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sich das Ausgesperrte an, noch sprachlos. Die erste Ent­machtung. (Erst später kann man sich mit Geschichten wehren, nach dem /<rA Das dauert.) Nur im Vergessen läßt sich die Zumutung des »so ist es«, das Diktat der Tatsa­chen, löschen. Das Kind hat eine VorsteHung von sich, in­dem es vergißt. Solch ein Vergessen ist aktiv, nicht passiv, es stößt nicht zu, sondern wird betrieben. Was bleibt, sind die Signaturen des Vergessens, nichts Diskursives, nur Zeichen und Beschwörung. So wie der Zeppelin an jenem fernen Samstag- oder Sonntagherbstmorgen, den der Ne­bel gerade freigegeben hatte. Eine Art Satzzeichen am Himmel, das sich erst Jahrzehnte später in einen Satz würde einfügen lassen.

Das Kind fürchtet sich besonders davor, daß der Zeppe­lin vor die Sonne ziehen und sie verdecken könnte. Bis es finster wäre und die Lahn und die Ruppertsklamm das Kind aus ihrer Gemeinschaft verstoßen würden. Waren solche Ausflüge niemals ausgelassen? War das Singen viel­leicht ein Hinweis darauf?

Auch andere Familien machten am Wochenende Spa­ziergänge, das war beruhigend. Geteilte Langeweile. Bei anderen Sorten von Langeweile hatte das Kind den Ein­druck, sie gehörten ausschließlich zu seiner Familie. Auch daß sie nicht mit Sport oder dem Eintritt in einen Verein bekämpft wurde, trennte von den anderen. Eine andere, unbeantwortete Frage blieb: Hat Langeweile mit Unglück zu tun oder nur mit der kurzfristigen Verlegenheit, wie man die Zeit totschlägt? Die Langeweile verging nicht in der Ruppertsklamm, aber wenigstens war sie so unterge­

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bracht, daß sie nicht auffiel und nicht schwerfiel. Wenn Gäste kamen - die gelegentlich schon bei den Ausflügen dabei waren -, wurden die Töchter angewiesen, nicht zu­viel zu essen, vor allem nicht zuviel von demselben, also zum Beispiel die gesamte Gervelatwurst (die das Kind liebte, auch mit ihren Unvorhersehbarkeiten wie Pfeffer­körnern, die einem, biß man darauf, die Tränen in die Augen jagten und das Essen zum Abenteuer beförderten.) Wenn Gäste kamen, wurden die Töchter zum Händewa­schen geschickt. Das ganze Bad roch nach der Seife, danach ihre Hände und schließlich auch die Wurst­scheiben, die sie anfaßten. Das Kind bedauerte das, weil der Geruch nach Rost, der von dem Geländer in der Rup­pertsklamm hängengeblieben war, so verschwand. Und der Wechsel von glatt und rauh, der darin aufgehoben war, ebenso. Aber der Körper merkt sich alles, er ist die Fest­platte, auf sie ist Verlaß. Und listig, wie er ist, gibt er nichts preis, jedenfalls nicht, indem er erzählt, also verknüpft (das sind spätere Fabrikationen, Eingemeindungen des Fremden), sondern er bewahrt sie. Das Verschließen hin­terläßt allerdings auch Spuren. In großer Ferne fossilisiert.

Unter einem dreiarmigen Deckenleuchter mit teller­förmigen Glasschalen für die Glühbirnen sitzen an einem schwarzgebeizten runden Eßtisch auf Polsterstühlen drei Mädchen - die älteste mit langem blonden Pferdeschwanz und die Zwillinge; dunkel kurzhaarig die eine, blond be­zopft die andere -, die Eltern und Frau Meier, die spätere Biologielehrerin. Sie hat eine vom Rauchen kratzige Stim­me und schlechte Manieren. Sie ißt vorwiegend Wurst­

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brote. Ein weiterer Gast ist Dr. Neumann, Hausarzt und Freund, außer Deutsch spricht er auch Tschechisch, und er iiebt - das hat er mit dem Vater gemeinsam - Meerret­tich. Beide streichen sich so vie] davon aufs Brot, daß sie in Tränen ausbrechen. Wer zuerst weint, hat verloren. In der Praxis trägt Dr. Neumann, der Hals-Nasen-Ohren- Arzt ist, um den Kopf eine an einem Metallbügel befe­stigte Lampe. Der Abdruck ist auch abends noch sichtbar. Dr. Neumann hat ein Pferdegebiß, man sieht, wenn er [acht, nur die obere Zahnreihe, und die ist gewaltig. Vor lauter Zähnen weicht das Kinn zurück, ebenso wie die Haare - bis auf einen Kranz, der aussieht, als wäre er an­genäht. Dr. Neumanns Augen kennt das Kind aus der Praxis, zu Hause, am Abendbrottisch, vermeidet es den Blick. Beinah automatisch würde es dann die Zunge her­ausstrecken, aaaahhhh sagen, den Schluckreiz auslösend, husten. Der Vorgänger von Dr. Neumann hieß Dr. Pies, war uralt und sehr zittrig. Bei einem Hausbesuch hatte er dem Kind einmal bei einer Untersuchung wegen starker Ohrenschmerzen das Trommelfell verletzt, weil er die Hand nicht mehr ruhig halten konnte. Das Kind hatte sehr gezappelt und war von Dr. Pies zwischen dessen kno­chigen Beinen in die Schere genommen und eingeklemmt worden, so daß es stillhalten mußte. Die Hände von Dr. Pies hatte das natürlich nicht beruhigt. Er roch wie lange beerdigt. Insofern war Dr. Neumann, der eigentlich nach nichts roch und auch nicht zitterte - allerdings kratzige Anzugstoffe trug-, ein Gewinn. Das Kind gönnte ihm die Cervelatwurstbrote und den Sieg beim Meerrettichwett­

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essen. Während des Essens sprachen nur die Männer und Frau Meier (die lachte wie ein Bauchredner). Das Kind dachte, daß es immer die Raucher waren, die sich unter­hielten, während die Nichtraucher entweder in die Küche gingen (wie die Mutter) oder schwiegen (wie die Töch­ter). Die saßen und warteten vereinbarungsgemäß ab, bis die Raucher ihren Appetit gestillt hatten und klar war, was übrigblieb. Von ihren Käfigen aus, oben auf dem Wohn­zimmerschrank, verfolgten ein Wellensittich (Pucki) und ein Kanarienvogel (Hansi) die Vorgänge um die letzten Wurstscheiben und Käseecken. Pucki durfte manchmal den Käfig verlassen und seine Runden durch das Wohn­zimmer drehen. Er durfte auch die Patiencekarten des Vaters anpicken und verschieben. Er war zugeflogen; des­wegen hatte er mehr Rechte und Freiheiten als die Ein­geborenen. Seine Respektlosigkeit gefiel dem Vater, und er verwandte viel Mühe und Zeit darauf, Pucki ein paar Brocken beizubringen. Der legte den Kopf zur Seite und sagte das konnte er aber schon, bevor er den

Töchtern zuflog. Er war blaugelb, und eines Tages lag er tot im Käfig. Er wurde neben Hans, Hansis Kanarienmann, und anderen aus dem Nest gestürzten jungen Amseln, die trotz Pipettenfütterung mit Eigelb nicht überlebt hatten, begraben. In einer Schuhschachtel von Salamander.

Zweimal im Jahr ging die Mutter mit den Töchtern zum Schuhkauf. Die Nacht davor war an Schlaf nicht zu den­ken, der vorweggenommene Ledergeruch war an Ver­heißungen so reich, daß es lästerlich gewesen wäre, dar­über einfach die Augen zu schließen. Waren die Schuhe

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dann gekauft, noch ganz ohne Spuren und Dreck, ver­brachten sie die erste Nacht im Bett der Tochter, nach­dem sie seithch, von oben und unten aufs genaueste be­trachtet und untersucht worden waren. Am Morgen waren sie zur SteHe, loyale Verbündete, tadellos. Als einmal ein Schuhkauf für den nächsten Tag angesagt und verspro­chen war, die Töchter vor dem Haus auf die Mutter warte­ten und schließlich einsehen mußten, daß irgend etwas sie daran hinderte zu erscheinen, nämlich der unvorher­gesehene Besuch einer Freundin - wie sich, zurückge­kehrt in die Wohnung, herausstellte -, da verloren die Töchter die Fassung und randalierten: Die Schubladen im Sockel des Wohnzimmerschranks wurden mit einem Ruck aufgezogen und unter großem Geschepper das darin befindliche Silberbesteck auf den Boden ausgeleert. Die Empörung über das abgesagte Glück war bodenlos; kein Vorwurf, keine Drohung wog gegen diesen Verrat. Schuhe durfte man sich nämlich aussuchen, und wenn man sagte, daß etwas drückte (die Auskunft über die eigenen Füße und ihr Befinden in den neuen Schuhen ließ sich schlech­terdings von niemandem anzweifeln, das Kind hatte in diesem Fall ein winziges Monopol inne), dann mußte man sie auch nicht kaufen - selbst dann nicht, wenn sie besonders günstig waren. Im Unterschied zu schlechtsit­zenden Pullovern galten zu enge oder zu große Schuhe als gesundheitsschädigend. Also paßten erst die schönsten. Schuhkauf war die einzige freie Wahl, die den Töchtern blieb, und diese Freiheit stieg sofort zu Kopfe, über­schwemmte den ganzen Körper mit Wohligkeit (wie beim

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Bad in Tannennadelessenz) und machte augenblicklich süchtig. Der Zauber hielt so lange, wie das Leder duftete, rebellisch duftete. Und natürlich durften die Töchter die Schuhe nach der ersten Nacht auch nicht mehr mit ins Bett nehmen. Und dann kamen die Zweifel, ob es die richtigen gewesen seien, ob nicht ein anderes Paar das Glück besser vertreten hätte. Und schließlich wurde aus der Verheißung einfach ein Paar Schuhe, das einen zuver­lässig auch an die Orte beförderte, zu denen man nicht ge­hen wollte-Verräter eben. Die Lurchi-Heftchen, die man als Dreingabe bekam, überstanden das dreifache Lesen fast nie, sie sahen danach aus wie zerschlissene Fahnen. Auch die Reime wurden blasser mit der Zeit und fad die Abenteuer von Lurchi.

Ohne Gäste, also fast immer, waren die Mahlzeiten gefährlich. Bei warmen Mahlzeiten, meist mittags, nahm sich der Vater zuerst und lud seinen Teller randvoll. Er sagte dann, er brauche eine Burg auf dem Teller, eine Fe­stung aus Essen. Die Töchter staunten und warteten auf den Satz, der nun kommen mußte: wer einmal gehungert hat. Die Tochter dachte oft, daß große Portionen, viel­mehr das unbestreitbare Recht darauf, sicher nicht das Schlechteste an einem überstandenen Krieg waren. Krieg und Essen hingen jedenfalls zusammen, entweder ging es um den echten Krieg, der, in dem der Vater einige Finger verloren hatte und in britischer Gefangenschaft endete, oder um den anderen, den Krieg gegen den Schuldirektor, die Kollegen (außer Frau Meier und ein paar Auserwähl­ten), gegen die Katholiken und die Christdemokraten.

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