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Schnauze voll von der Nation

Wir haben Angst vor "Überfremdung". Erinnern uns aber nicht mehr, dass unsere Ahnen dies Land durch brutalstmögliche Überfremdung keltischer Urbevölkerung eroberten. Den Christengott musste man uns Heiden spät und oft mit dem Schwert einhämmern. Heute erwarten wir flammende Bekenntnisse von Andersgläubigen. Wir erlitten den Dreißigjährigen Krieg, der schätzungsweise ein Drittel der Bewohner deutscher Länder mordete, vom Rest fraß die Pest. Ein nationales Jahrtausendtrauma, mit dem wir längst so umgehen, wie's allseits auf die Nazi-Zeit bezogen schallt: Man möge doch bitte die Vergangenheit ruhen lassen.

Dass die Deutschen damals Söldnerheere aus aller Welt zu Gast bei Feinden hatten, jede Art religiöser Vormacht und nationalstaatlicher Ordnung als blutigstes Gemetzel erfuhren, wurde ins kollektive Unterbewusstsein weggesperrt. Stattdessen wird von "verspäteter Nation" gesprochen: als Erklärung für alles und Bismarck, Wilhelm, Hitler.

Dabei spricht vieles dafür, dass wir die Schnauze von Nation schon voll hatten, bevor wir eine waren.

Das Land als Patient

Nun, es soll doch auch mal gut sein mit dem ganzen alten Mist. Wenn Deutsche das sagen, klingt es aber leider oft, als hätten sie schon tolle Ideen für schicken neuen Mist. Kann man wissen, wer man ist - wenn man nicht wissen möchte, wer man war? Wir möchten endlich gern menschlich sein. Kanzlerin Merkel eröffnet eine Ausstellung "Deutsche Geschichte in Bildern und Zeugnissen" aus zwei Jahrtausenden. Die zeigt, dass es im Wortsinne deutsche Geschichte erst 500 Jahre gibt.

Wir haben es wieder mal eilig. Unsere Armee marschiert schwer pazifistisch los, bis dass der Hindu kuscht. Als Asylbewerber hätte Willy Brandt heute in Deutschland keine Chance. Wir wollen nationale Polizei und das Heer im Inneren, weil wir mächtig viel schlauer sind als noch unsere Großeltern. Bald schaffen wir Wehrpflicht und Zivildienst ab. Wir hängen unser Fähnchen in den Wind, weil das vielleicht nicht normal ist, aber halt sehr normal aussieht.

60 Jahre frische Rekordscham anzunehmen

Eine Gegend, die seit dem Dreißigjährigen Krieg vor gut 350 Jahren so von Kriegen gezeichnet ist wie Deutschland, tut gut daran, die 60 Jahre frische Rekordscham anzunehmen. Unsere Nachkommen werden in Jahrhunderten noch daran knabbern, ganz egal, ob wir Weltkriege und Völkermord aus Gründen der Handlichkeit auf Handy-Klingeltonlänge runterdefinieren wollen. Ich beharre auf meinem Recht, mit dem Zusammenrühren eines eins-a-vorzeigbaren Nationalgefühls noch lange nicht fertig zu sein.

So wie viele meiner Mitbürger auch noch nicht fertig sind. Als die deutsche Elf vor zehn Jahren Europameister in England wurde, traf es Fans hier in Dortmund unvorbereitet. Flugs griff man zu schwarz-gelben BVB-Devotionalien, bastelte eilends etwas rotes Tuch an, und kurz nach Abpfiff schwoll die Innenstadt vor Hupkonzert. Eine Stadt in Schwarz-Gelb-Rot - den belgischen Farben. Man weiß ja, was gemeint war.

14.

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