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Klaus Laubenthal-Strafvollzug 6. Auflage (Sprin...docx
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2.4 Entwicklung vom Inkrafttreten des rStGb 1871 bis zum Jahr 1945

  1. Die inhaltlich unzulänglichen landesrechtlichen Bestimmungen, welche die Aus-gestaltung der Freiheitsstrafe überwiegend dem „discretionären Ermessen der Administration“83 überließen, stießen auf zunehmende Kritik von Wissenschaft und Praxis. In der Zeit nach der Reichsgründung 1871 fand daher nicht nur eine Fortsetzung des Streits um das richtige Vollzugssystem statt. Ein wesentliches Reformanliegen bestand in einer umfassenden einheitlichen Kodifikation des Strafvollzugs.

2.4.1 Stagnation während des Kaiserreichs

  1. Das am 1.1.1871 in Kraft getretene Reichsstrafgesetzbuch beinhaltete in seinen §§ 15 ff. und §§ 361 f. nur wenige Regelungen über die Ausgestaltung freiheits-entziehender Sanktionen:

Zuchthausstrafe mit Arbeitspflicht des Insassen, Verwendung auch zu Arbeiten außerhalb der Anstalt bei strikter Trennung von anderen Arbeitern;

  1. Sieverts, 1967, S. 49.

  1. Obermaier, 1835, S. 50.

  1. Freudenthal, 1914/15, S. 91.

  1. Riemer, 2005, S. 139.

  1. Mittermaier K. J. A., 1860, S. 74.

  1. Wahlberg, 1869, S. 251.

2.4 Entwicklung vom Inkrafttreten des RStGB 1871 bis zum Jahr 1945 61

Gefängnisstrafe mit Recht des Gefangenen auf Arbeit entsprechend seinen Fähigkeiten und gegebenen Verhältnissen;

Festungshaft mit Beaufsichtigung der Lebensweise des Verurteilten; Haftstrafe als im Wesentlichen reiner Freiheitsentzug;

Zulässigkeit des Vollzugs der Zuchthaus- und der Gefängnisstrafe in andauern-der Einzelhaft; nach Ablauf von drei Jahren nur noch mit Zustimmung des Be-troffenen;

bei guter Führung Möglichkeit der vorläufigen Entlassung nach drei Viertel (mindestens einem Jahr) der verhängten Zuchthaus- oder Gefängnisstrafe;

Unterbringung in einem Arbeitshaus für die Höchstdauer von zwei Jahren bei Landstreicherei, Bettelei, Spiel, Trunk, Müßiggang, gewerbsmäßiger Unzucht, Arbeitsscheu und Obdachlosigkeit.

Mit der weitgehenden Ausklammerung expliziter Vorschriften über den Voll- 112 zug freiheitsentziehender Sanktionen aus dem Reichsstrafgesetzbuch verblieb es

in den einzelnen Bundesstaaten zunächst bei unterschiedlichen Regelungen in Form von landesrechtlichen Strafvollzugsordnungen als Verwaltungsvorschrif-ten. Die Herstellung von Rechtseinheit und Rechtsgleichheit durch ein Reichs-strafvollzugsgesetz wurde daher von Vollzugspraktikern ebenso wie auf parlamen-tarischer Ebene angemahnt.84 Aufgrund solcher Initiativen legte die Reichsregie-rung 1879 einen vom Reichsjustizamt erarbeiteten „Entwurf eines Gesetzes über die Vollstreckung von Freiheitsstrafen“85 vor. Dieser beinhaltete Einzelhaft als erstes obligatorisches Stadium eines Stufenvollzugs bei Zuchthaus- und Gefäng-nisstrafen (§ 14 Abs. 1). Beschwerden über die Art des Vollzugs und über die Verhängung von Disziplinarmaßnahmen sollten von der Aufsichtsbehörde verbe-schieden werden (§ 41 Abs. 1). Das Gesetzesvorhaben, das sogar schon einen Sondervollzug für Jugendliche beinhaltete, scheiterte vor allem an den zur Neuer-richtung von Einzelzellengefängnissen notwendigen finanziellen Anforderungen.86

Die Herbeiführung einer reichseinheitlichen Reglementierung war auch Ziel 113 der 1897 vom Bundesrat beschlossenen „Grundsätze, welche bei dem Vollzuge gerichtlich erkannter Freiheitsstrafen bis zu weiterer gemeinsamer Regelung zur Anwendung kommen“.87 Dieser infolge der Untätigkeit des Reiches von Regie-rungen der Bundesstaaten initiierten gemeinsamen Regelung kam jedoch nur die Rechtsqualität einheitlicher Verwaltungsvorschriften durch Ländervereinbarung

zu, weil es dem Bundesrat zum Erlass von Vorschriften über den Strafvollzug als Verordnung an einer reichsgesetzlichen Ermächtigung fehlte.88 Die Vereinbarung hatte zudem weder Gesetzes- noch Verordnungskraft.89 Die Bundesratsgrundsät-ze, die bis zum Ende des Kaiserreichs galten, brachten keine Reformen mit sich. So machten sie die Verwirklichung des Trennungsprinzips (§§ 1 bis 6) von den jeweils vorhandenen Möglichkeiten abhängig und stellten sie letztlich in das Er-

  1. Vgl. dazu Müller-Dietz, 1970, S. 6 ff.

  1. Bundesrats-Drucksachen 1879. Band. 2, Nr. 56; dazu Schenk, 2001, S. 19 ff.

  1. Freudenthal, 1914/15, S. 92.

  1. Zentralblatt für das Deutsche Reich, 1897, S. 308 ff.; dazu Schenk, 2001, S. 43 ff.

  1. Müller-Dietz, 1970, S. 10.

  1. Kriegsmann, 1912, S. 85.

62 2 Historische Entwicklung

messen der einzelnen Länder (§ 7).90 Über Beschwerden hatte – soweit nicht Be-stimmungen der Strafprozessordnung griffen – die Aufsichtsbehörde zu entschei-den (§ 39 S. 1). Damit kam es bis zum Ende des Ersten Weltkriegs im Kaiserreich auf dem Gebiet des Erwachsenenstrafvollzugs zu keinen bedeutenden praktischen Veränderungen.

114 Auch die liberalen Bedenken gegen einen Besserungsvollzug mittels staatlicher Einwirkung auf die Gefangenenpersönlichkeit, die Abhängigkeit des Strafvoll-zugsrechts vom Strafrecht und der dort vorherrschende Schulenstreit trugen zum

Fortbestehen des gesetzlosen Zustands bei.91 Das von Franz v. Liszt in seiner Marburger Antrittsvorlesung über den „Zweckgedanken im Strafrecht“ 1882 vor-getragene Reformprogramm92 mit den Zielen:

Versuch einer Besserung der besserungsfähigen und besserungsbedürftigen Täter,

Abschreckung der nicht besserungsbedürftigen Verbrecher, Unschädlichmachung der nicht Besserungsfähigen,

blieb in der Praxis des ausgehenden 19. Jahrhunderts noch ohne Konsequenzen. Auch die den Erlass eines Strafvollzugsgesetzes als rechtsstaatliche Notwendig-keit fordernde berühmte Rektoratsrede93 von Berthold Freudenthal über „Die staatsrechtliche Stellung des Gefangenen“ (1910) führte noch zu keinen Fort-schritten.

  1. Lähmend wirkte sich nicht nur der Konflikt über die Zweckvorstellungen des Strafvollzugs – Vergeltung und Generalprävention einerseits oder Besserung an-dererseits – aus. Selbst die Anhänger eines in erster Linie am Besserungsgedanken orientierten Vollzugs setzten untereinander ihre Auseinandersetzungen um Haft-systeme und Vollzugsgestaltung fort, wobei die ablehnende Haltung gegenüber der strengen Einzelhaft bald überwog. Schon v. Liszt hatte eine Besserung der Besserungsfähigen in einem progressiven Behandlungssystem gefordert – be-ginnend mit Einzelhaft, der sich die widerrufliche Versetzung in die Gemeinschaft anschließt; am Ende sollte eine mehrjährige Polizeiaufsicht des Entlassenen ste-hen.94 Ein bedeutender Schritt zur Verwirklichung eines an Behandlungs- und Erziehungszwecken orientierten Freiheitsentzugs war schließlich das 1911 auf Initiative Freudenthals in Wittlich eröffnete erste deutsche Jugendgefängnis.

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