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Scientific Journal “Modern Linguistic and Methodical-and-Didactic Researches” Issue № 2 (17), 2017 ISSN 2587-8093

Mir fehlt eigentlich das Selbstbewusstsein, dass ich Dichter oder Künstler sei. Natürlich war ich weder Philosoph noch Historiker. Ich war wie einer, der im Feld wohnte, einen Acker bebauen sollte oder wie ein anderer, der am Wasser wohnte, fischen sollte. Kurz gesagt, ich war ein Dilettant.3

Es scheint, als ob Ogai als ein ganzer Mensch gearbeitet hätte. In diesem Punkt ähnelt er sowohl Goethe als auch Faust. Während aber Faust, der, nachdem er alle Wissenschaften seiner Zeit „mit heißem Bemühn“ „durchaus studiert“ hatte, die echte Erfüllung nicht in den Wissenschaften, sondern in der lebendigen Tätigkeit sucht, und von einem 80-jährigen Greis zu einem 20-jährigen Jüngling verjüngt seinen großen wissenschaftlichen Lebenslauf verneint und sein

Leben neu beginnen will, war Ogais Haltung viel passiver und apathischer.

Die Gegensätzlichkeit von Ogai und Faust besteht vor allem in der unterschiedlichen Art, das Ich aufzufassen. Im Essay „Wahnvorstellung“ (1911, japanischer Titel: „Moso“) finden sich Worte, die wohl als Selbstbekenntnis Ogais zu verstehen sind:

Da ich von klein auf sehr gerne Dichtungen gelesen habe, lese ich nach dem Erlernen der

Fremdsprachen, wenn ich dafür Zeit habe, europäische Dichtungen. In jeder von ihnen steht, dass es die allertiefste Qual sei, wenn dieses Ich verloren ginge. Für mich ist es jedoch gar keine Qual, dass das Ich nicht mehr vorhanden ist. Wenn ich mit einem Dolch getötet würde, würde ich in diesem Augenblick körperlichen Schmerz empfinden, und wenn ich in der Krankheit oder durch eine schlechte Einnahme einer Arznei sterben müsste, würde ich je nach den verschiedenen Situationen den erstickenden Schmerz oder den Krampfschmerz fühlen. Es kann aber gar keine Qual wegen der Löschung des Ichs geben.4 Trotzdem ist es fraglich, ob ich gegen das Verschwinden des Ichs gleichgültig sein kann. Wenn ich das Ich, während es noch besteht, verlieren würde, ohne es deutlich zu erkennen, wäre es sehr schade.5

Ogai wusste nicht, was das Ich ist. Ist er deshalb als dumm zu betrachten? Weiß denn derjenige, der Ogai für dümmlich hält, was das Ich ist? Ogai arbeitete in Berlin bei dem Nobelpreisträger Koch mit seinen Kollegen zusammen. Machte er sich währenddessen bewusst, dass sie Deutsche waren, wie sie sich selbst verstanden oder wer er selber war? Während er sich fleißig seiner Arbeit widmete, hatte er zweifelsohne keine Zeit, an so etwas zu denken.

Wie später noch zu erörtern sein wird, verfasste Ogai die historische Novelle „Okitsu Yagoemon no Isho“ (Das Testament von Okitsu Yagoemon, 1912), nachdem er kurz nach dem

Hinscheiden des Meiji-Kaisers Nachricht vom Opfertod des Generals Nogi erhielt. Dadurch veränderte sich die Dichtung Ogais sehr. Es war so, als ob ein anderes Ich aus dem ehemaligen Ich entstanden wäre. Das Ich verändert sich ständig auf diese Weise. Kann man das Ich trotzdem fest fixieren? Und wenn dem so wäre, müssten wir uns dann nicht immer noch fragen, wie weit eine solche Problemstellung nützlich ist?

Es ist wohl kein Zweifel, dass Ogai bei der Frage, ob das Ich wirklich besteht, Goethes

„Faust“ im Kopf hatte. Im „Faust“, dessen beide Teile Ogai 1913 zum ersten Mal ins Japanische übersetzt hatte, gibt es einen bekannten Monolog über das Ich:

Du hörest ja, von Freud‘ ist nicht die Rede.

Dem Taumel weih‘ ich mich, dem schmerzlichsten Genuß,

Verliebtem Haß, erquickendem Verdruß.

Mein Busen, der vom Wissensdrang geheilt ist,

Soll keinen Schmerzen künftig sich verschließen,

3Ogai-Zenshu (Sämtliche Werke von Ogai). Tokyo, Iwanami, 1951-54. Bd. XXVI, S. 543f.

4Ogai-Zenschu, Bd. VIII, S. 202.

5Ogai-Zenshu, Bd. VIII, S. 203.

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Und was der ganzen Menschheit zugeteilt ist,

 

Will ich in meinem innern Selbst genießen,

 

Mit meinem Geist das Höchst‘ und Tiefste greifen,

 

Ihr Wohl und Weh auf meinen Busen häufen,

 

Und so mein eigen Selbst zu ihrem Selbst erweitern.

(V.1765-1775)

Hier sucht Faust sich nicht der oberflächlichen „Freude“, sondern dem „Taumel“ der Verliebtheit zu weihen und vom „Wissensdrang“ der Wissenschaftler geheilt, das, „was der ganzen Menschheit zugeteilt ist“, „in [seinem] innern Selbst [zu] genießen“. Bei Ogai war es ganz anders. Es ist fraglich, wieweit Ogai in der „Tänzerin“ bei der Beschreibung der Liebesbeziehung zwischen Toyotaro und Elis „[den] schmerzlichsten Genuß, Verliebte[n] Haß, erquickende[n] Verdruß“ der tiefen Liebe darstellen konnte. Wie Toyotaro sollte Ogai unter dem Befehl der Regierung mit „Wissensdrang“ die europäischen Wissenschaften studieren. In der „Tänzerin“ lässt Ogai seine Figur Toyotaro dieser Aufgabe gegenüber Skepsis hegen. Trotzdem gab Ogai, der nicht nur westliche Medizin, sondern auch die Dichtung und Philosophie Europas ausgiebig studierte, seinen Wissensdrang nicht auf und gab sich nicht dem faustischen „Taumel“ der Liebe hin.

Goethes Faust sucht das, „was der ganzen Menschheit zugeteilt ist“, „in [seinem] innern Selbst [zu] genießen“ und „mit [s]einem Geist das Höchst‘ und Tiefste [zu] greifen“. Das ist nichts anderes als ein Manifest des Ichs, seine eigene Kompetenz möglichst frei auszubilden und möglichst viel zu entwickeln. In Japan wird solch ein Manifest als moderner europäischer

Individualismus bezeichnet. Ogai war einer der Japaner, die von diesem Individualismus in große Verwirrung gestürzt wurden.

Zur Zeit der Entstehung des Essays „Wahnvorstellung“ äußerte sich Ogai mehrfach über die westliche Ich-Vorstellung oder über den Individualismus. Zum Beispiel meint Ogai im Essay „Der dichterische Gedanke“ (1911, japanischer Titel: „Bungei no Shugi“), dass der echte

Individualismus weder der Egozentrismus noch der Egoismus sei, und eigentlich mit der Philanthropie verbunden sein müsse:

Die Kunsttätigkeit ist im eigentlichen Sinne individuell. Der Individualismus in diesem Sinne ist, philosophisch gesehen, mit der Philanthropie gepaart. Solcher Individualismus zerstört keineswegs die Familie, die Gesellschaft oder den Staat.

Die Lebensanschauung von Max Stirner beseitigt alle Begriffe außer dem Ego. Seine Position bezeichnet man als Individualismus. Sie bildet die Grundlage des Anarchismus. Sie ist aber der Egozentrismus und Egoismus.

Den Egoismus muss man im moralischen Sinne ablehnen. Man darf aber diesen Gedanken nicht unter dem Namen des Individualismus zurückweisen. Solcher Versuch ist grob und leichtsinnig.

Um den Anarchismus und den damit verbundene Sozialismus hinauszujagen, sucht man sie als Individualismus abzustempeln und dadurch die Kunsttätigkeit im Allgemeinen zu unterdrücken. Solche deplatzierte Politik ist für die Nation nicht erwünscht.

Der die freie Forschung der Wissenschaften und die freie Entwicklung der Kunst behindernde Staat kann in keinem Fall gedeihen.6

Bezüglich der Beziehungen zwischen Individualismus, Egoismus und der Philanthropie ist der unvollendete Bildungsroman „Die Jugend“ (1911, japanischer Titel: „Seinen“) von großer Wichtigkeit. Hier ist nicht davon Rede, wie gut dieser Roman ist. Für Ogai war das Werk als Brücke zwischen seiner jüngeren und der späteren Zeit unentbehrlich.

6 Ogai-Zenshu, Bd. XXVI, S. 425.

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„Die Jugend“ ist sozusagen als Ogais „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ anzusehen. Ogai, der sich seit seinem Studium in Deutschland mit Goethe beschäftigt hatte, wollte seine eigenen „Lehrjahre“ schreiben. Während sich Wilhelm Meister in der Theaterwelt auszubilden suchte, verfolgt Jun-ichi, der Protagonist Ogais, in der dichterischen Welt die Möglichkeiten seiner eigenen Kompetenz. Wie Wilhelm Meister von manchen hervorragenden Bekannten beeinflusst ist, erhält Jun-ich von Fuseki Hirata (für den vermutlich Soseki Vorbild stand) oder Oomura viele wichtige Kenntnisse. Während Wilhelm Meister zwar von Philine, einer sexuell reizvollen Frau, verführt wird, aber nach Natalie, einer edlen Frau, Sehnsucht hegt, wird Jun-ichi äußerlich von der prachtvollen Witwe Sakai bezaubert und kann innerlich das reine und unschuldige Mädchen Oyuki Nakazawa nicht vergessen.

Sind das Ich, das von Frau Sakai verführt wird, und das Ich, das im Inneren Oyuki liebt, überhaupt identisch? Verwirrt durch diese menschlichen Beziehungen, muss Jun-ichi im Herzen ständig diese Frage wiederholen, nämlich die Frage, was eigentlich das Ich ist. In einem Vortrag von Fuseki Hirata erfährt er, dass Henrik Ibsen zwischen dem weltlichen und dem überweltlichen Ich unterschied, und dass es gerade das letztere ist, welches die menschliche Entwicklung ermöglicht.7 Er lernt dabei auch, dass das weltliche Ich den Kern des Egoismus bildet, und erfährt durch Oomura, dass „der Individualismus mit dem Egoismus keineswegs identisch ist“.

Trotzdem kann Jun-ichi den Individualismus immer noch nicht gut begreifen. Oomura sagt ihm, dass „die Entstehung des Individualismus aus dem Geist des Dramas dem Entwicklungsprozess des Schicksalsdramas zum Charakterdrama entspricht“. Im Roman „Die Jugend“ wird der Individualismus auf diese Weise mit dem Heroismus identifiziert. Jedoch kann Junich, anders als die Protagonisten im historischen Roman, weder dramatisch noch heroisch werden. Wenn man dramatisch oder heroisch geworden ist, kann man wohl deutlich fühlen, dass man jetzt mitten im Leben steht. Doch Jun-ichi muss erkennen, dass ihm dieses Gefühl gänzlich fehlt:

Ob Japaner eigentlich wissen, was das lebendige Leben ist? Seitdem sie in die Grundschule eingetreten sind, wollen sie sie möglichst schnell absolvieren. Sie meinen wohl, dass es nach der Absolvierung das lebendige Leben gäbe. Wenn sie nach der Schule eine berufliche Stelle gekriegt haben, wollen sie hinsichtlich dieser Stelle möglichst schnell ihre Aufgabe erledigen. Sie meinen wohl, dass es nach der Erledigung das lebendige Leben gäbe. Aber nirgendwo kann es für sie das lebendige Leben geben.

Die Gegenwart ist die zwischen der Vergangenheit und Zukunft gezogene Linie. Wenn kein Leben darin ist, kann es nirgendwo das Leben geben.

Und was mache ich jetzt in dieser Gegenwart?8

Das weltliche und das überweltliche Ich, das Fuseki in seinem Vortrag ansprach, umschreibt Oomura als den egoistischen und den altruistischen Individualismus.9 Seine Rede erinnert Jun-ichi an die folgende Behauptung eines unbekannten Japaners:

Der Individualismus ist ein westlicher Gedanke und damit kann man sich selbst nicht opfern. Der Gegensatz dazu ist der östliche Respekt vor der Familie. In diesem Geist wird der Staat noch höher geschätzt.

7Ogai-Zenshu, Bd. VI, S. 314f.

8Ogai-Zenshu, Bd. VI, S. 334

9Ogai-Zenshu, Bd. VI, S. 423.

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Oomura fügt seine Meinung hinzu. Dies hörend, meint Jun-ichi in seinem Inneren, dass der westliche Individualismus und der östliche Respekt vor der Familie wohl wie die zwei Beine des Menschen seien und wir eigentlich beide haben müssten. Den Ausdruck der „zwei Beine“ benutzt Ogai auch in seinem Essay „Kenken-Sensei“ (1911, Mein Lehrer Kenken):

Ich teile die modernen japanischen Wissenschaftler in zwei Gruppen: die Wissenschaftler mit einem Bein und diejenigen mit zwei Beinen.

Im heutigen Japan befinden sich die östliche und die westliche Kultur und beide stehen sich im schroffen Gegensatz gegenüber. Auf der einen Seite sind Wissenschaftler, die auf der östlichen Kultur fußen, und auf der anderen Seite sind diejenigen, die auf der westlichen Kultur beruhen. Beide stehen aber nur auf einem Bein.

Auch wenn sie nur ein Bein hätten, könnten sie bei einem Stoß vielleicht nicht umfallen, wenn sie genügend starke Kräfte dafür hätten. Solche Leute müssen, ob sie nun Wissenschaftler für den Osten oder für den Westen sind, wenigstens nützliche Talente sein.

Die Meinungen solcher Wissenschaftler mit einem Bein sind meistens einseitig. Man kann ohne Hindernisse ihre Vorschläge praktifizieren. Wenn man die Meinungen der Wissenschaftler für den Osten empfängt, wird es zu konservativ, und wenn man den Wissenschaftlern für den Westen gehorcht, wird es zu radikal. Die nicht wenigen wissenschaftlichen Konflikte und Zusammenstöße von heute entstehen zweifelsohne aus dem Streit der beiden Seiten.

Dementsprechend brauchen wir heute unbedingt Wissenschaftler mit zwei Beinen. Sie müssen mit dem einen Bein auf dem Osten und mit dem anderen Bein auf dem Westen stehen.

Ein maßvolles Argument können nur solche Leute führen. Um unsere Welt in Eintracht zu bringen, sind sie für unsere Zeit von großer Wichtigkeit.10

Oomuras Behauptung zufolge muss der echte Individualismus, anders als der Egoismus, die Gemeinschaft unterstützen. Der westliche Individualismus kann manchmal das Individuum der Gemeinschaft vorziehen. Japaner hingegen ziehen öfters dem Individuum die Gemeinschaft vor. Wenn man einen Zustand verwirklichen könnte, in dem das Individuum und die Gemeinschaft im Gleichgewicht wären, dann würden sich Ost und West vereinigen, wie es die Wissenschaftler mit zwei Beinen wünschen.

Ist aber die Vereinigung von Ost und West nicht schwer zu realisieren? Wie Jun-ichi sagt, wäre es für die Europäer sicherlich fast unmöglich, durch Selbstopferung zu leben. Man könnte daraus folgern, dass eben dies die eigene japanische Geistesart ist. Der echt japanische Individualismus oder, mit den Worten Oomuras, die japanische Form des altruistischen Individualismus, bestünde demnach darin, sich durch Selbstopferung, d.h. durch Selbstverneinung, ein neues Leben zu schenken und sich so selbst auf einem höheren Niveau zu bejahen.

Das ist vermutlich der zentrale Inhalt der Überlegungen Jun-ichis. Er erinnert er sich dabei plötzlich an „eine Sage, die ihm seine verstorbene Großmutter einmal erzählt hatte“.11 Vier Jahre nach Verfassen des Romans „Die Jugend“ schrieb Ogai die Novelle „Sansho Dayu“

(1915) nach einer alten japanischen Sage. Es ist heute philologisch erwiesen, dass Jun-ichi hier diese Sage meint. Anju, die ältere Schwester, die zusammen mit ihrem Bruder Zushio von einer Gruppe Menschenhändler entführt worden war, lässt ihren Bruder fliehen und begeht Selbstmord. Als sie sich entschließt, sich selbst zu opfern, „glänzt ihr Gesicht vor Freude“. Die Selbstopferung schenkt ihr den höchsten Augenblick ihres Daseins. Ogai entdeckte in dieser

Selbstopferung den japanischen Individualismus, den altruistischen Individualismus. Und diese

Entdeckung führte Ogais Dichtung auf eine neue Ebene.

Es wurde schon oft konstatiert, dass Ogais Dichtung nicht die eines Handelnden, sondern die des tatenlosen Zuschauers ist. Eine Figur wie Anju, die sich aus freiem Willen opfert, gibt

10Ogai-Zenshu, Bd. XXVI, S. 422f.

11Ogai-Zenshu. Bd. VI, S. 466.

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aber den Standpunkt des Zuschauers auf und handelt nach ihrem eigenen Urteil. Masakazu

Yamazaki zählt folgende Gestalten in Ogai Dichtung zu diesem handelnden Typ: Otama im Roman „Wildgans“ (japanischer Titel: „Gan“), Ichi Katsuraya in der Erzählung „Das letzte Wort“ (Saigo no Ikku), Riyo Yamamoto und Suginoharashina in der Erzählung „Blutrache in Gojiingahara“ (Gojiingahara no Katakiuchi), Frau Yasui in der Erzählung „Frau Yasui“ (Yasui Fujin), Io in „Shibue Chusai“ und Anju in „Sansho Dayu“.12 Wie Yamazaki ganz richtig feststellt, handelt es sich bei allen oben genannten Figuren auffallender Weise nur um Frauen.

Der altruistische Individualismus ist nicht nur ein Thema Ogais, sondern auch das des Goetheschen „Faust“. Faust, der den echten Sinn des Lebens gesucht hatte, findet ihn endlich am Ende des zweiten Teils der Tragödie darin, durch die Entwässerung des Meeres das Ackerland zu vermehren und auf diese Weise für das Volk, d.h. für die anderen, zu leben. In diesem Augenblick wird sein Mikrokosmos zum Makrokosmos erweitert und er kann in der Ahnung des schönsten Augenblickes des Lebens sterben.

Man kann nicht sagen, ob Faust am Ende des Dramas wirklich den altruistischen Individualismus oder das Selbstopfer für die Gemeinschaft erreicht hat. Doch hat sich sein Ich in diesem Augenblick sicherlich vom Mikrokosmos zum Makrokosmos erweitert. Hingegen hat sich das Ich von Anju, wie herrlich ihr Gesicht im Augenblick des Entschlusses für das Selbstopfer auch geglänzt haben mag, nicht zum Makrokosmos erweitert.

Dabei handelt es sich nicht darum, dass derjenige, für den Anju sich selbst opfert, nicht das Volk oder die Gemeinschaft wie bei Faust, sondern nur ihr Bruder ist. Die Seele oder das Dasein Fausts, der für die Gemeinschaft stirbt, wird, entgegen der Erwartung von Mephistopheles, nicht dem Teufel überreicht, sondern von Engeln gerettet und ins Paradies gebracht. Das Ende des „Faust“ unterrichtet uns davon, dass sich die europäische Literatur in der Welt des „Seins“ befindet. Im Gegensatz dazu spielt es in der Novelle „Sansho Dayu“ gar keine Rolle, ob Anjus Seele gerettet wird oder nicht. Offenbar kommt der Frage nach der Rettung des Individuums im Osten keine große Bedeutung zu.

Es ist leider nicht bekannt, wie weit sich Ogai dieser Problematik bewusst war. Am 30.

September 1912, am Tag der Trauerfeier für den Kaiser Meiji, erfuhr Ogai, dass der General

Nogi an diesem Tag den Opfertod gestorben war. In diesem Augenblick konnte Ogai, so glaubte er, die Antwort auf seine langjährige Frage nach der Art des japanischen Individualismus erhalten: Dieser besteht letztendlich darin, gerade durch das Selbstopfer wirklich zu leben.

Der Opfertod ist die ultimative Form des Selbstopfers und bildet, vom westlichen Gesichtspunkt aus betrachtet, einen Gegenpol zum Individualismus. Wenn jeder strikt nach seinem freien Willen lebt, müssen − der individualistischen westlichen Logik zufolge − die freien

Willen der Individuen in einer Gemeinschaft notwendig miteinander in Konflikt geraten. Um diesen zu vermeiden, schließt man einen Gesellschaftsvertrag, woraus die Gesellschaft oder der

Staat entsteht. Das Individuum geht der Gesellschaft oder dem Staat voraus.

Nach J. J. Rousseau, der den Begriff des Gesellschaftsvertrags entwickelte, überträgt jeder dem Staat seine Rechte, um vom Staat geschützt zu werden. Den Staat, dem die Rechte aller gänzlich übertragen sind, bezeichnet Rousseau als den allgemeinen Willen. Diesem allgemeinen Willen muss jeder unbedingt gehorchen.

In Japans Meiji-Zeit verkörperte sich dieser allgemeine Wille im Kaiser Meiji. Für den General Nogi, der wünschte, dass sein persönlicher Wille mit dem allgemeinen Willen identisch sein möge, war der Tod des Kaisers der Grund für seinen Opfertod. Um seinen persönlichen Willen mit dem allgemeinen Willen des Staates vollkommen gleichzusetzen, gab er sich selbst den Tod. Wenn die Identifizierung des persönlichen Willens einer Person mit dem allgemeinen Willen der Gesellschaft für diese Person das höchste Glück bedeutete, könnte Nogis

12 Masakazu Yamazaki: „Ogai, das kämpfende Familienoberhaupt“. In: „Yamazaki Masakazu Chosaku-shu“ (Werke von Masakazu Yamazaki), Bd. 7, Tokyo, Chuokoron, 1981, S. 123.

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Opfertod Fausts „Tod im schönsten Augenblick“ recht ähnlich sein. In „Die Jugend“ sagt

Oomura:

Wenn der Doppelselbstmord die Liebe von Mann und Frau in der höchsten Form vollenden könnte, würde der Tod auf dem Schlachtfelde auch die Lehnstreue in schöner Form bejahen. Im Moment, wenn das Leben eines Individuums zum All geworden ist, muss es sterben. Der Individualismus verwandelt sich zur Liebe zum All. Es ist ganz anders als beim Einsiedler, der das Leben verneint und ganz alleine stirbt.

Darauf antwortet Jun-ichi:

Vermittels des europäischen Individualismus kann man sich selbst nicht opfern. Der orientalische Individualismus verwandelt sich zur Liebe zur Familie und diese zur Liebe zum

Staat. Erst dann kann man sich selbst für den Herrn opfern.

Ein Jahr nachdem er „Die Jugend“ verfasst hatte, erfuhr Ogai von Nogis Opfertod. Im

Gegensatz zu dem sehr bekannten japanischen Dichter Ryotaro Shiba, der in seinem Roman

„Junshi“ (Opfertod, 1967) Nogis Opfertod sehr negativ darstellt, fand Ogai im Opfertod Nogis ein gutes Beispiel dafür, „sich selbst für den Herrn [zu] opfern“ und für die „Liebe zum Staat“.

Da der Opfertod ein beliebtes Thema im Kabuki-Schauspiel war, begingen zahlreiche Ritter in der früheren Periode der Edo-Zeit (1603-1868) rituellen Selbstmord, so dass dies 1665 von der

Regierung verboten wurde. Fast 250 Jahre später knüpfte das Ehepaar Nogi mit seinem Selbstmord jedoch wieder an diese alte Tradition an.

Fünf Tage nach dem Opfertod des Generals Nogi schrieb Ogai seine erste historische Novelle „Das Testament von Okitsu Yagoemon“ (japanischer Titel: „Okitsu Yagoemon no Isho“, 1912) in einem Zuge nieder. Sie entstand in ganz kurzer Frist. Das besagt, dass Ogai schon lange die Idee dafür im Kopf gehabt hatte. Im Roman „Die Jugend“, der ein Jahr früher als diese Novelle geschrieben wurde, sagt Jun-ichi: „Erst dann kann man sich selbst für den Herrn opfern.“ Vielleicht entwarf Ogai schon zu diesem Zeitpunkt die spätere den Opfertod behandelnde historische Dichtung. Der bekannte Japanologe Junzo Karaki vermutet in seinem großartigen Werk „Der Geist Ogais“ (Ogai no Seishin, 2. Aufl., 1948), dass die Novelle, welche Junichi in „Die Jugend“ auf der Grundlage der ihm von seiner Großmutter erzählten Sage verfassen will, entweder die Novelle „Das Testament von Okitsu Yagoemon“ oder der Roman „Die Sippe Abe“ (Abe Ichizoku, 1913) sein könnte.13 Diese Vermutung trifft aber nicht zu. Das, was

Ogai tatsächlich im Sinn hatte, war die Novelle „Sansho Dayu“. Karaki nahm später selbst seine ehemalige Vermutung zurück, aber sie war insofern nicht ganz falsch, als es für Ogai unmöglich gewesen wäre, so schnell nach dem Opfertod Nogis „Das Testament von Okitsu Yagoemon“ abzufassen, wenn er nicht schon im Voraus die Materialien dafür gesammelt hätte.

Wie oben erwähnt, betrachtete Shiba Nogis Ofertod als egoistisch. In der öffentlichen

Meinung der Zeit wurde dieser Tod teils gepriesen, teils kritisiert. Als Ogai seine Novelle schrieb, war er sich dieser unterschiedlichen Beurteilungen voll bewusst. In der Geschichte begibt sich Yagoemon, Ritter des Clans Hosokawa in Kumamoto, in der früheren Periode der E- do-Zeit mit seinem Kollegen Yokota zusammen nach Nagasaki, um dort für ihren Herrn ein duftendes Holz zu besorgen. In Nagasaki findet er ein größeres duftendes Holz, das aber die Diener des Clans Date auch kaufen wollen. Deshalb entsteht ein Streit zwischen Yagoemon und Yokota. Jener sucht das größere Holz zu erhandeln, dieser will sich aber mit einem kleineren begnügen. Bei dem Streit wirft Yokota Yagoemon ein kleineres Schwert zu, doch der nimmt es nicht auf und schlägt Yokota stattdessen auf der Stelle nieder. Verantwortungsbe-

13 Junzo Karaki: Ogai no Seishini. In: Gesammelte Werke von Junzo Karaki. Bd. 2. Tokyo, Chikuma, 1967, S. 13.

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wusst ist Yagoemon bereit, Harakiri zu begehen, aber sein Herr erlaubt es ihm nicht. Bei der Feier des wichtigen 13. Todestages seines Herrn glaubt Yagoemon, dass nun endlich die Zeit gekommen sei, und begeht Selbstmord. Das ist die Handlung dieser Novelle.

Die Geschichte von Yagoemons Opfertod entspricht in manchen Aspekten der von Nogi. Als Nogi 1877 Regimentskommandeur im Seinan-Kampf war, wurde ihm die Fahne geraubt, was für einen Militär die allergrößte Schande bedeutete. Mit hohem Verantwortungsbewusstsein begab sich Nogi immer wieder in Todesgefahr und wollte im feindlichen Kugelhagel sterben. Jedes Mal wurde er aber von der Front zurückbeordert. Widerwillig ging er tief in die Berge, um dort Hungers zu sterben. Doch seine Kollegen fanden ihn und brachten ihn zurück. Im

Krieg zwischen Japan und Russland hatte er beim Angriff auf die Festung Ryojun in China das Kommando und befahl wiederholt unüberlegte Sturmangriffe, was zahllosen Soldaten das Leben kostete, wie Shiba in seinem sechsbändigen Roman „Über Akiyama Yoshifuru, Akiyama Saneyuki, Masaoka Shiki“ (Japanischer Titel: Saka no Ue no Kumo, 1968-72) betont. Nogi selber bereute dies tief in seinem Herzen. Eines Tages, nach dem Ende des Kriegs, wurde er um einen Vortrag gebeten. Er kam aber nicht zum Podium, sagte: „Ich bin Nogi, der im letzten Krieg viele Ihrer Bekannten in den Tod gejagt hat“, und konnte eine Weile nicht mehr sprechen. Wie Yagoemon wollte auch er Harakiri begehen, konnte aber dazu nicht die Erlaubnis des Kaisers Meiji erhalten. Als der Kaiser hinschied, glaubte er endlich, die Zeit zu sterben sei gekommen.

Nicht wenige Leute schrieben seinen Opfertod unter solchen Umständen persönlichen Gründen zu. Um diese ziemlich weit verbreitete Meinung zu widerlegen, schrieb Ogai seine Novelle und suchte den echten Sinn dieses Opfertodes aufklären. Er wollte wohl sagen, dass der Opfertod Nogis der zur Liebe zum All gesteigerte Individualismus sei.

Aus heutiger Sicht könnte man meinen, dass der echte Opfertod von dem inneren Motiv, den persönlichen Willen mit dem allgemeinen Willen übereinstimmen zu lassen, ausgehen muss. Nach der Veröffentlichung von „Das Testament von Okitsu Yagoemon“ gelangte Ogai zu einem tieferen Verständnis der Beziehung zwischen dem Opfertod und dem Inneren eines

Individuums. Doch bemerkte er zugleich auch, dass viele Leute nicht aus einem solchen inneren Motiv rituellen Selbstmord begehen, sondern um das Gesicht der Familie zu wahren. Dies ist im Roman „Die Sippe Abe“ (japanischer Titel: „Abe Ichizoku“, 1913) der Fall und in der Erzählung „Blutrache in Gojiingahara“ (Gojiingahara no Katakiuchi, 1913) behauptet Ogai, dass die Blutrache nicht von äußeren Gründen wie der Ehre der Familie, sondern von einem inneren Grund geleitet werden müsse.

In dem auf einem inneren Motiv beruhenden Opfertod könnte der japanische Individualismus zum Ausdruck kommen, für den das Leben des Individuums mit dem Leben der Familie oder des Staates fast identisch ist. Das war wohl die Ansicht Ogais. Aber wie der persönliche

Wille mit dem allgemeinen Willen gleichgesetzt wird, ist in der japanischen Kultur ganz anders als in Goethes „Faust“, wo der Mikrokosmos zum Makrokosmos erweitert wird. Wenn Faust für das Volk arbeitet und so das glückliche Ende seines Lebens erreicht, wird sein Ich erweitert, während man sich beim Opfertod selbst aufgibt und ins „Nichts“ eintritt.

Im Essay „Wahnvorstellung“ steht: „Die Westlichen, die das Verlorengehen des Ichs als die größte Qual betrachten, sind der Meinung, dass es die Eigenschaft der Barbaren sei, sich vor dem Tode nicht zu fürchten.“14 Für Japaner dagegen bedeutet das Verlorengehen des Ichs die edelste Form des persönlichen Lebens und der Opfertod ist das deutlichste Beispiel dafür.

In Japan wird die Vollendung des Individualismus erst dann erreicht, wenn das Ich verloren geht.

Der Unterschied zwischen dem Individualismus Fausts und dem Ogais scheint also in dem Gegensatz von Sein und Nichts zu bestehen. Während der westliche Individualismus am Sein hängt, sucht der japanische Individualismus in der Selbstlosigkeit den vornehmen Geist.

14 Ogai Mori: Moso. In: Ogai-Zenshu. Bd. VIII, S. 202.

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Darauf wies schon Junzo Karaki in „Der Geist Ogais“ (Ogai no Seishin) hin. Er schreibt: „In

Japan ist der Individualismus in der Selbstlosigkeit oder in der Liebe zum All in der vollkommenen Form enthalten. […] Ogai versuchte das in seinen historischen Dichtungen zu veranschaulichen.“15

Auch in der westlichen Philosophie und Theologie spielt das „Nichts“ eine Rolle, so z.B. bei Meister Eckhart, den Ogai allerdings nicht kannte. Mit Eduard Hartmann und Schopenhauer hingegen war er vertraut.

Laut der Metaphysik Hartmanns ist diese Welt so gut wie möglich geschaffen. Wenn man aber fragt, ob sie sein sollte oder nicht, wäre es besser, wenn sie nicht da wäre […]. Trotzdem kann man das Leben nicht verneinen, weil die Welt nichtsdestoweniger immer noch da ist. Es wäre besser, wenn man das Leben bejaht, es dem Prozess der Welt anvertraut, Schmerzen erträgt und die Erlösung der Welt erwartet.16

Schopenhauer zufolge wäre es bestimmt besser, wenn die Welt nicht vorhanden wäre. Die Welt ist möglichst schlecht geschaffen. Es ist ein Fehler [Gottes], die Welt geschaffen zu haben […]. Man könne nur hoffen, durch die Erkenntnis zur Ruhe des Nichts zurückzukehren. Insofern man lebt, muss man Fehler begehen. Wenn man doch nicht geboren wäre! Die Suche nach der Unendlichkeit des Lebens ist nichts anderes als die Suche nach der Unendlichkeit der Fehler. Das Individuum stirbt und die Menschheit bleibt immer noch da. Phänomene gehen verloren. Was bleibt und nicht verloren geht, nennt man den Willen.

Da es den Willen gibt, kann das Nichts kein absolutes Nichts, sondern nur relatives Nichts sein. Auch wenn man sich das Leben nimmt, bleibt noch die Gattung [des Menschen]. Dinge an sich bleiben auch noch. Daher muss man bis zum Tode leben.17

Junzo Karaki bemerkt dazu: „Den starken Einfluss, den die Lebensund Weltanschauung Hartmanns und Schopenhauers auf Ogai ausübte, darf man nicht übersehen [...]. Die Ansicht, alles wie Glück, Wert und Ideal als Fehler zu betrachten, schenkte ihm einen scharfen Blick und eine zynische Haltung. Er wusste, dass es besser wäre, wenn er nicht geboren wäre, trotzdem war er bereit, in dieser Welt weiterhin zu leben, was ihn die Welt bejahen ließ und ihm die spielerische Ruhe gönnte.“18

Durch den Opfertod kann man ins Nichts zurückkehren. Ogai äußert aber im Essay „Wahnvorstellung“, dass es auch möglich ist, dies durch die Erkenntnis zu erreichen, wie schon Schopenhauer sagte. Dieses erkenntnistheoretische Nichts nennt Ogai im Essay „Mein Standpunkt“ (1909, japanischer Titel: „Yo ga Tachiba“), ein deutsches Wort benutzend, die „Resignation“:

Mein Gefühl könnte man als „Resignation“ bezeichnen. Nicht nur in der Dichtung, sondern auch in jedem Gebiet des Lebens fühle ich mich resigniert. Das ist der Grund, warum ich in sehr schwierigen Situationen irgendwie gefasst sein kann. Der Zustand der Resignation könnte eventuell als hasenherzig angesehen werden. Dafür werde ich mich nicht entschuldigen.19

Es ist unbekannt, ob Ogai an Goethe dachte, als er seinen Standpunkt als „Resignation“ bezeichnete. Die Resignation oder Entsagung ist der Standpunkt, den der späte Goethe erreicht

15Junzo Karaki: Ogai no Seishini. A.a.O., S. 54.

16Ogai Mori: Moso. In: Ogai-Zenshu. Bd. VIII, S. 204.

17Ogai Mori: Moso. In: Ogai-Zenshu. Bd. VIII, S. 205.

18Junzo Karaki: A.a.O., S. 166.

19Ogai Mori: Yo ga Tachiba. In: Ogai-Zenshu. Bd. XXVI, S. 393.

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hatte. Das Thema des ersten Teils von „Faust“ ist die Erweiterung des Ichs, aber im Roman „Wanderjahre“ suchte Goethe den quasi orientalischen Zustand der Entsagung zu erreichen. Er benutzte das Wort „Entsagung“, nicht „Resignation“. Im Buch „Gyoete Den“ (Das Leben Goethes, 1913), das Ogai anhand der Goethe-Biographie von A. Bielschowsky verfasste, steht:

„Der Geist der Wanderjahre besteht in der Arbeit und Entsagung“, und einige Personen in diesem Roman gehören zu den „Entsagenden“. Hier benutzt Ogai zwei deutsche Wörter: „Arbeit“ und „Entsagung“. Wäre das Essay „Mein Standpunkt“ später als das „Leben Goethes“ verfasst worden, hätte Ogai seinen Standpunkt statt als „Resignation“ wohl eher als „Entsagung“ bezeichnet.

Die Resignation könnte wohl als hasenherzig angesehen werden. Ogai wollte aber behaupten, dass sie ein wunderbarer, großer Standpunkt ist. 1916 nannte er sich selbst „die leere Karre“ (Munaguruma) und schreibt über diese:

Jedesmal, wenn eine leere Karre an mir vorüber fährt, muss ich sie ansehen und ihr nachblicken. Die Karre ist groß. Und da sie leer ist, lässt sie uns ihre Größe spüren. Für diese große Karre ist die breite Straße nicht breit genug.

Wenn diese Karre kommt, weichen ihr Fußgänger aus. Reiter weichen ihr auch aus. Die

Wagen der Reichen weichen ihr auch aus. Soldaten in einem Zug weichen ihr auch aus.

Wenn diese Karre ein Gleis überquert, muss auch der Fahrer seinen Zug anhalten und mit Geduld warten, bis sie wegfährt.

Und sie ist nur eine leere Karre.20

Die Karre ist leer, doch zugleich auch groß. Die Karre ist deshalb groß, weil sie leer ist. Sie repräsentiert das Nichts. Der Standpunkt der Resignation ist der der Selbstlosigkeit. Im Essay „Wahnvorstellung“ bezog sich Ogai auf Hartmann und Schopenhauer und vertrat, so könnte man sagen, die Philosophie des Nichts. Deren dichterisches Bild ist die „leere Karre“. Die leere Karre ist der das Nichts tragende Wagen. Nishidas Philosophie zufolge könnte sie der „Ort des absoluten Nichts“ heißen. Seit der Veröffentlichung seines Werkes „Zen no Kenkyu“ (Über das Gute, 1911) ist Kitaro Nishida (1870-1945) als ein ganz origineller japanischer Philosoph anerkannt. Ogai lernte Nishidas Philosophie nicht kennen. Aber was Ogai im Essay

„Die Leere Karre“ behauptet, ist nichts anderes als die Philosophie des Nichts oder der Ort des absoluten Nichts bei Nishida. Der Grund, warum man einer leeren Karre in Ehrfurcht ausweicht, besteht wohl darin, dass man dort den „Ort des absoluten Nichts“ ahnt.

Während der westliche Individualismus vom Sein abhängt, beruht der japanische Individualismus auf dem Nichts. Das Nichts widerspricht jedoch keinesfalls dem Sein. Wie Nishida versichert, liegt das Nichts dem Sein zugrunde und unterstützt es. Dementsprechend könnte man folgern, dass der auf dem Nichts fußende japanische Individualismus noch tiefer ist als der vom Sein abhängige westliche Individualismus.

1916, im gleichen Jahr wie das Essay „Die leere Karre“, veröffentlichte Ogai seinen Roman „Shibue Chusai“. Danach beschäftigte er sich mit zwei anderen historischen Romanen: „Izawa Ranken“ (1916-17) und „Hojo Katei“ (1916-19). Shibue Chusai, Izawa Ranken und Hojo Katei waren wenig bekannte Ärzte und Dichter am Ende der Edo-Zeit. In ihnen fand Ogai Personen, die den seelischen Zustand der Resignation hatten. Ihr Leben ist weder reiznoch wechselvoll. Deshalb erschienen diese drei Werke des späten Ogai dem gewöhnlichen Volk als langweilig. Doch wird in ihnen einfühlsam das Leben dreier resignativer Gebildeter von einem Dichter dargestellt, der sich in demselben seelischen Zustand befindet. Sein ungekünstelter, knapper und klarer Stil zeugt für die Tiefe des selbstlosen Geistes Ogais. Der bekannte Schrift-

20 Ogai-Zenshu. Bd. XXVI, S. 541.

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Scientific Journal “Modern Linguistic and Methodical-and-Didactic Researches” Issue № 2 (17), 2017 ISSN 2587-8093

steller Jun Ishikawa weist in seinem Werk „Mori Ogai“ darauf hin, dass im Roman „Izawa Ranken“ eine seltsame Stille herrscht,21 Diese Stille entspringt ohne Zweifel der resignativen Haltung Ogais.

1902 veröffentlichte Ogai einen Text für ein neues Kabuki-Schauspiel „Urashima und ein Schatzkästchen“ (japanischer Titel: Tamakushige Futari Urashima). Dieses Werk ist ein Gegenpol zum Goetheschen „Faust“. Während sich der 80-jährige Faust kraft des Zaubertranks in einen Jüngling von 20 verjüngt, verwandelt sich der junge Taro Urashima auf der Stelle in einen Greis, als er vom Drachenpalast zurückkehrt und das Schatzkästchen, das er dort bekommen hatte, gegen alle Verbote öffnet. Über den Grund, warum er dieses Werk verfasste, schreibt Ogai:

Ich habe deshalb aus den japanischen Märchensammlungen dieses Thema gewählt, weil die Verwandlung eines Jünglings in einen Greis zum Thema der Verjüngung des Faust einen schroffen Gegensatz bildet.22

Im Gegensatz zu Faust, der sich seit seiner Verjüngung wieder zu erweitern sucht, wird der junge Urashima zu einem uralten Mann und verfällt dann in den Zustand der Resignation. Hier zeigt sich die Originalität Ogais als Anti-Faust.

Im Zustand der Resignation schuf Ogai um sich herum eine „liebevolle Atmosphäre“ und hüllte „unbewusst seine Frau, seine Kinder, seine Bücher und die Luft umher darin ein“.23 Der sehr beliebte Dichter Nagai Kafu (1879-1959) besuchte einmal das Haus Ogais. Er musste ein

Weilchen warten. Dann erschien Ogai. Um ihn herum war die Atmosphäre voll von sanfter Freundlichkeit. Für Kafu blieb der Augenblick dieser Begegnung unvergesslich.24

Ogais Kinder Annu und Rui mochten ihren Vater sehr gern und hatten ihn einmal beim Schlafengehen darum gebeten, mit ihnen zusammen zu Bett zu gehen. Ogai setzte sich neben sie und hielt die Hände der beiden. Kurz vor Ogais Tod nahm dann Annu eine Hand des liegenden Vaters und strich über seinen Arm.

Schmerzlich atmend schlief er inzwischen ein.

Plötzlich wurde ich traurig.

Mein Vater war sehr stark gewesen, gütig und stark. Vor den Kindern war er niemals eingeschlafen. Er hatte uns immer geschützt. Wenn er da gewesen war, hatten wir uns beruhigt gefühlt und waren manchmal spielend eingeschlafen. Aber jetzt schlief er wie ein Kind ein und seine Hand war in meinen Händen.

Das war Ogais letzter Augenblick, wie ihn ein 14jähriges Mädchen erlebte. Es war das Bild einer starken und gütigen Person, die den endgültigen Zustand der Resignation erreicht hatte.

Conclusion. Thought Ogai was the first writer who translated “Faust” of Goethe in the Japanese, the idea of self-exaltation of this work was alien to him. The kabuki spectacle

“Urashima and the Treasure Chest” (1902) is opposit to the Goethe drama, “anti-Faust” in a sense. While a 80-year-old Faust turns to a 20 year-old young man owing to the spell of miraculous drink, the young Urashima Taro on coming back from the palace of dragon instantane-

21Jun Ishikawa: Mori Ogai, Tokyo, Iwanami-Taschenbuch, 1978, S. 17.

22Ogai-Zenshu. Bd. III, S. 216.

23Annu Kobori: Mein Vater in seinen späteren Jahren (japanischer Titel: Ban-nen no Chichi). In: Gendai Nihon Bungaku Taikei (Gesammelte Werke der modernen japanischen Literatur). Bd. 8, Tokyo, Chikuma, 1972, S. 346.

24Kafu Nagai: Hiyorigeta. In: Gendai Nihon Bungaku Yenshu (Gesammelte Werke der modernen japanischen Literatur). Bd. 68, Tokyo, Chikuma, 1958, S. 399f.

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