
- •Infinitivkonstruktionen in der deutschen Sprache der Gegenwart semesterarbeit
- •1. Semantik der Infinitivkonstruktionen 5
- •2. Infinitivkonstruktionen als Konkurrenzformen der Nebensätze 18
- •Einleitung
- •1. Semantik der Infinitivkonstruktionen
- •1. 1. Definition der Infinitivkonstruktionen
- •1. 2. Einteilung der Infinitivkonstruktionen
- •1. 2. 1. Satzwertigkeit der Infinitivkonstruktionen
- •1. 2. 2. Einteilung nach dem impliziten Subjekt
- •1. 2. 3. Gestaltungsmittel satzwertiger Infinitivgruppen
- •1. 2. 4. Logisch-grammatische Typen
- •1. 2. Infinitivkonstruktion um ... Zu
- •1. 2. 1. Finale Bedeutung
- •1. 2. 2. Konsekutive Bedeutung
- •1. 2. 3. Konditionale Bedeutung
- •1. 2. 4. Kopulative Bedeutung
- •1. 2. 5. Gebrauch der Tempora des Infinitivs
- •1. 3. Infinitivkonstruktion ohne ... Zu
- •1. 4. Infinitivkonstruktion statt ... Zu
- •2. Infinitivkonstruktionen als Konkurrenzformen der Nebensätze
- •2. 1. Adverbialsätze der Art und Weise
- •2. 2. Adverbialsätze des Zieles und des Grundes
- •2. 3. Adverbialsätze der Folge
- •2. 4. Prädikative Beziehungen der Infinitive
- •Schlussfolgerungen
- •Literaturverzeichnis
- •Belegquellen
1. 2. 5. Gebrauch der Tempora des Infinitivs
Der Gebrauch der Tempora des Infinitivs (d. h. des Infinitivs I oder des Infinitivs II) in der Infinitivkonstruktion regelt sich nicht nach der absoluten, sondern nach der relativen Zeit Infinitiv I steht bei Gleichzeitigkeit der Aktzeiten von Konstruktion und übergeordnetem Satz oder bei Nachzeitigkeit der Aktzeit der Konstruktion nach der Aktzeit des übergeordneten Satzes; Infinitiv II steht bei Vorzeitigkeit der Aktzeit der Konstruktion vor der Aktzeit des übergeordneten Satzes:
Es freut die Arbeiter, das Theaterstück zu sehen. (Infinitiv I)
Es freut die Arbeiter, die neue Methode erprobt zu haben. (Infinitiv II)
Entsprechend der Bedeutung des Verbs im übergeordneten Satz ist nach manchen Verben (z. B. Anregen, auffordern, zwingen, beauftragen, bitten, abraten, empfehlen) nur der Infinitiv I möglich:
Er fordert mich auf, den Auftrag auszuführen.
*Er fordert mich auf, den Auftrag ausgeführt zu haben.
Umgekehrt wird bei anderen Verben vorzugsweise ein Infinitiv II verwendet:
Er wirft ihr vor, das Buch gestohlen zu haben. *Er wirft ihr vor, das Buch zu stehlen. [8, 661].
Also, bei der Wahl des Infinitiv I oder II sollte man die prospektive oder die retrospektive Bedeutung des übergeordneten Verbs berücksichtigen.
1. 3. Infinitivkonstruktion ohne ... Zu
Was die Infinitivkonstruktion mit ohne ... zu anbetrifft, so ist im finiten Feld das Verhalten dargestellt, das tatsächlich realisiert wird; im infiniten dagegen ein Verhalten, das eigentlich dazu gehört, aber nicht realisiert wird.
Mein Vetter Bertram gehört zu jener Gruppe von Neurotikern, die, ohne im gerinsten erkältet zu sein, in Konzerten plötzlich zu husten beginnen. (H. Böll).
Wir logen beide, ohne zu wissen, warum wir logen (H. Böll).
Seitdem kann ich keine Strandbäder mehr sehen, ohne Schmerz zu verspüren. (H. Böll).
Ohne mich anzusehen, sagte sie: „Kannten Sie das Mädchen?“ (H. Böll)
Diese Beispiele bezeichnen einen fehlenden oder den nicht erwartungsgemäß eingetretenen Begleitumstand des im Matrixsatz ausgedrückten Sachverhalts [3, 18].
Die Infinitivkonstruktion mit ohne ... zu drückt einen fehlenden Begleitumstand oder das Nicht-Eintreten einer Folge aus.
Ein fehlender Begleitumstand des im übergeordneten Satz ausgedrückten Geschehens ist einem Modalsatz synonym:
Er überquerte die Straße, ohne dass er auf den Verkehr achtete. →
Er überquerte die Straße, ohne auf den Verkehr zu achten. [8, 659].
Das Nicht-Eintreten einer Folge, die sich erwartungsgemäß aus dem im übergeordneten Satz ausgedrückten Geschehen ergeben sollte, ist einem negativen Konsekutivsatz äquivalent:
Er hat sehr kalt gebadet, ohne dass er sich erkältet hat →
Er hat sehr kalt gebadet, ohne sich zu erkälten.
Die Interpretation des ersten Satzpaares setzt Gleichzeitigkeit der beiden Geschehen voraus, die Interpretation des zweiten Satzpaares setzt Vorzeitigkeit des Geschehens im übergeordneten Satz voraus.
In beiden Fällen entspricht die Infinitivkonstruktion einem Nebensatz mit ohne dass, wenn ihr (eliminiertes) Subjekt dem Subjekt des übergeordneten Satzes entspricht. In beiden Fällen ändert sich bei Auftreten eines Negationselements im übergeordneten Satz die Bedeutung; bei (a) wird dann der vorhandene Begleitumstand bezeichnet, bei (b) die sich aus dem übergeordneten Satz ergebende Folge:
a. Er überquerte die Straße nicht, ohne auf den Verkehr zu achten. (d. h.: Er achtete auf den Verkehr. )
b. Er hat nie sehr kalt gebadet, ohne sich zu erkälten. (d. h.: Er hat sich erkältet)
Beide Infinitive (Infinitiv I und II) sind öfter von den grenzbezogenen (perfektiven) Verben in der Konstruktion ohne ... zu austauschbar; in folgenden Sätzen kann der Infinitiv I durch den Infinitiv II ersetzt werden:
"Oh, ja", sagte sie, und ihr Blick kam zurück, sie sah mich an, ohne zu lächeln (H. Böll) → "Oh, ja", sagte sie, und ihr Blick kam zurück, sie sah mich an, ohne gelächelt zu haben.
In die Gerstenstraße, über den Moltkeplatz ging ich langsam den Weg zur Kanzlei zurück, ohne zu wissen, dass ich ihn ging (H. Böll) → In die Gerstenstraße, über den Moltkeplatz ging ich langsam den Weg zur Kanzlei zurück, ohne gewusst zu haben, dass ich ihn ging.
„Na, Bogner, schon zurück - so schnell?" „Schnell?" sagte ich, ohne mich umzuwenden (H. Böll) → „Na, Bogner, schon zurück - so schnell?" „Schnell?" sagte ich, ohne mich umgewandt zu haben.
Den Gebrauch der Formen des Infinitivs I (oder Infinitiv Präsens) und des Infinitivs II (oder des Infinitivs Perfekt) behandeln wir auch in einem der nächsten Kapitel.