletzt uberlebt er die Schlacht von Langemarck im Oktober 1914, in der Zehntausende an- greifende deutsche Rekruten im gegnerischen Sperrfeuer umkamen. Eine zweite Verwundung (“Kriegsbeschadigung”) an der Ostfront im Folge- jahr macht Tjaden kriegsuntauglich. Nach 1918 distanziert er sich em- phatisch von Krieg und Gewalt: er tritt der Deutschen Demokratischen Partei bei, einer der Stiitzen der Weimarer Republik, und wird 1925 Mitglied der Deutschen Friedensgesellschaft. Im Mai 1933 erfolgt ein erneuter Bruch: zeitgleich mit elf weiteren Mittelschullehrern der Stadt Oldenburg tritt Tjaden der NSDAP bei, wahrscheinlich in Reaktion auf politischen Druck, vielleicht auch aufgrund von opportunistischen Moti- ven.10 Die neuen nationalsozialistischen Machthaber hatten in den zuvor- gehenden Wochen den “Wunsch” geauBert, daB alle deutsche Schullehrer der NSDAP angehorten. Wie stark sich Tjaden in den Jahren danach in der NSDAP engagiert, ist nicht genau zu bestimmen, doch lassen seine im Tagebuch dokumentierten regelmafiigen Besuche von Parteiversammlun- gen auf ein betrachtliches Engagement schlieBen.11 Nicht zuletzt bezeugt auch Tjadens Projekt einer Kriegschronik eine bemerkenswerte Selbst- einschaltung in die deutsche “Bewegung”. Dieser Krieg ist auch Rudolf Tjadens Krieg. Ganz im nationalsozialistischen Geist und nicht anders als es Professor Brechenmacher den Sammlern von deutschen Feldpostbrie- fen empfahl, macht er sich daran, in taglichen Abschnitten das Buch der Vollendung der deutschen Geschichte zu schreiben.

Schon in den ersten Kriegstagen erweist sich Tjaden als ein pflicht- bewusster Teilnehmer des Totalen Krieges. Er versammelt die Bewoh- ner der von ihm betreuten “Luftschutzgemeinschaft” (vier Wohnhauser) und sammelt von ihnen Geld zur Beschaffung einer Luftschutzapotheke. Cber die anfangliche Kriegsphase hinweg, punktuiert von den Polen- und Frankreich-Feldzugen — zeigt sich Tjaden beruckt von den deutschen mi- litarischen Erfolgen. “Es ist gewaltig und im Augenblick in seiner ganzen Bedeutunggar nicht zu fassen,” kommentiert er mit Blick auf die unerreich- ten Ziele des Ersten Weltkriegs den siegreichen VorstoB der Wehrmacht auf Paris (4.6.1940). Anstelle von personlichen Kommentaren beschrankt sich Tjaden haufig darauf, ausfuhrlich aus den taglichen Wehrmachts- berichten zu zitieren, die er vermutlich der Zeitung entnimmt. Neben den Kriegsnachrichten halt Tjaden in seinem Tagebuch Begebenheiten aus seinem beruflichen und Familienleben fest, insbesondere das schwie- rige Eheleben mit seiner Frau Agnes, die haufig Streit entfacht und sich fiber ihren langweiligen Ehemann beschwert. Diese privaten Note sind fur Tjadens Einstellung zum NS-Regime und zu Hitler personlich nicht ohne Bedeutung. Ihm imponieren Hitlers Entschlusskraft und “unbedingte Zu- versicht,” Eigenschaften, die er fur die politische und militarischen Erfol- ge des “Fuhrers” fur essentiell halt. Dem gegentiber steht Tjadens eigene eingestandene Verzagtheit im privaten Leben. Wiederholt erwagt er, sich von seiner Frau scheiden zu lassen, lasst dann aber wieder vom Gedanken ab. Tjaden ist gefesselt, Hitlers Politik entfesselt.12

Tjadens Tagebuch macht deutlich, wie sich ein denkender deutscher Burger in die gewaltsame Kolonialpolitik des Dritten Reichs einschaltet. Ruckhaltlos bejaht er Hitlers aggressive Feldziige, die er als unabding- bar fur die volkische Einigung Deutschlands halt. Er denkt in den vom NS-Regime propagierten Kategorien von Kampfkraft, Versorgung und Ernahrung, notiert penibel die versenkten feindlichen Bruttoregisterton- nen sowie die wirtschaftlichen Ertrage der deutschen Eroberungszuge. Aus diesem Blickwinkel erkennt er die Vereinigten Staaten — und nicht etwa die Sowjetunion — als den Hauptgegner Deutschlands. Der Russ- landfeldzug ist aus seiner Sicht ein Wettlauf gegen die Zeit, von der ent- scheidenden Frage abhangend, ob es Deutschland gelingt, im Osten ein Imperium zu begrunden, das dem Wirtschaftswachstum der USA Stand halten kann. (“Roosevelt — dieser elende Kriegshetzer und Judenknecht!” 30.5.41).13 “Herzerfrischend” fur Tjaden ist die Rede von Reichsmarschall Goring zum Erntedankfest 1942, aus der er zitiert: “Wir sind heute in der gliicklichen Lage, dafi die gesamte deutsche Wehrmacht, gleichgultig, an welchen Fronten sie steht, aus den eroberten Gebieten allein verpflegt wird” (Eintragung vom 4.10.1942).

Hoffen vermischt sich mit Bangen. Wiederholt auBert Tjaden die Sor- ge, daB sich Deutschland in den unermesslichen Weiten Russlands “tot- siegen” konnte — “wie im vorigen Krieg”. “Werden Deutsche und Russen sich nicht gegenseitig zum Verbluten bringen und England und Amerika mit ihren geschonten Kraften dann die Sieger sein?” (25.5.1942) Als im September und Oktober 1942 die Wehrmacht taglich von der Stalingra- der Front berichtet, wachst Tjadens Befurchtung, die Stadt an der Wolga konne zu einem “zweiten Verdun” werden (10.9.1942). Seit Marz 1942 hat der Krieg fur Tjaden eine sehr personliche Komponente. Sein altes- ter Sohn Enno (geboren am 24.9.1923) wird als Soldat eingezogen. Im August 1942 gelangt er an der Ostfront in seinen ersten Kampfeinsatz. Tjaden befiirchtet, daG er nach Stalingrad verlegt wird.

Zu diesem Zeitpunkt ist Helmut Hartmann, geboren 1915, seit zwei Jahren als Artilleriesoldat im Feld. 1915 in eine Braunschweiger Lehrer- familie geboren, absolviert Hartmann ein Chemiestudium in Braun­schweig und wird 1939 in Freiburg promoviert. 1940 erfolgt die Einberu- fung in die Wehrmacht. Nach einer mehrmonatigen Ausbildung dient er bei der Besatzungstruppe in Frankreich, bevor er im Juni 1941 an die Ost­front verlegt wird. Hartmann ist ein reger Korrespondent — insgesamt sind 235 Briefe an seine Eltern, seine Schwester und einen Studienfreund erhalten geblieben, die Hartmanns Gedanken und Eindriicke vom Krieg in fast taglicher Abfolge festhalten. Dabei auGert sich Hartmann seinen wechselnden Adressaten gegeniiber auf unterschiedliche Weise. “Macht Euch um mich keine Sorgen”, ist der Grundtenor der Briefe an die Eltern, in denen Hartmann die Brutalitat des Krieges mit kaum einem Wort er- wahnt. Sentimental zeigt er sich in den Briefen an seine altere Schwester Gertrud, der er im Oktober 1941 aus Russland zu ihrer Verlobung gratu- liert. Eine ganz andere, kriegerische Stimme offenbart sich in den Briefen Hartmanns an den kiinftigen Schwager sowie an seinen Studienfreund Konrad Henkel. Ausfiihrlich gibt Hartmann hierin Auskunft liber den harten, mannhaften Kampf an der Front; er macht sich die aggressive Vi- rilitat zu Eigen, die zur Kernideologie des Nationalsozialismus gehort.14

Im Mittelpunkt stehen in diesem Beitrag die 71 erhalten gebliebe- nen Briefe Hartmanns an Konrad Henkel (1915-1999), der wahrend der Kriegsjahre als wissenschaftlicher Assistent bei Professor Richard Kuhn, dem Leiter des Kaiser-Wilhelm-Institut (KWI) fur medizinische For- schung in Heidelberg, arbeitete. Der Biochemiker Kuhn (1900-1967) hatte sich in den dreiGiger Jahren auf dem Gebiet der Vitaminforschung einen internationalen Namen gemacht und erhielt 1938 den Nobelpreis. Weitaus weniger bekannt sind Kuhns Erforschungen von militarischen Kampfstoffen, die er zur gleichen Zeit in Zusammenarbeit mit dem Heereswaffenamt zu intensivieren begann. Wahrend der Kriegsjahre lei- tete Kuhn in seinem Institut eine Kampfstoffabteilung, in der er vermit- tels des Studiums von “Antivitaminen” extrem lethale Nervengase produ- zierte. Unter Kuhns Leitung synthetisierte Konrad Henkel im Friihjahr das Nervengas Soman, das die damals bekannten Kampfstoffe in seiner todlichen Wirkung um ein Vielfaches iibertraf und noch bis heute zu den effektivsten chemischen Kampfstoffen zahlt. Im Karteiverzeichnis der Kampfstoffabteilung des KWI wurde Hartmann 1943 ebenfalls als Mitar- beiter aufgefiihrt. (Kuhn war zu keinem Zeitpunkt Mitglied der NSDAP, doch wurde ihm nach dem Krieg von vielen Seiten eine pro-nationalso- zialistische Gesinnung attestiert, und es ist inzwischen auch bekannt, dass er von todlich endenden Kampfstoffversuchen mit KZ-Haftlingen zumindest wusste, wenn er sie nicht sogar unterstiitzte. Er wurde jedoch nach dem Krieg von den Alliierten nicht belastet und trat erneut die Di- rektorenstelle des vormaligen Heidelberger KWI an, das nun in Max- Planck-Institut umbenannt wurde. Henkel ubernahm nach Kriegsende das familieneigene Henkel-Unternehmen und machte es zu einem welt- weit bekannten Chemie-Konzern.)15

An der Ostfront fungierte Hartmann als Vorgeschobener Beobachter (VB) in einem Artillerieregiment. In seinen Briefen an Henkel beschreibt er die Wirkung der sogenannten Raketenwerfer (“Nebelwerfer”), die sal- venweise bis zu sechs groBkalibrige Granaten (15 cm) mit verheerender Splitterwirkung feuerten. Als VB erteilte Hartmann die Feuerkomman- dos an die Batterie:

...Unser Feuerzauber begann am fruhen Nachmittag. Es war eine ef- fektvolle Schaustellung. Artillerie und Infanterie und Pioniere staun- ten unglaubig. Wie sich spater herausstellte, kostete die erste Salve 600 Russen das Leben. Eine grausige Waffe. Ftinf Minuten lang lieBen wir die Dinger abrauschen, dann war Totenstille. Feindliche Art. schwieg. Unsere Infanterie riickte fast ohne Widerstand liber die Dima. Bei der ganzen Sache war auch P[ropaganda-]K[ompanie] zugegen, so dass du demnachst in der Wochenschau alles bewundern kannst.... Heute liegen wir in einem Wald am Fluss, baden in der Duna und waschen uns seit einer Woche endlich wieder. Die toten Russen, die die Luft verpesten, haben wir gestern abend noch eingegraben. (8.7.1941)

Stolz schreibt Hartmann eine Woche spater, daB seine Artillerie- einheit seit dem Dunaiibergang von der Infanterie als “Mordregiment” tituliert werde (13.7.1941). Ende Juli kommt ein weiterer Name hinzu: “Schlachterzug” (31.7.1941).

Beim Oldenburger Lehrer Rudolf Tjaden schimmert der imperia- listische Blick auf Russland nur durch; der im Osten kampfende Soldat Helmut Hartmann ist von ihm durchdrungen:

“ Vier Wochen keine heile Stadt gesehen, kaum Menschen, die Rus­sen betrachtet man wie einen Niggerstamm. Man lebt, um zu vernich- ten. Und schiitzt sich vor dem Vernichtet-werden.” (20.7.1941).

“Aber bis zum Ural kommen wir nicht. Ich glaube, daB man hier eine diinne Widerstandslinie aufbauen wird, die hier uberwintert. Das ubrige tut der Winter. Bei der Verkehrsfeindlichkeit des Landes und bei der Zentralisierung auch der Landwirtschaft wird bestimmt eine Hungersnot groBten AusmaBes auftreten. Im nachsten Fruhjahr dtirf- te dann das Land reif sein, von uns wieder in geordnete Verhaltnisse gefuhrt zu werden.” (31.7.1941)

Hartmanns vertritt scharf antibolschewistische Uberzeugungen (Henkel gegeniiber erwahnt er auch, was er seinen Eltern und seiner Schwester gegeniiber verschweigt: “Eine Woche lang war es so iiblich, daB wir jeden Morgen zum Fruhstuck einige politische Kommissare zu erschiefien hatten.” 9.8.1941), doch will er ausdriicklich nicht als Nazi missverstanden werden:

Man weiB einfach, hier kampft das Gute gegen das Bose, die Ver- nunft gegen den Wahnsinn, denn Bolschewismus ist ins teuflisch- geniale gesteigerter Wahnsinn. — Ich werde noch zum Propagandisten der NSDAP? О nein, nur hatte ich nie geglaubt, daB das Bild, was man uns von Russland malte, durchaus nicht an die diistere Wirklichkeit heranreicht. (14.9.1941)

Auch der “sogenannte ,einfache Mann‘,” betont er, vertrete diese Auf- fassungen: “Dieser Krieg ist viel mehr als ein nationaler Krieg. Gewiss kampfen wir hier zuerst einmal fur das Reich, aber die Fruchte unseres Sieges tragt einst die gesamte Menschheit, denn wir Soldaten der Arme- en im Osten vernichten nicht nur einen furchtbaren Feind Deutschlands, sondern erschlieBen ein riesiges, reiches, aber ungenutztes Land den Men- schen.... Fur mich war es besonders interessant festzustellen, wie hoch der deutsche Soldat seine kulturelle Mission einschatzt. (18.7.1942)

Mit diesen rassisch-kolonialistischen Vorstellungen im Gepack ge- langt Hartmann im Spatsommer 1942 nach Stalingrad, wo er ab Septem­ber am sogenannten Nordriegel eingesetzt ist. In einem Brief an Henkel lobt er die “erstaunliche seelische Verfassung” der einfachen Truppe:

Man flucht, man schimpft und ist in einsamen Stunden wohl auch mal erfullt von trtiben Gedanken, aber an Resignation, an Verzweiflung, an ein Zerbrechen der Zuversicht und der Widerstandskraft ist nicht zu den- ken! Egal was kommt, wir halten aus! ... Diese wunderbare innere Starke geht so weit, das sich die Sorgen der Manner nur mit der Heimat befassen. Die zu Hause sollen keinen Mist machen und meckern und schwarzsehen, sagte neulich ein Infanterist neben meiner B-Stelle im Schutzenloch, als er wahrend einer Kampfpause (es war gerade ein toller Russenangriff ab- geschlagen) das MG aus der Hand legte und den letzten Brief von seiner Frau offnete und las, die ihm von einigen Versorgungsschwierigkeiten erzahlte. Und dann meinte er, wenn wieder ein biBchen Ruhe ist, muss ich ihr mal diesen Krieg klarmachen, wir hier im engen Loch wissen doch tatsachlich mehr von der Welt als die zu Hause mit Radio, Kino, Zeitung usw. Und dann begann er mit seinem zweiten Schiitzen eine lange Unter- haltung iiber den Zweck des Krieges. Die beiden waren einfache westfa- lische Industriearbeiter. Dieses kleine Erlebnis ist typisch und muss ver- allgemeinert werden. Muss man da nicht stolz sein, daB man Deutscher ist? Diese Haltung ist namlich kein Produkt einer Zwangserziehung. Das geht alles weg hier drauBen. Sie gehort zum Wesen dieser Menschen! (17.9.1942)

In Oldenburg verfolgt zur gleichen Zeit Rudolf Tjaden gebannt die Kampfe um Stalingrad. Am 5. Oktober erhalt er einen Brief von Enno, in dem dieser mitteilt, daB er nach drei Wochen Schonzeit nach Char- kow verlegt werde. Mitte Oktober werde er wohl die kampfende Trup- pe erreichen. “Eine sehr erfreuliche Nachricht!!”, kommentiert Rudolf Tjaden in seinem Tagebuch. Er hofft, daB das blutige Ringen um Stalingrad bis dahin beendet ist. Doch kehren seine Sorgen in den darauffolgenden Wochen wieder — Stalingrad will nicht fallen. Am 22. November merkt Tjaden auf. Der Wehrmacht-Bericht meldet “erbitterte Abwehrkampfe” im “Raum sudlich Stalingrad und im groBen Donbogen.” Tjaden ahnt, daB ein russischer GegenstoB erfolgt ist: “Was bedeutet ‘im Donbogen?’ Sind die Russen wieder fiber den Don vorgedrungen?” Am 8. Dezember fragt er sich, warum Stalingrad nicht mehr im Wehrmachtbericht erwahnt werde. Auf dem stadtischen Postamt, so erzahlt eine Bekannte, auBerten sich die Menschen ebenfalls verwundert darfiber, daB Stalingrad aus den offiziel- len Nachrichten verschwunden sei (9.12.1942). Am 11. Dezember, nach wochenlangem Schweigen, “endlich ein Luftpostbrief von Enno,” vom 20. November: “Habe keine Zeit, fahren gleich fort — nach Westen,” schreibt Enno in knappen Worten. Die Angabe “nach Westen” lasst Tja­den unkommentiert. Mit “grofier Erleichterung” reagieren Tjaden und seine Frau Tage spater auf ein weiteres Lebenszeichen von Enno, eine Postkarte vom 3. Dezember:

Meine lieben Eltern! Endlich, nach langer Zeit, ist es mir wieder moglich, Euch einen GruB zu senden. Die letzten Tage werden nicht ganz leicht fiir Euch gewesen sein, aber ich konnte nicht eher schrei- ben. Die Griinde erfahrt Ihr spater.... Vom Kriege selber habe ich noch nicht viel erlebt. Trotzdem haben wir alle Hande voll zu tun. Essen und Bekleidung ist geniigend vorhanden. Also feiert ein frohes Weih- nachtsfest und denkt nicht so viel an mich. Herzliche Grfifle Euer Enno.

Es folgen in den nachsten Wochen weitere Briefe des Sohnes, durch- weg zuversichtlich im Ton. Die Unruhe bei den Eltern nimmt jedoch ste- tig zu.16 Vor seiner Frau versucht Tjaden Ruhe zu demonstrieren (“Abends sitzt Agnes auf dem Klavierbock dicht vor dem Kachelofen und jammert fiber Enno und die Welt.” 11.1.1943), doch die Wehrmachtberichte, die Mitte Januar erstmals wieder fiber Stalingrad berichten, stimmen ihn hoffnungslos:

“Die unter schwierigsten Bedingungen kampfenden deutschen Truppen im Raum von Stalingrad hielten in zaher Ausdauer und ver- bissenem Kampfwillen weiteren starken Angriffen stand.”... So nieder- driickend hat noch nie ein WB. geklungen. Wenn Enno mit im Kessel von Stalingrad sitzt, und das ist wohl sicher, wie soil er da wieder her- auskommen? Auf Agnes und mich haben die WB. der letzten drei Tage wie Keulenschlage gewirkt. Wir konnen nichts mehr anderes denken und reden. (18.1.1943)

Am 21. Januar dann ein weiterer Brief von Enno, datiert auf den 7. Januar — es sollte sein letztes Lebenszeichen bleiben: “Der Krieg ist hier wirklich in ein Stadium getreten, in dem er jeder Romantik entbehrt. Das Schlimmste ist immer noch, daB wir bei weitem nicht genug zu essen haben.” Seine Beschreibung des Kampfgeschehens (“Hier liegen nun die Menschen sich auf der unendlichen Steppe gegeniiber in all der grimmigen Kalte und bekampfen sich. Auf welcher Seite im Augenblick die groBeren Chancen sind, kann ich nicht sagen.”) beschlieBt Enno mit den Worten: “Unsere Hoffnung auf Entsatz, mag er noch einen oder vier Monate auf sich warten lassen, ist unerschiitterlich.” “Der Brief,” so kommentiert Rudolf Tjaden, “ist eine kleine Beruhigung fur uns, wenn wir auch wissen, daB die schweren Kampfe erst um den 10.1. herum anfingen.”

Die niederschmetternden Wehrmachtsberichte der folgenden Tage, aus denen Tjaden weiterhin zitiert (“In Stalingrad heftet die 6. Armee in heldenhaftem und aufopferndem Kampf gegen erdriickende Ubermacht unsterbliche Ehren an ihre Fahnen”, Mittags-WB vom 25.1.1943), neh- men ihm jegliche Hoffnung, seinen Sohn lebend wieder zu sehen. Es kommt ihm bei der Lekture der Meldungen vor, als lese er “den Grab- gesang [seines] Jungen und seiner Kameraden” (24.1.1943). Die Reden von Hermann Goring, gipfelnd in der Beschworung des Heldentods von Leonidas und den 300 Spartiaken, und Joseph Goebbels zum zehnten Jah- restag der nationalsozialistischen Machtergreifung machen Tjaden zor- nig. Es ist ihm nun klar, “daB die Kampfer von Stalingrad bewuBt geop- fert worden sind! Und darunter auch unser armer Enno! Geopfert durch Unfahigkeit — oder Gewissenlosigkeit der Fuhrung, das ist die Frage!” Unklar ist sich Tjaden nur daruber, welcher der Staatsfuhrer die Schuld tragt: “der Fuhrer mit seinem ‘Drang nach dem Osten’ oder Stalin mit sei­ner Idee der bolschewistischen Weltherrschaft? Man weifi es noch nicht und wird es wohl nie klar uberschauen konnen... Uber das letzte Kampfen, Leiden und Sterben unseres Jungen werden wir nie etwas erfahren. Er starb als ein Opfer des Wahnsinns, der die Welt beherrscht, der ihr einge- impft wurde durch ihre sogenannten ‘Fuhrer’.” (30.1.1943)

Der Verlust ihres Sohnes fiihrt bei beiden Eltern zu einer umfassen- den, auch politischen Krise — ihre Loyalitat zum nationalsozialistischen Regime ist erschiittert. Rudolf Tjaden notiert am 11. Februar einen Streit mit einem Hauptmann, der wegen seiner Tochter zum Schuldirektor kam in Tjadens Gegenwart “soldatische Siegeszuversicht” demonstrierte und davon sprach, wie gut es sei, “daB jetzt wieder ‘Bewegung in die Fron- ten’ gekommen sei. Worauf ich ihn anschreie, ‘Schone Bewegung, wenn eine Armee zuriickgelassen werden mufi, daB sie abgeschlachtet wird!’ ... Ich muss mich dann erst einige Minuten sammeln, um in das Physik- zimmer zum Unterricht gehen zu konnen. ... Agnes spricht offentlich bei Reil von den ‘Braunhelden, die die Jugend aufgewiihlt hatten und in den Krieg schickten, wahrend sie selbst sich in der Heimat herumdruckten.’ ‘Schickt mich nur ins Konzentrationslager oder schieBt mich tot, mir ist alles egal!’ sagt sie, als man sie beruhigen will.” Seit Februar 1943 tragt Tjaden auch nicht mehr sein Parteiabzeichen; freilich besucht er die Ver- sammlungen der Parteizelle weiterhin (14.2.1944). Tjaden sieht sich als einen schwachen AuBenseiter in der deutschen Offentlichkeit — er spurt den illegitimen Charakter seiner regimekritischen Ansichten und hiitet sich, sie offentlich zu auBern. Was er denkt, entspringe nicht dem “gesun- den” Volksempfinden.

Trotz der kritischen Gedanken in Tjadens Tagebuch ware es verkehrt, ihn als verkappten Gegner nationalsozialistischer Herrschaft zu apostro- phieren. Tjaden bleibt auch nach Stalingrad aus verschiedenen Grtinden ein loyaler Anhanger des NS-Regimes. Ganz besonders schweiBt ihn die Angst vor dem Bolschewismus mit Deutschlands Machthabern zusam- men.17 Bereits am 1. Januar 1943 schreibt er tiber die schwere, “wenn auch durchaus nicht hoffnungslos(e)” militarische Lage: “Jeder glaubt jetzt, daB der Krieg noch jahrelang dauern wird. Jeder weiB aber auch, worum es geht, namlich daB wir alle dem fiirchterlichsten Schicksal ausgeliefert sind, wenn wir verlieren. Darum wird alles Schwere im allgemeinen mit bewundernswerter Ruhe und Gelassenheit getragen. (Trotzdem auch manchmal gewaltig geschimpft wird.) Aber — wir mussen hindurch!” (Eintragung vor dem 1.1.1943). Sechs Wochen spater kommentiert Rudolf Tjaden das Schicksal seines in Russland verschollenen Sohns mit den Worten: “Heute sagt man manchmal sogar: “Er hat sein Stalingrad hinter sich, wir haben es vielleicht — noch vor uns...” (15.2.1943) Wenig spater notiert er die Erzahlung eines Lehrerkollegen, der von einer Ostar- beiterin, einem “russischen Madchen, das hier in einer Familie arbeitet,” gehort habe: “’Herrin gut. Wenn RuBki kommt, will ich dafiir sorgen, daB sie gleich totgeschossen und nicht erst gequalt wird’. Ahnliches hat man schon ofter gehort. Und die Sorge, was geschehen wiirde, wenn die Bol- schewisten ins Land kamen, hat schon viele gepackt.” (23.2.1943)18

Tief besorgt verfolgt Tjaden die Vorgange an der Ostfront als Teil eines globalen Ringens um rassische und kulturelle Vorherrschaft: “Wie sollen wir siegen? Wenn es im Osten so weiter geht: im Sommer vor- warts, im Winter riickwarts — dann mufi der Deutche mit den Jahren zu- erst ausgeblutet sein. Dann ist Europa dem Bolschewismus ausgeliefert, einschliefilich England. Und der Schuft fallt uns jetzt in den Rticken!” (1.2.1943) Bis in den Herbst 1942 hinein glaubte Tjaden, daB die Verei- nigten Staaten Deutschlands Hauptgegner seien. Ab Stalingrad richtet sich sein Hauptaugenmerk auf Russland.

Als Teil dieses Ringens erteilt Tjaden den demographischen und ras- senpolitischen Zielen des Nationalsozialismus — eugenische “ Aufwertung” des deutschen Volks, Vernichtung von rassenfremden Elementen — seine Zustimmung. Hitler kritisiert er dafur, genau diesen Prinzipien durch sei­ne unuberlegte Eroberungspolitik zu schaden:

Vor einigen Tagen sagte eine Dame, Hitler habe bisher in allem gerade das Gegenteil von dem erreicht, was er gewollt habe: Statt Ver- mehrung des Volkes gefahrlichste Verminderung, statt Aufnordung Entnordung durch den Tod der Besten, statt Rassenreinheit starke Vermischung durch die Anwesenheit der vielen Fremden in Deutsch­land, statt Erhohung des Lebensstandards gewaltige Senkung u.s.w. Und heute spricht er sogar in der Proklamation zum 23. Grundungstag der Partei von der “Ausrottung des Judentums in Europa”, als wenn er sich noch nicht genug Feindschaft zugezogen hatte, in einem Augen- blick, wo er grofite Muhe hat, sein eigenes Volk vor der Vernichtung zu retten. Warum halt er nicht den Mund uber solche Dinge! Und fur so etwas sollen wir unsere Sohne opfern! (25.2.1943)19 In seinem Tagebuch notiert Tjaden weiterhin den Verlauf des Wirt- schaftskrieg. Zumeist haben seine Eintragungen einen fatalistischen An- strich (“2.6.43 WB ... Im Mai 76 Schiffe mit 430 000 BRT versenkt. — Zu wenig!”), ab und zu gibt er sich hoffnungsvoll, so etwa, als er einen Be- richt des Vblkischen Beobachters uber die zuruckgehenden Geburtsraten in England best (16.7.1943). Noch im Januar 1945 — die Rote Armee steht bereits an der Oder — beschaftigen Tjaden Gedanken uber Geopoli- tik, Weltwirtschaft und Demographie. Nach der Lektiire eines Buchs des osterreichischen Journalisten und “Rohstoff-Bestseller”-Autoren Anton Zischka stellt er Berechnungen uber “Lebensraum auf der Erde” und Fra- gen der menschlichen Ernahrung an und kommt zu einer iiberraschenden Einsicht:

Der Mensch braucht an Nahrung taglich 3000 Kalorien, jahrlich 1 100 000. Zuckerruben liefern 6000 Kal. auf 1 qm. Danach benotigt — theoretisch genommen — ein Mensch nur 183 qm zum Leben. Das ist in der Praxis naturlich anders, aber Zischke (sic) gibt viele Hinweise, wie sich die Landwirtschaft noch ungeheuer starker intensivieren lasst. Also Raum genug hat die Erde fur ihre Bewohner, ubergenug sogar. Und anstatt dafi die Menschen diesen auszunutzen versuchen, zerflei- schen sie sich gegenseitig durch ungeheure Kriege. (17.1.1945)20

Zuriick zu Helmut Hartmann in Stalingrad. Am 17. November 1942 berichtet er Konrad Henkel von einem weiteren Stellungswechsel und dem miihseligen Bunkerbau in der offenen Wintersteppe, in der fast nir- gendwo Holz aufzutreiben sei (“Holz muss von weit uber 100 km heran- geschafft werden! Heute sind wir soweit in der Erde, dass wir die Locher abdecken konnen, falls Holz kommt”.) Doch auBert er die Zuversicht, in den von der Truppe “hervorgezauberten... behaglichen Eigenheimen” uberwintern zu konnen. Zwolf Tage spater dann der nachste Brief, in dem Hartmann auf die wenige Tage zuvor gelungene sowjetische Einkesselung der Sechsten Armee anspielt:

...Wenn Du den Brief erhaltst nach vielen Wochen vielleicht, dann denke einmal an die Wehrmachtsberichte der letzten Novembertage, und Du wirst meine seltsame Stimmung, in der ich die Zeilen schreibe, verstehen. Es ist so schwer, jetzt iiberhaupt Worte fur einen Brief zu finden! Vor die Zukunft haben sich ganz dichte Schleier gezogen, so- wohl vor die Zukunft der Deutschen Welt, als auch vor die Zukunft, die “morgen” heifit, oder “in wenigen Stunden”. (29.11.1942)

Unterwegs, berichtet Hartmann, habe seine Truppe “etwas Weizen ge- funden”, “eine Packtasche voll.” Detailliert beschreibt er, wie sie aus dem Blechdach eines zertrummerten Schuppens, aus Brettern, einem Stuck Rundholz und Hufnageln eine primitive Muhle bauten (“Bauzeit eine halbe Stunde”), um die 20 Pfund Korn zu mahlen, und welchen “Kuchen” (seine Anfiihrungsstriche) sie damit in einer fur diesen Zweck ebenfalls hergestellten Pfanne buken. Im Anschluss daran kommt er wieder auf die militarische Lage zu sprechen:

...Die Russen haben noch einmal alle Reserven zusammengerafft und an einige schmale Streifen unserer langen Front geworfen. DaB dabei ein Durchbruch gelang, wurde schon im WH-Bericht gemeldet. Die Tatsache ist nicht weiter verwunderlich und auch im ganzen gese- hen nicht tragisch zu nehmen. Wir als Schwerpunktswaffe allerdings mussten heraus aus den warmen Winter-Dauerstellungen, um zu hel- fen, den Schaden zu beheben. Nun wird wieder “gekesselt”. Die Russen uns, dann wir die Russen, weil wir doch die groBere Praxis und Routi­ne haben.... Weiter kann ich iiber die Lage nichts schreiben. Wenn Du den Brief erhaltst, diirfte sowieso schon alles wieder klar sein.

Auffallend an diesen Mitteilungen ist Hartmanns erster Verweis auf die “Zukunft der Deutschen Welt”, die durch den sowjetische Offensive in Frage gestellt sei. Diese Zukunft stellt er noch vor die Frage, was mit ihm selbst geschehen wird die er noch vor die Frage seiner eigenen Zu­kunft (“die Zukunft, die,morgen' heifit”) ruckt. Doch beruhigt er sich und seinen Briefpartner mit dem Gedanken, dafl die Deutschen aufgrund ihrer “groBeren Praxis und Routine” bei Kesseloperationen den sowjetischen Umfassungsversuch schadlos uberstehen wiirden. In diesem Zusammen- hang verweist er auf den deutschen Erfindungsgeist, die Fahigkeit, sich in jeder Notsituation kompetent zu behelfen, Getreidemuhlen zu fertigen, “Eigenheime” zu bauen und dabei guten Mut zu bewahren (“Du musst nicht annehmen, daB uns dieses Leben nun so bedruckt, daB wir mit sor- genvollen Mienen herumlaufen und unseren Zustand bejammern. Keine Spur! Der Humor bltiht wie in alten Zeiten.”).

Am 14. Dezember verfasst Hartmann einen weiteren Brief, ein bemer- kenswertes Zeugnis. Detailliert skizziert er die kunftige Rolle Russlands als Rohstofflieferant fur ein siegreiches Deutschland:

Auch fur die chemische Industrie lasst sich hier viel unternehmen. Als wir im Herbst durch die machtigen Sonnenblumenfelder rollten, dachte ich schon daran, daB fur H[enkel] u. Cie. hier die Moglichkeit besteht, die gesamte Fettversorgung fur die Fabriken aus dem Os- ten sicherzustellen. An iiberseeischen Kolonien und damit an Корга oder an Walfang ist sicher in den nachsten Jahren noch nicht zu den- ken, wenn Ihr aber (vielleicht sogar vor endgultiger Beendigung des Russlandfeldzuges) hier im Osten einen Olfruchtanbau groBten Stils (Soja?) aufzieht, miisste man doch die beruhmte “Fettliicke” innerhalb von ein oder zwei Jahren schon schlieBen konnen. — Sicher eine Idee, die man bei Euch schon langst ins Auge gefasst hat. Aber ich schreibe Dir davon, weil es mir als “Russlandkenner” (das sind wir wohl inzwi- schen geworden) Freude machen wiirde, so etwas hier fur Euch einmal aufzuziehen. Also ein vorubergehendes Uberwechseln von der che- mischen Forschung zur Betriebswirtschaft. In so einem Brief lassen sich die erstaunlichen Erfolgsmoglichkeiten einer spateren Tatigkeit im Osten nicht beschreiben, man muss spater, falls es doch noch Ur- laub geben sollte, dariiber reden. Jedenfalls ist es hier moglich, ver- haltnismafiig selbstandig Unternehmungen groBten Stils in Schwung zu bringen, was mich naturlich machtig reizt. Man denke z.B. an die vorhin erwahnte Idee: riesige Sojafelder dehnen sich weithin, hiibsche kleine Dorfer mit Getreideflachen, Hackfrucht und Gemiisebeten und Obstgarten liegen darin wie Inseln. Eine StraBe verbindet die Inseln, munterer LKW-Verkehr herrscht. In jedem Dorfe ist eine Olmuhle. Abbau der Olfrucht, Absatzregelung, Lieferung von Ackergeraten usw. ist prachtig organisiert. Die Lastwagen mit Sojaol rollen zur nachsten Bahnstation. In der ersten Zeit kommt das Produkt von dort ins Reich, vielleicht kann man aber spater weitere Verseifung hier direkt im Lan- de durchfuhren. — Naturlich sieht die Wirklichkeit anders aus. — Was haltst Du davon, wenn wir beide uns spater fur einige Zeit nach dem Osten begeben? Habt Ihr eigentlich, vom Werk aus, meine ich, schon “Ostplane” laufen? ... Unsere Lage ist noch immer wie bisher. Es wird eine betriibliche Weihnacht geben fur uns. Aber auch das wird zu er- tragen sein. Dir und Jutta herzliche Griifie! Dein Helmut.

Die dramatische Versorgungslage und der Hunger der deutschen Soldaten in Stalingrad sind in dieser Fantasie von iippigen Gemiise- und Obstfeldern mit Handen zu greifen, doch frappiert nicht nur, dafi Hart­mann den Zusammenhang nicht verbalisiert, sondern dass bei ihm un-

verandert der Gedanke an Deutschlands Zukunft an erster Stelle steht. Es darum, die “Fettlucke” fur Deutschland zu schlieBen — die Fettlucke am eigenen Korper spart er mit Worten aus. Sehr deutlich macht dieser Brief ebenso wie Hartmanns folgender Brief vom 25.12.1942, sein letzter erhaltener Brief an Konrad Henkel, wie nachdriicklich sich Helmut Hart­mann ebenso wie Rudolf Tjaden als Kriegsteilnehmer in die Geschichte (womit sie immer die geschichtliche Bestimmung meinten) ihres Volkes einbanden und mit welcher Zuversicht (Hartmann) bzw. Alternativlosig- keit (Tjaden) sie der sich abzeichnenden Niederlage in Stalingrad begeg- neten. Ihre Stimmen fugen sich nicht ins Muster der “Fetzten Briefe von Stalingrad”.

25.12.1942

Fieber Konrad! Heute ist nun Weihnachten. So einsam, so allein, so abgeschlossen von aller Welt habe ich das Fest noch nie gefeiert.... Um zwei Uhr mittags beginnt bei uns bereits die Nacht. Als ich gestern Nachmittag vor dem Eingang zu meinem Bunker stand und iiber die bizarre in blauweiBes Mondlicht getauchte Fandschaft schaute, in der nur ein hier und dort aus dem Boden tauchendes schwarzes Ofenrohr, das fahlen Qualm und rote Funken spie, die Gegenwart von Menschen verriet, und daran dachte, daB zu gleicher Stunde daheim im Reich in alien Wohnungen in warmen Stuben die Kerzen am Weihnachtsbaum angeziindet werden, wuchs die Sehnsucht nach dem anderen Feben in der anderen Welt ins Unertragliche. Frostelnd kletterte ich die Stu- fen in meinen kleinen Erdbunker hinab. ... Obwohl die Stunden dazu angetan waren, haben wir versucht, am heiligen Abend nicht in dump- fe Melancholie zu versinken, sondern mit unseren primitiven Mitteln dem Raum ein etwas festliches Aussehen zu geben und uns so in weih- nachtliche Stimmung zu versetzen. ... Und es ging! ... Unsere Ernah- rung ist eben recht einseitig und vitaminarm. Zum ersten Male kann ich das Auftreten typischer Avitaminosen am Menschen beobachten. Vit. A und C-Mangel macht sich am auffallgsten bemerkbar. Nicht nur die Adaptionszeiten sind lang, es tritt allmalich bei manchen Feu- ten eine allgeeine Senkung des Sehvermogens verbunden mit Rotung der Augen und starken Augenschmerzen auf. Der С-Mangel zeigt sich an der Fockerung und schnellerem Verfall der Zahne, an Zahnfleisch- bluten und korperlicher und geistiger Miidigkeit. Die Erscheinungen sind nicht sonderlich gefahrlich, da sie sich durch andere Ernahrung im Friihjahr sicher bessern werden.... Militarisch ist, wie Du Dir den- ken kannst, von uns nichts zu berichten. Alles wissenswerte besagt der Wehrmachtsbericht. Ich hoffe nun auf ein Wiedersehen im Fruhjahr! Vorher wird es wohl mit dem Urlaub nichts werden. Dir und Jutta viele herzliche GriiBe! Dein Helmut

Konrad Henkel wird diesen Brief mit besonderem Interesse gelesen haben. Die von ihm im Heidelberger Labor des Kaiser-Wilhelm-Instituts zeitgleich entwickelten chemischen Kampfstoffe wirkten wie Antivitami- ne, die dem Korper vitale Nahrstoffe entzogen, und zogen ahnliche Folgen nach sich: Verengung der Pupillen, eine stark eingeschrankte Sehfahigkeit, Muskelkrampfe und Atembeschwerden, die bis zum Tod ftihren konnten. Umgekehrt glaubten Henkel, Kuhn und Hartmann wohl auch, dass eine protein- und fettreiche Ernahrung (siehe Hartmanns Verweis auf den Olfruchtanbau) und erhohte Vitaminzufuhr die schadlichen Auswirkun- gen von Nervengasen rasch eindammen konnten.21 So erkennt man einen engen Zusammenhang in den Kopfen von Hartmann, Henkel und zum Teil auch Tjadens zwischen Vitaminen und Antivitaminen; zwischen eu- genischen Initiativen zur Starkung einzelner Nationen und Methoden der Schadstoffbekampfung, die nahtlos in chemische Kampfstoffentwicklung und rassische Vernichtungsprogamme iibergingen; zwischen dem Leben des einzelnen Menschen und dem Wohl des “GroBdeutschen Reichs”, das sich einer riicksichtslosen imperialen Eroberungspolitik zur Gewinnung von Gewinnung von Lebensraum und wertvollen Nahrstoffen verschrie- ben hatte und besonders nach Stalingrad radikalere Waffen brauchte, um den Krieg nicht zu verlieren. Diese und andere Vorstellungswelten gehort es aufzuzeigen, will man die Erfahrungshorizonte des Zweiten Weltkriegs und speziell der Schlacht von Stalingrad rekonstruieren. I and Reinhold Sterz, hg., Das andere Gesicht des Krieges: Deutsche Feldpostbriefe 1939-1945 (Munich: Beck, 1983).

  1. Walter Kempowski. Das Echolot: Ein kollektives Tagebuchjanuar und Februar 1943 (Miin- chen: Btb, 1993); Ebert. Feldpostbriefe aus Stalingrad, bes. S. 9-13. Die in Kempowskis Echolot-Edition enthaltenen Notizen von Rudolf Tjaden aus den Monaten Januar und Fe­bruar 1943 sowie weitere Recherchen im Biographien-Archiv von Walter Kempowski in den Archiven der Akademie der Kiinste Berlin fiihrten mich zu Tjadens Kriegstagebuch von Rudolf Tjaden. Ich danke Dr. Matthias Nistal vom Staatsarchiv Oldenburg fur seine tatkraf- tige Unterstiitzung.

  2. Ebert bezeichnet die Darstellung deutscher Soldaten als Opfer als fragwiirdig (Feldpost­briefe, 36If.) und versucht den Heldenmythos aufzubrechen, indem er auf hunderte anderer deutscher Briefe aus Stalingrad — Briefe mit anderer Tonlage — verweist, die von den Sow- jets aus abgeschossenen Postfliegern erbeutet wurden. Doch bewegt sich seine Presentation genau so wie die von Kempowski oder dem Deutschlandfunk im von der Edition aus dem Jahre 1950 vorgegebenen Rahmen. Dieser Rahmen war seinerseits bereits wahrend der nati- onalsozialistischen Herrschaft vorgezeichnet. Im Februar 1943 suchte Propagandaminister Joseph Goebbels nach Mitteln, die Niederlage der Sechsten Armee als heroisches Epos zu verbramen; er erteilte dem Kriegsberichterstatter Heinz Schroter den Auftrag, ein “Helden- lied Stalingrad” zu komponieren. Dieses Lied sollte in seinem Kern auf erhaltenen letzten Briefen deutscher Soldaten basieren. Die von Schroter vorbereiteten Briefausziige erschie- nen Goebbels freilich als zu dtister und naturalistisch, und so wurde das Projekt gestoppt (Ebert. Stalingrad. S. 49f.).

  3. Eine vergleichbare Methodologie wahlen Bernd Boll und Hans Safrian, “Auf dem Weg nach Stalingrad. Die 6. Armee 1941/42”, in: Vemichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1941. Hg. Hannes Heer and Klaus Naumann. Hamburg 1995. S. 260-296.

  4. Helmut Hartmanns Briefe befinden sind im Deutschen Tagebucharchiv in Emmendin- gen (Signatur 1614); Rudolf Tjadens Kriegstagebuch liegt im Staatsarchiv Oldenburg (Best. 297E. № 58). Im Herbst 2010 erschien eine hcrvorragend kommentierte, jedoch auch um Teile gekiizte wissenschaftliche Edition des Tagebuchs: Hans-Peter Klausch, hg. Olden­burg im Zweiten Weltkrieg. Das Kriegstagebuch des Mittelschullehrers Rudolf Tjaden (Olden­burg, Isensee Verlag, 2010). Klausch nahm Kiirzungen bei Tjadens privaten Aufzeichnun- gen sowie bei seiner Wiedergabe des offiziellen Wehrmachtsberichts vor. Diese Berichte erscheinen im Tagebuch regelmaBig im Wortlaut oder als Zusammenfassung.

H Privatarchiv Hans M. Kurtz, Reutlingen. Der Vater meines Onkels, Hans Kurtz, ist in Stalingrad verschollen.