
Lektion V Gliederung von deutschen Dialekten
Die Gliederung von Dialekten eines Dialektkontinuums ist ein wissenschaftlich-abstraktes linguistisches Konstrukt. Man könnte die einzelnen Dialekte auch ganz anders gruppieren und klassifizieren, was nicht zuletzt durch die zwischen allen Mundarträumen bestehenden Übergangsdialekte illustriert wird. Trotzdem sind die im 19. Jahrhundert entwickelten Gliederungen - einerseits anhand der Zweiten Lautverschiebung, andererseits nach antik-frühmittelalterlichen Kulturkreisen - bisher nicht ersetzt worden.
Niederdeutsche Mundarten
Das (nieder-)deutsche Dialektkontinuum erstreckt sich über Norddeutschland, über die Niederlande, den flämischen Teil Belgiens und über ein kleines Gebiet im nordöstlichen Teil Frankreichs (sogenanntes „Französisch-Flandern“). Es wird standardsprachlich überdacht von Deutsch (Hochdeutsch in Deutschland), von Niederländisch (früher Niederdeutsch genannt) und vom Französischen.
Die niederdeutschen Mundarten (auch „Platt“ bzw. „Plattdeutsch“) werden in Niederfränkisch, Niedersächsisch (auch: „Westniederdeutsch“) und Ostniederdeutsch unterteilt.
Niederfränkische Mundarten werden zumeist außerhalb der Bundesrepublik Deutschland und am Niederrhein in Nordrhein-Westfalen gesprochen. Auf der Grundlage dieser Mundarten mit leichten Spracheinflüssen des Friesischen und des Niedersächsischen hat sich die Niederländische Standardsprache für die Niederlande und für Flandern in Belgien entwickelt.
Die niedersächsischen Mundarten werden im Nordosten der Niederlande und im angrenzenden Norwestdeutschland gesprochen; im Dialektkontinuum schließt sich der Mundartenraum des Ostniederdeutschen an. Obgleich die niederdeutschen und hochdeutschen Mundarten durch das Dialektkontinuum (staatsübergreifend) verbunden sind werden im Sprachraum der Niederländischen Dachsprache und in „Französisch-Flandern“ (französische Dachsprache) die niederdeutschen Mundarten gebietsbezogen als niederländische Mundarten bezeichnet und im Sprachraum der Hochdeutschen Dachsprache als deutsche Mundarten.
Während man die niederdeutschen und niederländischen Dialekte noch bis ins ausgehende 19. Jahrhundert auf beiden Seiten der Staatsgrenzen als „Platt- oder Niederdeutsch“ zusammenfasste, ist heute die Zugehörigkeit der niederfränkischen Sprachen zum Niederdeutschen äußerst umstritten, da es sich eigentlich um Übergangsdialekte des Mitteldeutschen zum Niederdeutschen, d. h. zu den niedersächsischen Dialekten, handelt [1].
Aber es gibt noch aus dem 17. Jahrhundert niederländische Zeugnisse, dass dort die niederländischen Dialekte noch als Teil der deutschen Sprache empfunden wurde, da es ursprünglich nicht weiter vom Hochdeutschen entfernt war als das eigentliche Niederdeutsche [2].
Das Niedersächsische als Kernsprache der niederdeutschen Mundarten gliedert sich in Westfälisch, Ostfälisch und Nordniedersächsisch, diese wiederum in Untermundarten in den nordöstlichen Gegenden der Niederlanden und beinahe im gesamten nordwestdeutschen Sprachraum in Westfalen, Niedersachsen, Schleswig-Holstein, Hamburg und Bremen.
Das Ostniederdeutsche, das durch slawische Mundarten beeinflusst wurde, verbreitete sich seinerzeit durch Wanderungsbewegungen über Pommern und Altpreußen bis auf das Baltikum. Es wird in Brandenburgisch (Märkisch) und Mecklenburgisch-Vorpommersch gegliedert, historisch zählen auch Ostpommersche und Niederpreußische Mundarten dazu. Das Berlinerische wird zusammen mit dem Südmärkischen, je nach linguistischer Perspektive, mal dem (Ost-)Niederdeutschen, mal dem (Ost-)Mitteldeutschen zugeordnet.
Das ostfriesische Platt im Nordwesten Norddeutschland gehört entgegen seinem Namen nicht zum Friesischen sondern zu den niederdeutschen Mundart. Es hat das vormals Friesische verdrängt und den Namen gleich mit übernommen.
Sprachwissenschaftlich trennt sich das Niederdeutsche vom Hochdeutschen (Mittel- und Oberdeutschen) durch die fehlende hochdeutsche Lautverschiebung. Diese zweite westgermanische Lautverschiebung setzte bereits im Frühmittelalter (1. Jahrhundert n.Chr.) im Südosten des germanischen (heute deutsches) Sprachgebietes ein, breitete sich kontinuierlich nach Nordwesten und in den Norden aus und beeinflusste die Mundarten unterschiedlich stark. Die zweite Lautverschiebung umfasst die Veränderungen mehrerer Lautmerkmale. Erst im 19. Jahrhundert entwickelten die Sprachwissenschaften ihre Forschungsgebiete der deutschen Mundarten. Daraus ergab sich die Eingrenzung der Mundarten in willkürlich festgelgte Lautgrenzen, beispielsweise der „maken“ (niederdt.) zu „machen“ (hochdt.) Sprachgrenze (so genannte Benrather Linie) und die „ik“ (niederdt.) „ich“ (hochdt.) - Grenze (so genannte Uerdinger Linie), ohne dass es sich hierbei um eine tatsächliche Mundartgrenzen handelt, da die Veränderungen der Mundarten fließend (kontinuierlich) vonstattten gehen üner kleine Veränderungen von Ort zu Ort. Die Künstlichkeit dieser Linien wird deutlich, wenn man dem Niederdeutschen zugeordnete Mundarten betrachtet, die zwar nördlich der Benrather Linie liegen, aber doch von vielen Lautveränderungen der zweiten Lautverschiebung erfasst wurde, dies gilt auch umgekehrt für die Mundarten im südlichen Bereich der Benrather bzw. Uerdinger Linie bezeihungsweise auch beim Übergang der mitteldeutschen in die oberdeutschen Mundarten.
Die niederdeutschen Mundarten weisen mit den von den hochdeutschen Dialekten geprägtem Standarddeutsch (Hochdeutsch oder Schriftdeutsch) geringe Ähnlichkeiten auf. Die niederdeutschen Mundarten wurden bis Mitte des 20. Jahrhunderts als vordringliche Umgangssprache benutzt, insbesondere in ländlich strukturierten Gegenden. Im Mittelalter und in der Frühneuzeit in Norddeutschland nicht zuletzt auch als Schriftsprache, z. B. Kanzleisprache. Durch den Einfluss der Reformation (hochdeutsche Lutherbibel) und durch Zuwanderungen wurde es nach und nach zurückgedrängt und ist, insbesondere in Großstädten, teilweise ganz verschwunden.