Добавил:
Upload Опубликованный материал нарушает ваши авторские права? Сообщите нам.
Вуз: Предмет: Файл:
каминер ich mach mir sorgen,mama.pdf
Скачиваний:
41
Добавлен:
23.03.2015
Размер:
513.48 Кб
Скачать

Unsere Dialekte

»Wachsen eure Kinder deutsch oder russisch auf?«, fragte mich mein alter Bekannter Andrej, ein russischer Journalist.

Wir wussten es nicht so recht.

»Am wichtigsten sind immer die ersten Worte, die ein Kind von sich gibt«, klärte uns Andrej auf. »Wenn die ersten Worte russische waren, dann sind eure Kinder Russen«, meinte er.

Doch selbst diese einfachen Kriterien brachten in unserem Fall keine Klarheit. Denn die ersten Worte unserer Kinder waren international. Zuerst »Mama« und »Papa«, dann »Auto« und etwas später, ziemlich überraschend, »Idioten«. Letzteres wurde bei meinem Sohn Sebastian schnell zu einem Lieblingswort. Dabei hatte das Wort »Idioten« für ihn nichts Abwertendes, es war eher ein Grußwort. Wenn Sebastian gut ausgeschlafen in seinem Kinderwagen zum Kindergarten rollte, winkte er freundlich den Menschen auf der Straße zu und rief begeistert: »Idioten! Idioten!« Unserem Bekannten Andrej sagten wir, das sei hier so üblich, unsere Kinder sprächen »Berliner Dialekt«.

Trotzdem machten wir uns Sorgen. Wo hatte der kleine Junge nur ein solches Wort her? Bei uns zu Hause konnte er das nicht aufgeschnappt haben. Vielleicht im Kindergarten? Das hielt ich auch für ziemlich unwahrscheinlich, denn von den Erzieherinnen beziehungsweise Kindergartengenossen meines Sohnes hatte ich Derartiges noch nie gehört. Die einzige Quelle, die in Frage kam, war mein Vater, also Opa Vitja. Er hatte manchmal eine etwas depressive Lebenseinstellung, besonderes wenn er unter dem Einfluss eines Sechserpacks Berliner Kindl stand. Dann schimpfte er gelegentlich vor sich hin.

Doch der Opa stritt alles ab, niemals würde er sich in Anwesenheit von Minderjährigen solche Begriffe erlauben. Wenn die

153

Enkelkinder zu Besuch da wären, spräche er nur Hochrussisch, behauptete mein Vater. Er fühlte sich verleumdet und forderte eine Gegenüberstellung. Sebastian sagte weiterhin zu allem und allen »Idioten«.

»Du darfst so etwas zu den Leuten nicht sagen«, belehrte ich ihn. »Das sind Fußgänger.«

Dieses Wort war jedoch für ihn noch zu kompliziert, und etwas Besseres war mir nicht eingefallen. Also blieben wir beim »Berliner Dialekt«. Nicht nur die Menschen auf der Straße, auch die Nudeln auf dem Teller, Flugzeuge am Himmel und Seifenblasen auf dem Balkon waren »Idioten«.

Ich hatte ein schlechtes Gewissen, weil ich meinem Sohn keine gute Alternative für diesen umfassenden Begriff geben konnte. Ich musste selbst noch viel lernen. Gerade letzte Woche bekam ich von meiner Verlagslektorin das redigierte Manuskript meines neuen Romans zurück. »Lieber Wladimir«, schrieb mir die Lektorin, »in deinem neuen Roman kommt einundsiebzigmal das Wort ›Scheiße‹ vor. So etwas erwartet man von einem Kaminer nicht.« Deswegen hatte meine Lektorin fleißig einundsiebzigmal »Scheiße« in »Mist« umgeschrieben. In manchen Fällen gab ich ihr Recht, wenn zum Beispiel in einem Satz mehr als zweimal ein und dasselbe Wort vorkommt, dann wirkt es irgendwie arm. Sonst konnte ich mir die Sorgen meiner Lektorin nur mit »Münchner Dialekt« erklären. Denn mein Verlag sitzt in München und ich in Berlin. Zwischen beiden Städten liegen Welten. Zu jedem Scheiß sagte man in München Mist und bei uns umgekehrt. Was soll’s! Fast jeder hier hat einen eigenen Dialekt. Ich suchte laut nach neuen Worten.

»Idioten!«, sagte mein Sohn und lachte.

154

Fauna auf der Schönhauser Allee

Wer in einer Großstadt aufwächst, hat kaum Zugang zur Tierwelt. Wenn zum Beispiel meine Kinder in den Zoo gehen, sind sie ziemlich misstrauisch den dortigen Bewohnern gegenüber. Die staubigen Kamele, die ständig um sich kackenden Elefanten und die schlecht riechenden Löwen nehmen sie als Lebewesen fast gar nicht wahr. Viel vertrauter wirken auf sie dagegen die alten Bekannten aus dem Fernsehen: die mutige Biene Maja und der junge intelligente Hirsch Bambi oder die anderen sprechenden Tiere aus den Kinderbüchern. Sie sehen gut aus, tragen saubere Unterwäsche und riechen nicht nach vergammelten Fritten.

Deswegen haben meine Kinder von ihrem letzten Zoobesuch nur solche Erinnerungen behalten, die nichts mit der Fauna zu tun haben. Mein vierjähriger Sohn schwärmte noch lange von einem großen verrosteten Rohr, das dort in einer Ecke gelegen hatte und in das er hineingekrochen war, und meine Tochter war von der U-Bahn-Fahrt und der Fahrkarten-Kontrolle viel mehr beeindruckt als von den Tieren im Zoo. Mehr Herz für Tiere kann man von Großstadtkindern kaum erwarten, denn in ihrem alltäglichen Leben treffen sie so gut wie nie aufeinander. Die Fauna bei uns im Prenzlauer Berg ist recht karg. Es gibt nichts außer ein paar Heuschrecken und Ratten am Arnimplatz, die von dem dortigen Alkoholiker-Verband ernährt werden, und ein paar platt gefahrenen Tauben auf der Schönhauser Allee, die man den Kindern am besten gar nicht zeigen soll, weil sie ihre ursprüngliche Vogelform endgültig verloren haben und zum Zweck der Tierwelterklärung nicht mehr taugen.

Darüber hinaus kann man an manchen sonnigen Tagen mit Glück ein oder sogar mehrere Kaninchen im Ernst-Thälmann- Park an der S-Bahn-Kurve erwischen. Doch diese Viecher haben

155

keinen natürlichen Ursprung. Sie werden dort von den zahlreichen Kanincheninhabern des Bezirkes hingebracht, die einfach zu viel davon haben oder keinen Platz mehr auf dem Balkon. Im Ernst-Thälmann-Park vermehren sich die überflüssigen Kaninchen munter weiter. Immer wieder beobachte ich hier außerdem einen fetten Wellensittich, der auf dem Asphalt sitzt.

Diese kleinen niedlichen Wesen neigen dazu, aus Fenstern zu fallen. Wahrscheinlich wollen sie sich selbst und anderen beweisen, dass sie fliegen können. Und oft stimmt es sogar, sie können es. Nur wohin? Also sitzen sie da und überlegen. Sofort umkreisen Dutzende hungriger Spatzen einen solchen Wellensittich. Sie meinen es nicht gut mit ihm. Um in Prenzlauer Berg als Vogel zu überleben, muss man klein, schnell und asphaltgrau sein, keine Angst vor der Straßenbahn haben und im Flug einen halben Kilo schweren Döner Kebap aus den Händen von Fußgängern reißen können. Das kann ein Wellensittich nicht! Nein, das kann er nicht. Diese bunten Exoten haben auf der Straße keine Chance. Deswegen fliegen sie, wenn sie nicht blöd sind, zu den Rieselfeldern am Rande der Stadt und bilden dort Schwärme.

Mein Freund und Kollege Helmut Höge erzählte mir neulich, dass die wild gewordenen Wellensittiche an der Falkenberger Chaussee sogar alle andere Arten verdrängt haben und nun die Ränder von Lichtenberg dominieren. Und das ist wiederum das Gute an einer Großstadt, dass hier jede Fauna ein kleines Streifchen Erde für sich findet, wo sie dann weiterwachsen und gedeihen kann, wenn sie nicht von einem Laster überfahren wird.

156

Соседние файлы в предмете [НЕСОРТИРОВАННОЕ]