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каминер ich mach mir sorgen,mama.pdf
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Alle meine Terminatoren

Täglich lernen meine Kinder Neues über das Leben. Neulich lernten sie zum Beispiel die Uhrzeit. Sie erkannten hinter dem Pendel der Wanduhr, das man so leicht mit einem Pantoffelwurf zum Stoppen bringen kann, die Vergänglichkeit der Zeit, die trotzdem immer weiter läuft und jede Sekunde neu ist, obwohl sie der alten zum Verwechseln ähnlich bleibt. Dieses Wissen präsentierten sie mit einigem Stolz. Alle fünf Minuten rief Nicole zu mir ins Arbeitszimmer: »Frag mich doch, wie spät es ist!«

Ich war gerade mit meinem kaputten Computer beschäftigt, der ein eigenes Selbstbewusstsein entwickelt hatte und sich seitdem jedes Mal abschaltete, wenn ich etwas schreiben wollte. »Na gut, sag mir, wie spät es ist!«, rief ich aus dem Arbeitszimmer.

»Kurz vor acht!«, antwortete Nicole bedeutungsvoll, um nach fünf Minuten schon wieder zu fragen:

»Und jetzt? Weißt du, wie spät es jetzt ist?«

»Es ist wahrscheinlich fünf Minuten später geworden«, vermutete ich.

Der Rest des Abends verlief zügig im Fünfminutentakt. Draußen auf der Straße gingen die Kinobesucher zu Terminator 3 - Krieg der Maschinen. Im Film entwickeln die Computer auch ein eigenes Bewusstsein, nur anders als meiner schalten sie sich nicht aus, sondern ein und metzeln die gesamte Menschheit nieder. Mein Computer ist dafür zu faul und lernunfähig. Ich vermisse bei ihm den künstlichen Intellekt. Er könnte, wenn er wollte, von mir lernen und selbst lustige Geschichten aus dem Leben russischer oder meinetwegen koreanischer Emigranten in Deutschland schreiben, und ich würde ihm Kaffee kochen und

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Zigaretten anzünden. Doch die neuesten Erkenntnisse über künstliche Intelligenz legen nahe: »Intelligence must have a body.« Und deswegen kann sich zum Beispiel Schwarzenegger selbstständig umprogrammieren und mein doofer Schlepptop nicht.

Sebastian, der sich eigentlich nur für Pokémons und Digimons interessiert, ist nun auch von Schwarzenegger stark beeindruckt – sein Body und seine Intelligenz lassen vermuten, dass er zu den coolsten Pokémons der Erde zählt. Aber Sebastian darf den Film noch nicht sehen.

»Das ist ein Film für Kinder ab sechzehn, und du bist erst halb fünf«, sagte Nicole zu ihm. Obwohl sie selbst erst kurz vor sieben ist, weiß das Mädchen über alles Bescheid. An diesen Kindern merke ich, wie schnell die Zeit vergeht: Eben war sie noch halb sechs, morgen muss sie schon zur Schule gehen. Man kann die Zeit nicht stoppen, aber durchaus etwas langsamer fließen lassen, wenn man sie nicht mit den Uhren und Kindern, sondern mit den Terminatoren misst.

Ich war Viertel nach achtzehn, als der erste in mein Leben trat. Damals hatte man in der Sowjetunion gerade Videoabspielgeräte erfunden. Das Modell »Elektronika WM12« eroberte schnell den sozialistischen Markt. Man konnte ihn in jedem Elektronikladen relativ preiswert kaufen. Allerdings gab es dazu keine Videofilme außer Schwanensee und Peter der Große. Die richtigen Streifen waren dagegen nur im Ausland oder auf dem Schwarzmarkt zu kriegen.

Mein Freund und Nachbar Alexander, der damals, obwohl auch erst Viertel nach achtzehn, schon alle Eigenschaften eines ausgewachsenen Geschäftsmannes besaß, eröffnete bei sich zu Hause einen illegalen Videosalon. Für drei Rubel konnte man bei ihm großes amerikanisches Kino sehen. Alex akzeptierte Gruppenrabatte, servierte kaltes Bier aus dem Kühlschrank und hatte drei Filme auf Lager: einen Bud-Spencer-Rülpser-Thriller,

Rambo – das erste Blut und den Terminator 1. Seine Geschäfts-

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idee sprach sich schnell in der Gegend herum, und unser korrupter Abschnittsbevollmächtigter – oder auf Westdeutsch: »Kontaktbereichsbeamter« – schaute regelmäßig bei Alexander vorbei. Er nahm sich ein Bier aus dem Kühlschrank, etwas Geld aus der Kasse und sagte zum Abschied jedes Mal: »Ich komme wieder«, woraus wir messerscharf schlossen, dass diese Dumpfbacke den Terminator ebenfalls gesehen hatte. »Auch den Bullen ist nichts Menschliches fremd«, philosophierte Alexander.

Dem zweiten Terminator begegnete ich sieben Jahre später in Berlin, 1991. Ich versuchte als Langzeitarbeitslosen-Azubi mit anderen Langzeitarbeitslosen im Prenzlauer Berg Kontakt aufzunehmen, um Erfahrungen auszutauschen. Zu diesem Zweck besuchte ich regelmäßig den Videoverleih in der Lychener Straße. Jeden Tag saßen dort am Tresen die Freunde des blutigen Actionfilms und diskutierten dort das Verhalten der für sie zuständigen Sachbearbeiter beim Sozialamt. Schwarzenegger schaute ihnen aus der Glotze zu. In dem Streifen wurde er umprogrammiert, um Menschen zu helfen. Aber nicht allen Menschen: denen in der Lychener Straße konnte er nicht helfen. »Hasta la vista, baby«, tröstete er sie.

Zwölf Jahre sind seitdem vergangen. Der Terminator 3 kämpft nun auf der Seite aller Menschen. Sein Body und seine künstliche Intelligenz scheinen sich in den zwölf Jahren nicht wesentlich verändert zu haben, aber er sagt solche komischen Sätze wie: »Sprich zu der Hand!«, und schaltet sich plötzlich mitten im Film automatisch aus. Schlechte Software. Genau wie meine Kiste zu Hause.

»Die Maschinen werden immer dämlicher, wir werden siegen«, tippe ich in meinen Laptop. Es ist fünf nach Terminator drei, ich schalte alles aus.

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Krieg und Frieden in der Bildung

Aufmerksam verfolgten wir die Debatte über die deutsche Bildung. Unsere Kinder, der Junge ist vier und das Mädchen sechs Jahre alt, werden bald auch in eine deutsche Schule gehen müssen. Den zahlreichen Medienberichten, die Angst und Schrecken vor dem deutschen Schulwesen verbreiteten, schenkten wir keinen Glauben, weil die Medien immer auf Krawall aus sind und oft und gerne übertreiben. Stattdessen sprachen wir mit unseren Nachbarn und mit Freunden und Bekannten, die Kinder im schulpflichtigen Alter haben. Wir wollten alles genau wissen. Wie blöd sind die deutschen Schüler wirklich? Wie gut sind sie bewaffnet? Was nehmen sie für Drogen?

»Alles halb so schlimm«, meinten unisono alle Eltern, »die Schule ist eben so, wie man sie aus der eigenen Kindheit kennt.« Ob in Moskau oder in Berlin mache keinen Unterschied. Wichtig sei allerdings, dass die Kinder bereits vor der Schule über bestimmte Kenntnisse verfügen, das heißt, dass sie zum Beispiel schon lesen, schreiben und rechnen können. Die Statistik zeige, dass Kinder, die im Vorschulalter rechnen und schreiben können, es auch noch nach der Schule tun – egal, wie dämlich diese war. Diese wichtige Kulturleistung müssten aber die Eltern ihnen persönlich beibringen – und nicht dem Staat überlassen, erklärten uns unsere Freunde.

Also kauften wir große Stapel Papier, Buntstifte und machten aus unserer Wohnung eine gemütliche Vorschule. Schon bald konnte Sebastian »Mama« schreiben und auch »Mamam«. Nicole verfasste sogar einen ganzen Liebesbrief an einen Freund aus der Kita: »Lieber Miron, bei uns im Keller gibt es fette Schaben, ich liebe dich. Nicole.« Auch bei den vier Grundrechenarten kamen die beiden ziemlich schnell voran. Sebastian konnte bis zehn, Nicole bis hundert zählen. Bald mischte sich

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die ganze Familie in den Unterricht ein, und Oma und Opa überschütteten ihre Enkelkinder mit immer neuen Rechenaufgaben: »Der Großvater hat innerhalb einer Woche drei Sechserpack Bier gekauft, wie viele Flaschen pro Tag säuft der Großvater also?«, fragte die Oma. »Die Großmutter verbringt jeden Tag sechs Stunden vor der Glotze«, konterte der Opa, »wie lange sieht die Großmutter pro Woche fern?«

Unsere Kinder lernten schnell. Nun, dachte ich, zum Wissensgut der neuen Generation gehört zweifellos auch der Umgang mit den interaktiven Medien. Die Kinder müssen ins Netz, bevor sie in die Schule gehen! Im russischen Internet fand ich dazu eine passende Seite: »Online-Lehrspiele für Kinder von 3 bis 6«. Das erste Spiel hieß: »Dein Geburtshaus brennt«. Eine blonde Krankenschwester musste möglichst viele Babys aus der brennenden Gynäkologie retten. Die Babys fielen aus den Fenstern, die Krankenschwester fing sie mit einem Tuch auf. Brennende Fernsehgeräte, große Steine und andere Dinge, die ebenfalls aus den Fenstern fielen, aber nicht wie Babys aussahen, sollte sie dagegen meiden. Bekam die Krankenschwester einen Fernseher auf den Kopf, musste sie eine Minute pausieren.

Ich bin eigentlich ein guter Spieler: Vor zehn Jahren erledigte ich haufenweise Ungeheuer im Computerspiel »Doom« und flog stundenlange Einsätze mit einer F117 gegen den Irak und Palästina. Von den möglichen dreißig Babys rettete ich locker fünfundzwanzig. Wenn aber zwei Babys gleichzeitig aus verschiedenen Fenstern fielen, machte eines davon »Plumps«, und auf dem Asphalt bildete sich eine blutrote Pfütze.

»Wo sind die Babys nach dem ›Plumps‹ hin?«, fragte meine Tochter mit zitternder Stimme.

»Keine Sorge, sie bleiben im Internet«, murmelte ich.

Auch die anderen Spiele erwiesen sich als absolute Schweinerei. In einem kam Graf Dracula aus dem Grab und grunzte wie ein Ferkel. Daraufhin bekam er von uns eine Ladung Silber

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direkt ins Herz und fiel in sein Grab zurück. Doch keine Sekunde verging, schon stand er wieder auf der Matte und grunzte. Die blöde Online-Sau war unsterblich. In dem dritten Spiel lief das gelbe Teletubby Lala Amok. Mit zwei Maschinengewehren in der Hand stürmte Lala das Teletubby-Häuschen und metzelte alle ihre Freunde nieder; sie wehrten sich nicht einmal und sagten nur jedes Mal »O-o!«, wenn sie getroffen wurden.

Der Lehrgang »Interaktive Medien« machte uns also keine große Freude und sorgte für einige schlaflose Nächte in der Familie. Die Kleinen hatten Angst vor Albträumen und blieben lange wach; ich nutzte die Nacht, um Dracula in Abwesenheit der Kinder bloßzustellen, mit anderen Waffen und anderen Strategien. Man muss alle Gefahren, die auf die Kinder in der Zukunft warten, gut kennen, nur dann ist man ein guter Vater, sagte ich mir – und ballerte weiter auf Dracula. Leider vergeblich. Er war tatsächlich unsterblich!

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