
- •Sprachsystem und Sprachverwendung
- •Der Begriff des Sprachstils
- •Stilistische Prinzipien und Möglichkeiten der Textgestaltung
- •Stilistische Erfordernisse der Textgestaltung
- •Variation und Wechsel
- •Stilmittel im Rahmen des Satzbaus
- •Erweiterte Sätze
- •Satzgefüge
- •Satz- und Satzgliedreihungen
- •Die stilistische Bedeutung der Satzarten
- •Der Aussagesatz
- •Der Ausrufesatz
- •Der Aufforderungssatz
- •Der Fragesatz
- •Die Wortstellung im Satz als stilistisches Mittel
- •Er gab dem Freunde das Buch. – Er gab das Buch dem Freunde. –
- •Die Freiheit reizte mich und das Vermögen
- •Der hat ein armes Mädel Mädel jung
- •Stilistisch wichtige Abwandlungen der Satzgestalt
- •Veränderungen einfacher Satzformen
- •Reduktionen der Grundformen des Satzes
- •Satzabbruch (Aposiopese)
- •Auslassungen des finiten Verbs, des Objekts oder Subjekts
- •Erweiterungen der Grundform
- •Die Nominalgruppe
- •Der Artikel
- •Das erweiterte attributive Adjektiv
- •Das Adverb zum Adjektivattribut
- •Appositionen
- •Substantivische Attribute
- •Adverbialattribut
- •Erweiterungen der Prädikatsgruppe im Satz
- •Erweiterungen durch andere Verbkonstruktionen
- •Unterbrechungen der Satzkonstruktion
- •Prolepse
- •Anakoluth
- •Parenthese
- •Nachtrag
- •Umwandlungen der Satzform Satzglieder und Gliedsätze
- •Die Satzgefüge
- •Die Periode (mehrfach zusammengesetzter Satz)
- •Die Redeformen als stilistische Gestaltungsweisen
- •Satzzeichen und Typographie als Stilmittel
- •Möglichkeiten der Umformung oder des Wechsels grammatischer Kategorien als Stilmittel
- •Stilprobleme der Wortartendifferenzierung
- •Stilistische Varianten in der Wortbildung der Wortarten
- •Wechsel der Kasusrektionen
- •Grammatische Varianten innerhalb des Verbsystems
- •Möglichkeiten des Wechsels im Tempussystem
- •Präsens (Gegenwartsform, 1. Stammform)
- •Perfekt
- •Präteritum (Imperfekt)
- •Plusquamperfekt (vollendete Vergangenheit)
- •Die Aussageweisen (Modi) als stilistisches Mittel
- •Der Indikativ
- •Der Konjunktiv
- •Aktiv und Passiv
- •Die Verwendung des Passivs
- •Weitere grammatisch-stilistische Varianten
- •Stilmittel des Wortschatzes Die Bedeutung der Wortwahl für den Sprachstil
- •Wort und Wortbedeutung als Stilmittel
- •Kommunikative und stilistische Erfordernisse der Wortwahl
- •Die funktionale und stilistische Differenzierung des Wortschatzes und die Stilwerte der Wortgruppen
- •Wortbildungstypen als Stilmittel
- •Wörter mit gleichem Wortstamm als Stilmittel
- •Die Wortarten als Stilmittel
- •Das Substantiv als Stilmittel
- •Substantivische Wortbildungen
- •Substantivischer Stil
- •Stilwerte des Adjektivs
- •Aber mit zauberisch fesselndem Blicke
- •Stilwerte des Verbs
- •Der Stilwert des Adverbs
- •Der Stilwert des Artikels
- •Aber sag doch einer, wo der Moor bleibt?
- •Stilwerte der Personal- und Possessivpronomen
- •Stilweite des allgemeinen und des besonderen Wortschatzes
- •Der allgemeine Wortschatz der Hoch- und Schriftsprache
- •Die Gruppen des besonderen Wortschatzes im Deutschen
- •Stilfärbungen
- •Wörter mit besonderer Zeitgeltung
- •Der Fachwortschatz und seine stilistische Bedeutung
- •Stilwerte des landschaftlich gebundenen Wortschatzes
- •Stileinheit und Gruppenwortschatz
- •Fremdwörter als Stilmittel
- •Die Bildlichkeit in Wortschatz und Redewendungen als Stilmittel
- •Unmittelbare sprachliche Bilder
- •Mittelbare sprachliche Bilder
- •Der Vergleich
- •Die Metapher
- •Die Chiffre
- •Personifikation und Synästhesie
- •Allegorie und Symbol
- •Umschreibungen (Periphrasen)
- •Untertreibungen und Übertretungen
- •Wortkombinationen als Stilmittel
- •Prosa-Textsorten und ihre stilistischen Besonderheiten
- •Brieflich-mitteilende Formen
- •Berichtende Formen
- •Beschreibende Formen
- •Erläuternde Texte
- •Bindende Texte
- •Ansprechende Texte
- •Erörternde Texte
- •Schildernde Texte
- •Mischformen
- •Stillehre, Stilpflege, Stilkritik, Stilanalyse und Stilinterpretation
- •Stillehre
- •Stilregeln und ihre Gültigkeit
- •Stilpflege
- •Stilkritik
- •Stilanalyse und Stilinterpretation
- •Anmerkungen
- •I. Sprachsystem und Sprachverwendung
- •II. Der Begriff des Sprachstils
- •III. Stilistische Prinzipien und Möglichkeiten der Textgestaltung
- •V. Stilistisch wichtige Abwandlungen der Satzgestalt
- •VI. Möglichkeiten der Umformung oder des Wechsels grammatischer Kategorien als Stilmittel
- •VII. Stilmittel des Wortschatzes
- •VIII. Stilmittel der Lautung und des Rhythmus
- •IX. Das Zusammenwirken der Stilmittel
- •X. Stillehre, Stilpflege, Stilkritik, Stilanalyse und Stilinterpretation
- •Literatur zur Stilistik (Auswahl)
- •Glossar stilistischer Begriffe
- •Sachregister
Reduktionen der Grundformen des Satzes
Bei den Reduktionen der Satztypen handelt es sich um Sätze (Haupt- oder Gliedsätze) oder satzartige Formen, die ein notwendiges Satzglied oder mehrere auslassen. Solche unvollständigen Sätze sind vor allem im mündlichen Redegebrauch recht häufig, wo sich die Specher in der Erregung oder aufgrund sprachlicher Ökonomie oft mit Satzfragmenten begnügen, zumal hier Situation, Kontext oder Gestik das Fehlende verdeutlichen.
Aus dem mündlichen Sprachgebrauch dringen solche Formen auch in die Schriftsprache, besonders wenn die Redeweise bestimmter Personen in Erzähltexten oder Dramen gespiegelt werden soll.
Bereits die antike Rhetorik kannte solche stilistisch wichtigen Formen der Satzreduktion (detractio) unter den Begriffen der Aposiopese (reticentia, interruptio) und Ellipse. Auch im deutschen Sprachgebrauch lassen sich mehrere Formen der Satzreduktion feststellen: Satzabbruch; Auslassung des Verbs, Objekts oder Subjekts; Reduktion auf das Sinnwort; Isolierung einzelner Satzglieder.
111
Satzabbruch (Aposiopese)
Der Satzabbruch kann verschieden motiviert sein und verschiedene Stil-wirkungen zeitigen. Wir unterscheiden hier zwischen einer situativ bedingten, einer andeutenden und einer apotropäischen Aposiopese. In allen drei Fällen wird ein strukturell vollständiger Satz begonnen, aber nicht zu Ende geführt. Für eine sinnvolle Kommunikation ist es erforderlich, daß aus dem artikulierten Satzanfang die geplante Fortführung erkennbar bleibt oder zumindest aufgrund des Vorwissens der Redepartner oder aus der Situation vermutet werden kann.
Dem situativ bedingten Satzabbruch können unterschiedliche Ursachen zu-grunde liegen: 1. Die Erregung des Sprechers, wenn er mehrere Gedanken zugleich äußern will oder nach dem rechten Ausdruck sucht und mehrere Ansätze häuft:
Bengtsen: »Ich sagte schon ... da sind keine Fischer.«
Grove: »Aber vielleicht doch ... einer vielleicht, ein einziger ...
Bei Sonnenaufgang fahren sie doch sonst hinaus ...«
(F. v. Hoerschelmann, »Das Schiff Esperanza«)
2. Auch die Unsicherheit, das bloße Vermuten, kann einen Sprecher zum Abbruch veranlassen:
Sie sehen wie ein Ausländer aus.
Chrantox: Ich bin einer.
Träger: Sie sprechen gut deutsch, fast ... ich meine ... nun ... (bricht ab)
(H. Böll, »Eine Stunde Aufenthalt«)
3. Eine Verlegenheits- oder Vorsichtsreaktion des Sprechers, die ihn zum Abbruch eines Sprechansatzes zwingt:
Diener: Gnädige Frau, ich ... es ist mir sehr.. . (hüstelt) aber ich habe von Herrn Doktor die strikte Anweisung, darauf zu achten, daß Sie sich schonen, Sie wissen, der Arzt ...
Frau Borsig: Ich weiß, was der Arzt gesagt hat ...
(H. Böll, »Zum Tee bei Dr. Borsig«)
4. Die Unterbrechung des Sprechers durch die Zwischenrede eines anderen:
Frau Borsig: ... (heftig) Wissen Sie, was Pandotal ist?
Franziska: Als ich noch ein kleines Mädchen war, wußte ich schon, was Pandotal ist: es ist ...
Frau Borsig (unterbricht sie heftig): Es ist Suggestion ...
(H. Böll, »Zum Tee bei Dr. Borsig«)
Die Satzabbrüche zwingen den Leser oder Hörer zu Vermutungen über die ursprüngliche Ausdrucksabsicht; manchmal auch zum Nachdenken über den tieferen Grund solcher Abbruche. Damit steigern sie die inhaltliche Aussage, übertragen aber auch die Erregung der Redepartner auf den Leser und verleihen so dem Text eine größere Spannung.
Die Erkennbarkeit dei Gemeinten bei manchen situativ bedingten Satzabbrüchen rückt diese bereits in die Nähe der andeutenden Aposiopese, in der meist in ruhigerer Redeweise, bestimmte Wörter nicht ausgesprochen werden, sei es aus Sorge vor dem Mithören uneingeweihter Dritter, sei es aus
112
einer gesellschaftlichen Scheu, Unangenehmes sagen zu müssen, oder sei es aus der Berechnung, daß die bloße Andeutung (beispielsweise einer Drohung) bereits die erhoffte Wirkung zeitigt:
In Kleists »Robert Guiscard« bemühen sich die Begleiter Guiscards, ihm zu helfen und gleichzeitig seine Krankheit vor dem Heer zu vertuschen:
Die Herzogin (leise): Willst du – ?
Robert: Begehrst du – ?
Fehlt dir – ?
Die Herzogin: Gott im Himmel!
(Kleist, »Robert Guiscard«)
Auch in der Umgangssprache sind solche Andeutungen durch Satzabbrüche nicht selten:
Wenn du jetzt nicht kommst, dann ... !
Der apotropäische (unheilabwehrende) Satzabbruch ist heute nur noch in Redewendungen üblich, die einen Fluch oder eine Verwünschung andeuten. Als Subjekt solcher Sätze war früher meistens der Teufel (Satan, das Böse, Luzifer usw.) gemeint, dessen Namen man jedoch aus Scheu mied, weil man glaubte, mit der Namensnennung den bösen Geist herbeizurufen und sich selbst zu gefährden. Man ließ daher den Namen des Bösen aus, falls man ihn nicht durch ein harmloses oder positiv wirkendes Ersatzwort, wie z.B. »der Böse«, »der Schwarze«, »der Gottseibeiuns» nannte. Derartige Satzabbrüche verloren später zumeist ihren verwünschenden Gehalt, werden aber heute in der Volkssprache oft noch als verbale Reaktion bei unerwarteten, unerwünschten Ereignissen verwendet:
Daß dich der ... !
Da schlage doch der – !
Situative und andeutende Satzabbrüche waren besonders zu Beginn des 19. Jhs. in der Literatur beliebt. Überstrapaziert wurde dieses Stilmittel durch H. Clauren (Carl Heun, 1771–1854), den Verfasser zahlreicher Unterhaltungsromane. W. Hauff parodierte solche Formen der Kitschliteratur, die besonders gern Aposiopesen verwandten, mit folgender Passage in »Der Mann im Mond«:
... er beugt das gramvolle, wehmütige Gesicht über sie hin, heiße Tränen stürzen aus seinem glühenden Auge herab auf ihre glühenden Wangen, er wölbt den würzigen Mund – er will sie kü ...3
Auch H. Heine verwendet die Aposiopese häufig, z.B., wenn er eine unerwartete Wendung verstärken will, wenn der Kontext den Ausdruck starker Empfindung erwarten ließe oder er selbst etwas Unangenehmes sagen müßte. Durch den plötzlichen Abbruch aber zwingt er den Leser zum Nachdenken.
Überdies schien jetzt der Mond so zweideutig ins Zimmer herein, an der Wand bewegten sich allerlei unberufene Schatten, und als ich mich im Bett aufrichtete, um hinzusehen, erblickte ich –
Es gibt nichts unheimlicheres, als wenn man, bei Mondschein, das eigene Gesicht zufällig im Spiegel sieht. (»Die Harzreise«)
113
Die andeutend-verhüllende Aussageform des Satzabbruchs wird von einzelnen Dramatikern gern genutzt, um durch diese schwebende Sprachform die szenische Spannung zu erhöhen.
Walter: ... kann jemand anders hier im Orte nicht – ?
Adam: Nein, in der Tat –
Walter: Der Prediger vielleicht.
Adam: Der Prediger? Der –
Walter: Oder Schulmeister.
(H. v. Kleist, »Der zerbrochene Krug«)