Добавил:
Upload Опубликованный материал нарушает ваши авторские права? Сообщите нам.
Вуз: Предмет: Файл:
каминер ich mach mir sorgen,mama.pdf
Скачиваний:
41
Добавлен:
23.03.2015
Размер:
513.48 Кб
Скачать

Immer lebe die Sonne

Seit meine Eltern umgezogen sind, haben sie eine merkwürdige Sehnsucht entwickelt. Sie erinnern sich oft und gerne an den verrückten Nachbarn aus ihrem alten Haus. Obwohl dieser ihnen ständig auf den Geist gegangen war und manchmal sogar recht gefährliche Sachen angestellt hatte. Anfangs hatte er meinen Eltern quasi-offizielle Briefe geschrieben: »Ich weiß, dass Sie nachts russisches Radio hören, ich höre alles mit! Pustj vsegda budet solnze!« Der verrückte Nachbar hielt meine Eltern wahrscheinlich für Bolschewisten, die auf ein geheimes Radiosignal warteten, um mit ihren von langer Hand geplanten Terroraktivitäten loszulegen. Warum sollten diese Menschen auch sonst russisches Radio hören, wenn nicht wegen des Codeworts. »Hier spricht das russische Radio: ›Pustj vsegda budet solnze!‹«, und dann fliegt der halbe Bezirk in die Luft – so stellte er sich das wahrscheinlich vor.

Meine Eltern reagierten gelassen. Einmal sahen sie, wie der Nachbar ihren gerade weggeworfenen Müll wieder aus der Tonne fischte und zu sich nach Hause schleppte, um ihn in Ruhe zu untersuchen.

»Er ist ein verrückter armer Mann, der nichts zu tun hat«, meinte meine Mutter mitleidig.

Dann rief aber eines Tages der verrückte arme Mann bei der Polizei an und behauptete, meine Eltern seien Kannibalen. Jedes Wochenende würden sie kleine Kinder in ihre Wohnung locken, und zwar jede Woche neue. Kein Kind hätte die Wohnung aber jemals wieder verlassen, behauptete der Nachbar. Zwei Polizisten klingelten daraufhin bei meinen Eltern. Als Erstes stießen sie auf meinen Vater, der nicht besonders gut Deutsch kann. Mein Vater rief mich an und erzählte verblüfft, seit fünfzehn Minuten

101

habe er zwei bewaffnete Polizisten in der Wohnung, die merkwürdige Gesten machten und auf den Kühlschrank zeigten.

»Ich verstehe nicht, was sie von mir wollen«, sagte er. Zum Glück kam in diesem Moment meine Mutter nach Hause und klärte die Polizisten auf.

»Das sind immer dieselben Kinder«, erklärte sie.

»Nämlich meine Enkelkinder, die uns besuchen kommen. Sie glauben doch diesem Verrückten nicht im Ernst.«

»Natürlich nicht«, sagten die Polizisten. »Dafür kennen wir den Mann schon zu lange. Dürfen wir uns trotzdem mal kurz bei Ihnen in der Küche umschauen?«

Sie blickten misstrauisch auf den großen Kühlschrank in der Ecke.

»Wollen Sie etwa nachschauen, ob da Kinder drin sind?«, lachte meine Mutter sie aus.

Die Polizisten verteidigten sich, es sei ihre Pflicht, alle Hinweise sorgfältig zu prüfen, auch die von verrückten Nachbarn. Denn es habe in der Vergangenheit schon oft solche Fälle gegeben, wo schlimme Verbrechen gerade mithilfe von total durchgeknallten Nachbarn aufgeklärt worden seien.

»Das sind in der Regel empfindliche, sensible Menschen, die mehr als die anderen merken«, erklärten die Polizisten meiner Mutter. »Aber wir werden ihm sagen, dass Sie in Ordnung sind.«

Abends stand der verrückte Nachbar auf dem Balkon, mit einem Bier in der einen Hand und einem kleinen Radiogerät in der anderen.

»Ich möchte, dass Sie es einfach wissen! Ich höre mit!« Er schüttelte bedeutungsvoll sein Radio. »Ich höre alles mit! Pustj vsegda budet solnze, alles klar?«

Und dann schrieb er meinen Eltern auch wieder Briefe. Einen veröffentlichte ich sogar in einer Zeitung – unter der Rubrik

102

»Deutsche Fundstücke«. So ging das fast drei Jahre lang.

Die neuen Nachbarn in der neuen Wohnung meiner Eltern sind freundlich und zurückhaltend, sie sind wahrscheinlich berufstätig und haben keine Lust auf russisches Radio. Nur der kleine Hund in der gegenüberliegenden Wohnung ist sehr empfindlich. Er fängt sofort laut an zu bellen, wenn meine Eltern nachts auf ein Radiosignal warten oder Kinder essen. Trotzdem langweilen sie sich ein wenig. Denn was ist schon ein nervöser Hund gegen einen richtig verrückten Nachbarn?

103

Kein Wort mehr über meine Tante

Ich darf nicht mehr über meine Tante schreiben. Schade eigentlich. Sonst haben wir uns immer so gut verstanden. Doch wenn es um irgendwelche Geschichten geht, wirkt sie neuerdings hart wie Granit und verbietet mir ausdrücklich, ihre Privatsphäre zu tangieren. Mein Vater dagegen freut sich jedes Mal, wenn er bei einer Lesung seinen Namen hört. Das halte ich für eine angemessene menschliche Reaktion. Er freut sich, obwohl er fast kein Deutsch versteht und ihm alle Geschichten, die ich über ihn geschrieben habe, eher schnuppe sind.

Über meine Tante habe ich eigentlich nur eine einzige Geschichte geschrieben. Sie hieß »Meine Tante auf der Schönhauser Allee« und war absolut harmlos. Doch sie meinte, ihr Leben hätte sich durch diese Geschichte abrupt verändert. Ihre Nachbarn begrüßten sie nun auf der Treppe und fragten sie über ihr Leben aus. Ihre Mitschüler auf der Sprachschule, die meine Tante seit acht Jahren besucht, hätten sich früher nie für ihre Gesundheit interessiert, jetzt aber würden sie sich stets erkundigen, wie es ihr ginge. Auch der Lehrer würde jedes Mal schmunzeln, wenn er sie sähe. Sogar ihre Zahnärztin hätte neulich irgendwie komisch geguckt, als meine Tante zu ihr kam.

Ich bezweifelte das. »Woher sollen all diese Menschen wissen, dass du meine einzige Tante bist, beziehungsweise die aus der Geschichte? Außerdem habe ich dich doch im Buch verfremdet und Schönhauser Allee statt Kreuzberg als Wohnort angegeben!«

»Das hat überhaupt nichts zu sagen, sie alle wissen, dass ich aus Odessa nach Düsseldorf und später nach Berlin gezogen bin. Wenn du noch ein weiteres Wort über mich schreibst, werde ich dich verklagen«, meinte sie.

104

Meinen großen Tantenroman kann ich nun vergessen. Dabei hätte ich so viel über meine Tante zu erzählen. Als Kind wurde ich jeden Sommer von meinen Eltern zu ihr nach Odessa geschickt. Dort, am Schwarzen Meer, sollte ich meine Schulferien verbringen. Meine Lieblingsbeschäftigung war aber nicht, mich an den Strand zu legen, sondern meine Tante zur Arbeit zu begleiten. Sie saß in einem städtischen Architekturbüro und fertigte Kanalisationsentwürfe an – zwanzig Jahre lang. Diese Beschäftigung war nicht besonders anstrengend. Mit ungefähr zwanzig weiteren Kolleginnen saß sie jeden Tag acht Stunden vor einem Reißbrett. Die Frauen tranken Tee, lasen Zeitungen und plauderten über ihr Privatleben. Auf jedem Reißbrett war ein großes Blatt mit komplizierten technischen Zeichnungen befestigt.

Bei meinem ersten Besuch zeichnete ich aus Spaß mit einem scharfen Bleistift einen kleinen Totenkopf mit Datum auf ihren Entwurf. Meine Tante merkte nichts. Im nächsten Sommer, als ich wieder nach Odessa kam und ins Büro meiner Tante ging, war der Totenkopf immer noch da. Und auch noch beim nächsten Mal. Erst nach drei Jahren offenbarte ich meiner Tante das Geheimnis. Meine Tante lachte nur darüber. Die staatliche Kanalisation funktionierte aber trotzdem anstandslos. So gewann ich meine ersten Erkenntnisse über die sozialistische Marktwirtschaft: Je weniger man an ihr herumbastelte, desto besser funktionierte sie!

Doch auch darüber darf ich nicht mehr schreiben. Also kein Wort mehr über meine Tante.

105

Соседние файлы в предмете [НЕСОРТИРОВАННОЕ]