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Applikator Lapko

Die Medizin im Westen ist unaufdringlich. Man wird hier häufig nach dem so genannten Grippostad-Prinzip behandelt, mit Medikamenten, die die Leiden des Patienten mildern, ihn am Leben halten, aber nicht ganz heilen. Er muss noch einmal zum Arzt und noch einmal und am liebsten gleich dort bleiben, und wenn sein Schnupfen nicht von alleine verschwindet, dann machen wir ein Kardiogrammchen.

Ganz anders ist es in Russland, wo fast alle Menschen unversichert herumlaufen. Keiner wird dort für etwas Geld ausgeben, was möglicherweise in der Zukunft passieren könnte. »Was denn für eine Zukunft?«, sagen die Russen, wenn sie von einem Versicherungsagenten angesprochen werden. Sie leben hier und jetzt und haben eine ganz andere Sorge: alles rechtzeitig ausgeben, aufessen und austrinken – bis hin zum Toilettenpapier und zur Glühbirne. Das Licht muss aus sein, bevor man diese Welt endgültig verlässt.

Wenn sie krank werden, wollen sie kein »Kardiogrammchen« und keinen »Kommen-Sie-morgen-wieder«-Unsinn hören, sondern fordern ihre ultimative Heilung – sofort. Die Medizin muss sich nach den Wünschen der Patienten richten, also kommt jeden Monat irgendwo in Russland ein neues Wundermittel auf den Markt. Die Berichte darüber füllen die Zeitungsseiten. Sei es ein Balsam »Doktor Schiwago« oder ein heilender Topf von Oma Tamara aus der Tundra. Ihr ganzes Leben widmete Oma Tamara der Suche nach heilenden Extrakten, jahrelang hatte sie bis zur absoluten Verzweiflung Biberkot mit wilder Petersilie zusammengekocht, aber dann aus Versehen irgendetwas irgendwohin geschüttet, und plötzlich ist das Wundermittel da. Damit geht sie in das örtliche Krankenhaus, verteilt ihren

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Extrakt an die hoffnungslosesten Patienten, und wenn sie nicht gleich gestorben sind, dann leben sie noch heute.

Die Menschen lesen die Zeitung, gehen in die Apotheke, kaufen die Dosen mit der Aufschrift »Geheimes Tundra-Rezept von Oma Tamara – hilft gegen alles, kostet fast nichts«. Aber nach einer gewissen Zeit lässt die Begeisterung nach. Die gleichen Zeitungen veröffentlichen Berichte skeptischer Professoren:

»Das mit der Oma war ein netter Versuch, aber es gibt wohl doch keine Medizin auf der Welt, die uns ein für alle Mal von allen unseren Leiden erlösen wird«, schreiben sie.

»Spinner! Klugscheißer!«, regen sich die Leser auf.

»Haben bestimmt etwas vor uns verheimlicht, werden selbst alle hundert Jahre alt, und wir müssen sterben!«

Dann aber kommt ein neues Wundermittel auf den Markt, und alles fängt wieder von vorne an. Einige Wundermittel schicken unsere Freunde und Verwandte zu uns ins weit entfernte Ausland, weil sie sich Sorgen um unsere Gesundheit machen. Sie wissen, dass es im Westen keine Wundermittel gibt, nur Lutschbonbons gegen Husten, Grippostad und Paracetamol.

Neulich bekamen wir aus Russland »Applikator Lapko« – eine revolutionäre Erfindung von einem genialen Reflextherapeuten aus der Bergarbeiterstadt Donezk. Laut Gebrauchsanweisung kann Applikator Lapko Wunder bewirken. Die Übergewichtigen verlieren ihr Gewicht, die Magersüchtigen werden dick. Außerdem hilft es gegen Hämorriden, gegen Erkältung, Stress, Kopfund Rückenschmerzen.

»Die einzige medizinische Erfindung aus Russland, die sich bereits auf der ganzen Welt – in Amerika, Australien und Europa – großer Beliebtheit erfreut: dein treuer Freund, der Applikator Lapko«, stand auf der Verpackung.

Wir haben dieses Gerät mit großem Misstrauen ausgepackt. Wir leben schon lange in Europa, hatten aber bisher noch nie

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etwas davon gehört. Es lag eine Woche lang auf dem Tisch in meinem Arbeitszimmer, und jeder Gast, der zufällig hereinkam, erschrak sich. Da musste man ihm natürlich erklären, was der Applikator Lapko eigentlich ist: Ein mittelgroßes Brett, das mit ungefähr dreitausend scharfen Nadeln gespickt ist. Die Nadeln bestehen aus sieben verschiedenen, harten Metallen, von Zink bis Stahl, die unser Organismus nach Überzeugung des Erfinders unbedingt braucht. Je nachdem, was man für Beschwerden hat, muss man sich auf das Brett legen oder sich darauf setzen. Gegen Kopfschmerzen wird ein Kopfstand auf dem Brett empfohlen, gegen Stress ein Sprung.

Na ja, dachten wir, dieser Erfinder, Herr Lapko, ist bestimmt ein lustiger Zeitgenosse, er muss höllisch gelacht haben bei der Vorstellung, wie die ganze kranke Bevölkerung auf seine Nadeln springt. Aber ob Kopfschmerzen oder Rückenschmerzen, keiner von uns wollte dieses Wundermittel ausprobieren.

Unser Kater Fjodor Dostojewski wagte schließlich einen Anfang. Fjodor litt schon seit Ewigkeiten unter psychischen Störungen und konnte sich keine Sekunde an einer Stelle aufhalten. Tag und Nacht sprang er wie eine Bestie durch die Wohnung und miaute. Wir waren mit ihm deswegen sogar schon beim Tierarzt gewesen, der zu uns das Übliche sagte: Die Ursache für Fjodors Verhalten sei Stress, weil die armen Wohnungskätzchen alles in sich hineinfräßen. Aber das mache nichts, wir würden einfach ein Kardiogrammchen machen, ihm eine Blutprobe abnehmen, und dann würden wir mal sehen.

Wir versuchten, dem Arzt sachlich zu erklären, dass unsere Katze vom unruhigen Geist des verrückten Schriftstellers Fjodor Dostojewski heimgesucht wurde und kein Kardiogrammchen, sondern einen Exorzismus brauchte. Aber der Arzt wollte nicht auf uns hören. »Kardiogrammchen, Kardiogrammchen«, sagte er nur. Wir verzichteten. Also sprang Fjodor weiterhin wie verrückt durch die Wohnung. Bis er einmal, eher aus Versehen, auf dem Applikator Lapko landete und erstarrte.

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Wir saßen in der Küche und bemerkten zunächst nichts. Aber nach einer Weile wunderten wir uns, dass es so ungewöhnlich still in der Wohnung war. Auch die Kinder horchten erstaunt auf. Das übliche Gerenne und Gemaule von Dostojewski war nicht mehr zu hören.

»Fjodor, Kleiner, wo bist du?«, rief meine Frau. Die Antwort war Stille. Wir gingen durch die Wohnung und fanden ihn im Arbeitszimmer. Wahrscheinlich wollte er vom Monitor auf den Tisch springen. Nun stand Fjodor auf dem Applikator Lapko, ungewöhnlich aufgerichtet wie ein Adler. Fjodors Fell war gesträubt und stand senkrecht nach oben, in seinen großen Augen funkelten bunte Sternchen. Man konnte fast sehen, wie die gesunden Säfte aus dem Applikator in unseren Kater strömten. Alles an seiner Haltung deutete darauf hin, dass er voll auf dem Gesundheitstrip war. Wir wussten nicht, wie lange er schon auf dem Gerät stand – die Broschüre empfahl maximal fünfzehn Minuten. Vielleicht waren es bei Fjodor nur zehn gewesen, aber die Wirkung war nicht zu übersehen. Der Applikator hatte ihn vom Stress befreit.

Wir stellten den Kater vorsichtig auf den Fußboden. Fjodor blieb für einige Sekunden stehen und ging dann mit ungewöhnlich würdigen und langsamen Schritten in Richtung Toilette. Er war offensichtlich von seinem Leiden erlöst. Wir waren stolz auf das russische Wundermittel.

»Und die sagen hier immer Kardiogrammchen, Kardiogrammchen«, meinte meine Frau verächtlich.

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