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Klaus Laubenthal-Strafvollzug 6. Auflage (Sprin...docx
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2.3.3 Uneinheitliche Entwicklung in den deutschen Partikularstaaten

Die angloamerikanische Systemkonkurrenz beeinflusste auch das Vollzugswesen 105 in Deutschland. Dort hatte Heinrich Wagnitz Ende des 18. Jahrhunderts die Ideen Howards bekannt gemacht und eine Reform gefordert.58 In Erkenntnis der Miss-stände in den Gefängnissen legte das Preußische Justizministerium 1804 den „Ge-neralplan zur Einführung einer besseren Criminal- Gerichts-Verfassung und zur Verbesserung der Gefängnis- und Straf-Anstalten“ vor.59 Dieser beinhaltete als wesentliche Neuerungen eine Klassifizierung der Gefangenen nach besserungsfä-higen und unerziehbaren Straftätern, eine Differenzierung zwischen Untersu-chungs- und Strafhaft, Vorschriften über Arbeitserziehung und Ansätze eines Stufenstrafvollzugs.

Die Realisierung dieses Generalplans zur grundlegenden Umwandlung des Gefäng-niswesens scheiterte jedoch60, denn der Dualismus der preußischen Gefängnisverwal-tung führte zu Kompetenzkonflikten zwischen Innen- und Justizministerium um die Zuständigkeit für den Strafvollzug. Die napoleonischen Kriege hatten zudem die für eine umfassende Neugestaltung notwendigen finanziellen Ressourcen Preußens er-schöpft. Den Reformversuchen stand auch die nach-kantische Aufklärungsphiloso-phie entgegen, welche die Prinzipien der Tatschuldvergeltung und der Generalprä-vention in den Vordergrund treten ließ. Vor allem die liberal-rechtsstaatliche Straf-auffassung Anselm von Feuerbachs bewirkte eine Verdrängung des Besserungs-gedankens als eine unzulässige Kompetenzüberschreitung des Staates.61

  1. Aschrott, 1887, S. 300; Freudenthal, 1914/15, S. 89; Schattke, 1979, S. 59.

  1. Eisenhardt, 1978, S. 42.

  1. Vgl. Schidorowitz, 2000, S. 67 ff.

  1. Nachdruck in Krohne/Uber, 1901, S. 34 ff.

  1. Siehe dazu auch Freudenthal, 1914/15, S. 90; Schwind, 1988, S. 12.

  1. Siehe Feuerbach, 1801.

58 2 Historische Entwicklung

Als Folge dominierten im Vollzug äußere Sauberkeit, geregelter Arbeitsgang, Pünktlichkeit und strenge Disziplin als Inhalte des Gefängnisalltags.62 Dabei oblag die Aufsicht in den Anstalten häufig ehemaligen Offizieren bzw. Unteroffizieren, die den Vollzug nach hierarchisch-militärischen Grundsätzen gestalteten. Es kam zu einer Degradierung der Insassen zu bloßen Nummern, mit denen sie auch ange-sprochen wurden.63

  1. Die Unzulänglichkeiten des Vollzugswesens lösten in den zwanziger Jahren des

    1. Jahrhunderts neuerliche Reformimpulse aus, als sich – angeregt durch die nordamerikanische Gefängnisbewegung und deren Erfolge – auch in Deutschland Gefängnisgesellschaften und Gefangenenfürsorgevereine auf christlicher Grund-lage zu konstituieren begannen. Erste deutsche Gefängnisgesellschaften waren die 1826 auf Initiative des Seelsorgers Theodor Fliedner gegründete Rheinisch-Westfälische Gefängnisgesellschaft sowie der Berliner Schutzverein von 1827.64 Diese betrieben nicht nur Entlassenenfürsorge. Getragen vom Leitbild des Ge-fängnisses als Besserungsanstalt bemühten sie sich um die Ausbildung und seel-sorgerische Betreuung der Inhaftierten.

  1. Die Idee des Besserungsvollzugs stand auch für die zur gleichen Zeit sich ent-wickelnde Gefängniswissenschaft im Vordergrund. Wesentlich geprägt wurde diese von dem Hamburger Arzt Nikolaus Julius und seinen „Vorlesungen über die Gefängniskunde oder über die Verbesserung der Gefängnisse“65, mit denen er erstmals auch eine „Wissenschaft der Gefängnisse“ begründete.66 Gefängniskunde bedeutete „die Gesamtheit aller auf Einrichtung und Handhabung der Gefängnis-anstalten, vornehmlich aber der Vollzugsanstalten bezüglichen Grundsätze, Leh-ren und Regeln“.67

Die Gefängniskunde entwickelte sich zunächst mit gewissen Parallelen zu den Naturwissenschaften des 19. Jahrhunderts zu einer Erfahrungswissenschaft. Man bemühte sich, die Realität in den Strafanstalten zahlenmäßig zu erfassen. Die Vollzugsbehörden waren jedoch bestrebt, ihre amtlich erhobenen Statistiken ge-heim zu halten. Diese Exklusivität des gefängniskundlichen Basiswissens machte es für die Strafvollzugsexperten der damaligen Zeit nahezu unmöglich, für ihre Forschungen das notwendige Zahlenmaterial zu erhalten.68 Um das Gefängniswe-sen erfassen zu können, kam es deshalb zu einem Wissenstransfer durch Berei-sung von in- und ausländischen Institutionen sowie insbesondere zu einer Wis-senskommunikation innerhalb eines grenz- und fächerübergreifenden Kommuni-kationsnetzwerks.69 So lässt sich – bezogen auf die Aktivitäten der Strafvoll-zugsexperten des 19. Jahrhunderts – durchaus bereits von einer europäischen Gefängniskunde sprechen.70

    1. Schmidt Eb., 1965, S. 350.

    1. Eisenhardt, 1978, S. 45.

    1. Mittermaier W., 1954, S. 23.

    1. Julius, 1828; dazu Krebs, 1973, S. 307 ff.

    1. Vgl. Krause Th., 1999, S. 69; Nutz, 2001, S. 239 ff.

    1. v. Holtzendorff, 1988, S. 4.

    1. Siehe Mittermaier K. J. A., 1860, S. 57.

    1. Ausführlich dokumentiert in Riemer, 2005.

    1. Dazu Riemer, 2005, S. 131 ff.

2.3 Reformen des 19. Jahrhunderts

59

Die am Besserungsgedanken orientierten Gefängniswissenschaftler setzten sich auch über Vorzüge der divergierenden angloamerikanischen Organisationsmodelle auseinander, es kam zu einem Wettkampf der Systeme. Man gruppierte sich in Vertreter der Einzelhaft (sog. Pennsylvanisten) und in Anhänger der Gemein-schaftshaft mit Schweigegebot und Trennung bei Nacht (sog. Auburnianer).71 Dabei waren die Systemstreitigkeiten allerdings überlagert vom gemeinsamen Leitbild der Gefängniskundler, den deutschen Strafvollzug in zeitgemäßer und zweckgerichteter Form zu reformieren. Richtungsweisend für die Durchsetzung der Einzelhaft war der 1846 nach Frankfurt einberufene Erste Internationale Ge-fängniskongress, der sich unter dem Vorsitz des Pennsylvanisten K. J. A. Mitter-maier mit überwiegender Mehrheit für dieses System aussprach.72 Der Gefangene sollte sich in seiner Zelle mit nützlichen Arbeiten beschäftigen; Milderungen durf-ten dem Prinzip der Trennung nicht widersprechen.

Unter dem Eindruck der Mitte des 19. Jahrhunderts vorherrschenden Auffas- 108 sung kam es in einigen deutschen Partikularstaaten zum Bau von Haftanstalten nach pennsylvanischem Muster. Vorbildfunktion erlangte insoweit die 1848 eröff-

nete badische Zellenstrafanstalt in Bruchsal.73 Gleiches gilt für das Zellengefäng-nis in Berlin-Moabit.74 Letzteres wurde auf Anordnung von Friedrich Wilhelm IV. ebenfalls in der Strahlenbauweise erstellt und im Jahr 1849 seiner Bestimmung übergeben. Der preußische König hatte vor seinem Amtsantritt Gefängniskunde-Vorlesungen von Julius besucht und sich im Rahmen einer Englandreise die ihn beeindruckende Anstalt von Pentonville vorführen lassen. In seiner Kabinettsorder verfügte er daher: „... will Ich, dass eine Strafanstalt hier in Berlin ganz überein-stimmend mit den Einrichtungen des Mustergefängnisses in London ... eingerich-tet werde“.75

Maßgebliche Unterstützung bei der Einführung der Gefangenenbehandlung nach dem pennsylvanischen System in Preußen fand Friedrich Wilhelm IV. bei dem Pastor Jo-hann Hinrich Wichern, dem Gründer des Erziehungsheimes „Rauhes Haus“ in Ham-burg. Dieser sah die Ursachen bisheriger Missstände des Strafvollzugs im freien Verkehr der Gefangenen untereinander.76 Er erkannte aber zugleich, dass der einsit-zende Straftäter zu seiner Besserung mehr bedurfte, als nur einer Abschirmung in Einzelhaft. Dem Insassen sollte vielmehr „in dieser gereinigten Atmosphäre die Sammlung neuer sittlicher Kräfte“77 ermöglicht werden – mit der Folge einer Ab-schaffung der Rekrutierung des Gefängnispersonals aus dem Militär und dem Einsatz in der Gefangenenpflege ausgebildeter evangelischer Diakone. Die hohen Kosten der Strahlenbauweise sowie Vorwürfe konfessioneller Einseitigkeit führten aber schon bald zu einem Scheitern des Konzepts von Wichern. Es entstanden Anstaltsneubau-

  1. Siehe Nutz, 2001, S. 310 ff.; Riemer, 2005, S. 88 ff.

  1. Vgl. Krohne, 1889, S. 196; Riemer, 2005, S. 169.

  1. Freudenthal, 1914/15, S. 91.

  1. Dazu Schäche, 1992, S. 14 ff.

  1. Vgl. Schäche, 1992, S. 15.

  1. Wichern, Ausgabe 1979, S. 105; siehe auch Schambach, 2008, S. 107 ff.

  1. Wichern, Ausgabe 1979, S. 116.

60 2 Historische Entwicklung

ten mit einer systemlosen Mischung aus Zellenabteilungen und Gemeinschaftsräu-men.78

  1. Im Gegensatz zu Preußen hielt sich Bayern von vornherein dem Einzelhaftsys-tem gegenüber zurück. Dort strebte der Direktor des Münchener Zuchthauses Obermaier eine an der individuellen Behandlungsbedürftigkeit orientierte Klassi-fizierung der Besserungsanstalten an.79 Sachsen schuf ein dem englischen Vorbild entsprechendes System mit Elementen des Progressivvollzugs, wobei der Einzel-haft nur die Bedeutung einer Disziplinarstrafe zukam.80 Die Revolution von 1848 hatte vielerorts in der Weiterentwicklung des Haftvollzugs eine Zäsur bedeutet. Reformprozesse gerieten ins Stocken und wurden von zur damaligen Zeit drän-genderen Aufgaben überlagert. Nicht selten gab man sich mit konzeptlosen Provi-sorien zufrieden.81 In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts findet sich in den Partikularstaaten damit ein Nebeneinander divergierender Systeme und Formen der Inhaftierung. Es besteht im Deutschen Bund keine einheitliche Regelung über den Strafvollzug, vielmehr betrachtet „in einzelnen Staaten die Regierung beliebig die Vollstreckung der Freiheitsstrafen und die Einrichtung der Strafanstalten als Sache der Verwaltung“.82

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