
2547
.pdfFirmenschild enthält die Abbildung einer Edelweißblume und die russische Aufschrift «Оскаръ. Нольте – Омскъ».
EIN VIOLINPÄDAGOGE AUS OMSK
Russland war die Heimat des bedeutenden sibirischen Violinpädagogen Wilhelm Jakowlewitsch Spät und Omsk war seine Heimatstadt. W. Spät wurde am 10. (24.) Oktober geboren. Seine Eltern hatten 1909 in der lutherischen Kirche der heiligen Katharina die Ehe geschlossen. Bald wurde in der Familie Spät der Sohn Willi geboren. Bereits knapp zwei Jahre darauf starb sein Vater.
Der kleine Willi zeigte bereits in früheren Kinderjahren hohe musikalische Fähigkeiten und große Neigung zur Musik. Als ihr Sohn die Absicht äußerte, Berufmusiker zu werden, legte ihm die Mutter keine Hindernisse in den Weg.
Wilhelm Spät absolvierte das Omsker musikalische Technikum unter dem Direktor Komow; seine Geigenlehrer waren Kolotuchin, Michajlow und der Cellist Korobtschenko. Wegen des Krieges konnte Wilhelm Jakowlewitsch das Konservatorium in Saratow nicht abschließen, aber nach dem Kriege wurde ihm einem der besten Studenten des Konservatoriums das Diplom ohne Examen überreicht. Nach Abschluss des Technikums aber schickte man Wilhelm Spät nicht an die Front oder in ein Theater, sondern kommandierte ihn in die Arbeitsarmee ab! Arbeiten bis zur völligen Erschöpfung. Hunger. Ernährungsstörungen. Tiefe Ohnmachten. Im Zustand der Bewusstlosigkeit hielt man Wilhelm Spät für tot und brachte ihn in die Totenbaracke, wo ihn, als er erwacht war, ein Sanitärer entdeckte. Wilhelm Späts Mutter kämpfte verzweifelt um seine Freigabe, bis man ihn schließlich freigab – zum Sterben. Und die Mutter vollbrachte das Wunder: Sie holte ihren Sohn ins Leben zurück.
Von 1946 bis zu seiner Pensionierung 1971 war Wilhelm Spät als Pädagoge in der Violinklasse der Musikschule Nr. 1 für Kinder in Omsk tätig. Einige Zeit arbeitete er auch im Orchester des Omsker Radiokomitees. Wilhelm Spät starb am 11. Dezember 1979 und ist auf dem Ostfriedhof in Omsk begraben.
Jetzt tragen die Schüler von Wilhelm Spät und deren Schüler das bei ihrem Lehrer erworbene Können in alle Welt, denn wirken nicht nur in Russland, sondern auch in Deutschland, den USA, Israel, Australien, der Schweiz, …Heute trägt die Kinder-Musikschule des Kreises Asowo den Namen Wilhelm Jakowlewitsch Spät und vergibt ein Stipendium unter seinem Namen.
110
MEINE „ANKER“
Von allen Erfindungen auf mechanischem Gebiet, die der Mensch in den letzten zwei Jahrhunderten gemacht hat, ist für die Familie nur die Nähmaschine ein über lange Zeit beständiger und zuverlässiger Freund geworden. Viele Erfindungen für den Alltag sind durch Neuerungen ganz anderen Typs und Funktionsprinzips verdrängt worden, wie zum computergestützten CD-Spieler. Die Haushaltsnähmaschine hat zwar ihr Äußeres leicht vervollkommnet, die Nähte aber zieht sie immer noch nach dem gleichen mechanischen Prinzip und auf die gleiche Weise wie vor anderthalb Jahrhunderten. Sie ist vielen Familien ein treuer Freund geblieben.
Iwan Schichatow wurde durch die alte Nähmaschine der Marke „Anker“ (Baujahr 1882), auf der seine Großmutter für die ganze Familie nähte, angeregt, sich für Nähmaschinentechnik zu interessieren. Er begeisterte sich für die Leistungen der Ingenieure, Techniker und Arbeiter, die diese Maschinen konstruiert und gebaut hatten. Schließlich begann er, deutsche Haushaltsnähmaschinen verschiedener Marken aus dem 19. Jahrhundert zu sammeln. Er stellte nach Möglichkeit den Originalzustand der Maschinen wieder her und machte sie wieder funktionstüchtig.
Im Jahre 1997 fand in Omsk in Zusammenarbeit mit dem Heimatkundemuseum eine Ausstellung der Nähmaschinen unter dem Titel „Die Nadel mit dem Ohr in der Spitze“ («Иголка с ушком на острие») statt. Die Ausstellung stieß auf reges Interesse und wurde stark besucht. Sie brachte den Betrachtern zu Bewusstsein, dass Nähmaschinen ein Element der materiellen Kultur der vergangenen Jahrhunderts repräsentieren.
In der nur spärlich vorhandenen Literatur zur Geschichte der Nähmaschine sind untere anderen die mehr oder weniger bekannten deutschen Marken „Naumann“, „Veritas“, „Oskar Nolte“ und „Anker“ genannt. Die Firma Singer hingegen wurde von Isaak Singer, einem Auswanderer aus Deutschland, 1851 als US-amerikanische Firma gegründet.
Über Jahrhunderte hatte der Mensch seine Kleidung in sehr mühevoller und wenig produktiver Arbeit mit der Handnadel genäht.
Schon Leonardo da Vinci versuchte diese Tätigkeit zu mechanisieren, aber vergeblich. Im 16. Jh. (1589) erfand der Engländer W. Lee eine Strickmaschine [den so genannten Kulierwirkstuhl].
Eine 1755 von dem Engländer U. Wesental konstruierte Nähmaschine
111
kopierte lediglich das Nähen mit der Handnadel. Im dann einsetzendem Strom von Erfindungen brachten zwei Ideen des amerikanischen Ingenieurs Walter Chant den Durchbruch: die Nadel mit dem Ohr an der Spitze und die Schiffchen-Konstruktion. Eine funktionierende Maschine, die nach den Prinzipien von Chant arbeitete, konstruierte der amerikanische Mechaniker Elios Hoy.
In der uns gewohnten Tischform schließlich entwickelte der USAmerikaner Alan Wilson die Haushaltsnähmaschine. Der oft erwähnte I. Singer dagegen ist an der Erfindung der Nähmaschine nicht beteiligt& Er hat nur alle Patente von Chant, Hoy, Wilson und anderen aufgekauft und hat unter Nutzung fremder Erfindungen 1850 die Maschine auf seinen Namen zum Patent angemeldet.
EIN FINANZGENIE
Einer der großen Bürger der Stadt Omsk zu Beginn des 20. Jahrhunderts war Philipp Philippowitsch Stumpf. Er wurde 1863 im Gouvernement Samara als Sohn eines deutschen Kolonisten geboren. Er schloß die agronomische Fakultät der Universität Tomsk als Kandidat der Landwirtschaftswissenschaften ab. Die große Leidenschaft seines Lebens waren Pferde.
In seinem Arbeitsort Ufa lernte Stumpf die sehr reiche junge Witwe Nadeshda Stepanowna Belyschewa kennen. Zum ersten Mal begegneten sie sich
– im Hippodrom: Die Liebe zu den Pferden verband sie.
Im Jahre 1898 nahm Pilipp Philippowitsch Stumpf das Angebot an, Chefagronom des Steppenkreises zu werden.
Zur Eröffnung seiner Versuchswirtschaft am 19. April 1900 pachtete er vom Kosakenheer ein Grundstück am linken Ufer des Irtysch. Hier schuf er den ersten mechanisierten landwirtschaftlichen Großbetrieb mit einer windbetriebenen Elektrostation, einem artesischen Brunnen mit Wasserleitung, einem Lokomobil, einer Mühle, einem Traktor, Dreschmaschinen, Strohscheidemaschinen, Getreidesortiermaschinen. Er züchtete Rassevieh und gekreuzte Rassen, wandte neue Sorten von Grasund anderen Futterkulturen an. Er ließ Pferdeund Kuhställe mit automatischen Tränken erbauen. Alles das erstmalig in Sibirien!
Das geschickt angelegte Kapital seiner Frau warf solide Dividenden ab. Das und seine ungewöhnlichen Fähigkeiten erlaubten es Stumpf, ins große Geschäft
112
einzutreten und Teilhaber großer Projekte zu werden. Sein Hauptverdienst aber besteht zweifellos in der Schaffung eines Systems der kommerziellen, landwirtschaftlichen und veterinärmedizinischen Bildung durch Gründung bzw. Mitbegründung entsprechender Gesellschaften, Lehranstalten, Kurse usw., zum Beispiel des Omsker Börsenkomitees, der Omsker Gesellschaft zur Förderung der Pferdezucht, der Omsker Handelschule (1911), der Gesellschaft der Künstler und der Liebhaber der schönen Künste.
Außerdem war Stumpf aktiver Politiker, Mitglied der Partei der Kadetten und der Omsker Stadtduma von 1914 bis 1918.
Während der Oktoberrevolution und der Wirren danach tat Stumpf wenig, um seinen Besitz und sein Kapital in Sicherheit zu bringen. Als er im Frühjahr 1918 von den Sowjetbehörden verhaftet wurde, traten die Arbeiter und Angestellten seines Landwirtschaftbetriebes für ihn ein und baten in einem Gesuch um seine Freilassung. Gleiches tat seine Frau. Darauf wurde Stumpf gegen Hinterlegung von 50000 Rubeln als Pfand und die Verpflichtung, Omsk nicht zu verlassen, auf freien Fuß zu setzen.
Anfang 1920 fand Stumpf sein Landgut völlig verwahrlost vor. Alles war von der Sowjetmacht konfisziert worden und bildete jetzt den „Sowchos Nr. 1“. Dabei stand zur Verwunderung von Philipp Philippowitsch auf allen offiziellen Formularen dieses Sowchos „Ehemaliges Landgut Stumpf“. Philipp Stumpf wurde von den Sowjetbehörden als Berater auf dem Sowchos angestellt. Ihm als großem Spezialisten auf dem Gebiet eines kulturvollen Landbaus sowie der Viehund Pflanzenzucht gelang es wirklich, die völlig zerrüttete Wirtschaft und die Warenproduktion wieder in Ordnung zu bringen.
Aber Philipp Stumpfs Gesundheit war sehr geschwächt, und er ist bereits im März 1921 in Omsk verstorben. Von seinem Grab gibt es keine Spur. Direkt oder indirekt geben über sein Leben und Wirken zahlreiche Dokumente Auskunft, die sich im Staatlichen Archiv des Bezirks Omsk gefunden haben.
IN MOSKAU
Das Violinensemble unter Leitung von V. Runowa kehrte aus Moskau zurück, wo es am Kulturprogramm eines Kongresses der Russlanddeutschen mitgewirkt hatte. Und es kehrte unter neuem Namen zurück: „Omsker Violinensemble W. J. Späth“.
Das Ensemble trägt nun also den Namen des großen Omsker
113
Violinpädagogen Wilhelm Jakowlewitsch Späth. Die professionelle Jury hat die Kunst des jungen Omsker Kollektivs sehr hoch bewertet und insbesondere das Intonierungsvermögen, das Zusammenspiel im Ensemble, das hohe Neveau des Vortrages und den guten Geschmack der Künstler sowie den hohen Schwierigkeitsgrad des Repertoires hervorgehoben. Alles das ist zweifellos auch ein Verdienst der künstlerischen Leiterin des Ensembles, Valentina Georgijewna Runowa. Große Unterstützung erfährt das Ensemble auch vom Bezirkskomitee für Kultur und der Gesellschaft „Erneuerung“.
Das Ensemble ist zu Gastspielen in die Bundesrepublik Deutschland und zur Teilnahme am Festival der deutschen Musik in Saratow, Surgut und Syktywkar eingeladen worden.
(Nach einem Artikel von I. Schichatow in „Ihre Zeitung“ aus dem Jahre 1993)
DER PEINLICHE DEUTSCHE
Der 250. Jahrestag der Gründung der Stadt Omsk sollte prächtig gefeiert werden. Und da mussten die Mächtigen der Stadt feststellen, dass der Gründer der Stadt ein Deutscher namens Buchholtz war. Das erschien doch irgendwie unpassend.
Wie es so zu sein pflegt, entdeckte der Geograph D. N. Fialkow gerade zur rechten Zeit ein von Buchholtz eigenhängig angefertiges Schriftstück, einen so genannten Autograph, in dem der Autor seinen Namen angeblich nicht Бухгольц, sondern Бухольц oder Бухолц schrieb. Daraufhin machte sich M. K. Jurasowa daran, die russische Herkunft dieses Namens zu „begründen“: Sie behauptet, in einer Reihe von Quellen sei der Name in eine deutsche Fassung Бухольц ungemodelt worden. Die Sibirier aber hätten ihn „Бухальц“ genannt. Dieser Name aber komme von dem Wort „бухальц“, das „Gewehr“ oder auch „Kanone“ bedeute. Und so hatte M. K. Jurasowa Buchholtz in ihrem 1972 erschienenen Buch „Omsk“ zu einem Russen gemacht, ohne für ihre „Begründungen“ durch irgendwelche Quellen einen wissenschaftlichen Nachweis zu erbringen.
Im Jahre 1990 erhielt I. P. Schichatow vom Institut der Russischen Sprache der Akademie der Wissenschaften der UdSSR die Bestätigung, dass der Name in dem erwähnten Autographen von Buchholtz als „Бухгольц“ oder „Бухольц“ seien durch falsches Lesen des Autographen verursacht. Außerdem sei durch
114
verschiedene historische Dokumente belegt, dass Iwan Dmitrijewitsch Buchholtz der Sohn eines deutschen Auswanderers aus Sachsen war, der als Offizier in der russischen Armee gedient habe.
Iwan Schichatow hat durch jahrelanges Studium von Wörterbüchern der altslawischen (altkirchenslawischen), altrussischen und der russischen Sprache der Gegenwart, von Dialekten und regionalen Varianten des Russischen sowie anderer Nachschlageund Lehrwerke festgestellt, dass es in der russischen Sprache ein Wort „бухальц“ niemals gegeben hat und auch heute nicht gibt.
Alles in allem ist damit heute zweifelsfrei nachgewiesen, dass die Stadt Omsk von einem Russlanddeutschen in Diensten des russischen Zaren gegründet worden ist. Und in der Stadt wie im Stadtplan gibt es seit 1998 wieder eine „Улица Бухгольца“ (anstelle der vorherigen „russifizierten“ Fassung).
SELBSTLOSE STREITER FÜR DAS OMSKER LAND
Asowo – Zentrum des deutschen nationalen Gebiets. Und welche „nationalen“ Merkmale tragen die Straßennamen von Asowo? Es gibt eine Buchholzstraße, eine Beethovenstraße, eine Straße des 17. Februar (der Gründung des Gebiets) und eine Musikschule „Wilhelm Späth“. Und sonst nichts Typisches, sondern nur die üblichenstandardisierten Straßennamen wie in vielen russischen Städten.
Der Verfasser schlägt vor, die Straßen in Asowo nach historischen Persönlichkeiten deutscher Abstammung zu benennen, die für das Omsker Land hervorragende geistige und materielle Werte geschaffen haben. Er unterbreitet zahlreiche Vorschläge und begründet sie ausführlich. Aus den Begründungen werden im folgenden nur die wichtigsten Fakten angeführt.
General Iwan Springer – Erbauer der neuen Omsker Festung, Begründer der Volksbildung in den Kosakendörfern sowie eines Theaterund Bibliothekswesens im Gebiet.
General Georgij Glasenapp – Begründer und erster Kommandeur des Außerordentlichen Sibirischen Armeekorps; schuf Grundlagen für eine hoch entwickelte Landwirtschaft; gründete das erste symphonische Orchester in Sibirien.
General Karl Klodt von Jürgensburg – Held des Vaterländischen Krieges von 1812; Stabschef des Sibirischen Armeekorps. (Verlebte seine Jugendjahre in Omsk).
115
General Gustav Gastfort – ließ den Omsker Gouverneurspalast und andere architektonisch bedeutende Gebäude erbauen.
General Baron Maksim von Taube – unter ihm wurde die Uspenskij - Kathedrale erbaut und geweiht.
General Jewgenij Schmidt – eröffnete als erste höhere Lehranstalt in Omsk das Lehrinstitut, außerdem die Handelsschule.
Philipp Stumpf – hervorragender Wirtschaftsund Finanzfachmann sowie Politiker; Begründer einer hoch entwickelten Landwirtschaft und Schöpfer eines Systems landwirtschaftlicher und kommerzieller Bildung.
Arthur Vogel – bedeutender Augenarzt, richtete in Omsk die erste Augenklinik ein.
Nikolaj Schneider – Geistlicher, Begründer der evangelisch-lutherischen Gemeinde Sibiriens.
Herbert Gense – Dendrologe und Mitstreiter Nikolaj Wawilows, hat mehr als 40 Jahre an der Begrünung von Omsk mitgearbeitet. Züchtete eine neue, später nach ihm benannte Pappel, die heute viele Straßen von Omsk ziert.
Zu denken wäre auch Zar Peter den Großen, der die Deutschen als Helfer zu sich rief, und Zarin Katharina II, die am Schicksal der Deutschen unmittelbaren Anteil nahm.+
NACH SIBIRIEN? BIST DU TOTAL VERRÜCKT GEWORDEN?
Evelin, 22, ist alte Berlinerin, studiert aber zur Zeit gerade in Göttingen Geschichte. Außerdem ist sie verrückt genug, in einem Kinder-Sommerlager in Kurgan arbeiten zu wollen. Auf dem Weg dorthin geriet sie zufällig ins ZENTRUM FÜR DEUTSCH in Omsk. Hier gefiel es ihr so gut, dass sie im März 2001 ein Praktikum machen will. Für Vitamin DE berichtete sie kurz, was ihre deutschen Freunde von ihren Reiseplänen hielten.
„Nach Sibirien? Bist du verrückt geworden?“ So oder ähnlich reagierten Freunde, Bekannte und Verwandte auf meine Ankündigung, den Sommer als Betreuerin in einem russischen Ferienlager in Sibirien verbringen zu wollen. Sibirien ist eben für die meisten Deutschen immer noch ein weißer Fleck auf der Landkarte, ein Verbannungsort für Schwerverbrecher. Ansonsten gibt es noch unbewohnte Taiga. Und ganz sicher ist Sibirien kein Reiseziel für einen halbwegs vernünftigen Menschen! Nowosibirsk liegt für die Deutschen dann auch mal gleich neben Wladiwostok, Omsk kann schon fast nicht mehr
116
lokalisiert werden. Ja, von Kurgan, meinem „Bestimmungsort“, hatte eigentlich noch nie jemand etwas gehört (Aber jetzt gibt es mindestens zwei, drei Deutsche mehr, die sich mal mit der Sibirien Topographie beschäftigt haben!)
In Sibirien ist es für die Deutschen immer kalt (Hihi, schön, dass der Sommer in Deutschland dieses Jahr im Juli schon vorbei war und mich in Omsk fast tropische Temperaturen und viel Sonne erwarteten!). Und wenn ich dann von kontinentalem Klima sprach und im Atlas beweisen konnte, dass es hier durchaus einen heißen Sommer gibt, wurden andere Vorurteile hervorgeholt: Ich würde bestimmt verhungern! Und falls das nicht, dann würde ich zumindest ausgeraubt oder gekidnappt werden oder ganz sicher auch auf dem langen Weg verloren gehen.
Einige sprachen vorsichtig von traumhafter, unberührter Landschaft und baten um viele Fotos, die ich machen und dann im sicheren Deutschland herumzeigen sollte (Das ist wahrscheinlich so etwas wie ein Ersatzkitzel!). Richtig positive Resonanz gab es kaum, ich wurde höchstens für meinen Mut bestaunt.
Was mich gefreut hat, war aber das aufrichtige Interesse von manchen, ihre Vorurteile gegenüber Sibirien noch einmal zu überdenken. Vor meiner Reise konnte auch ich leider nicht viel über Sibirien sagen. Denn die Informationen, die es in Deutschland gibt, sind mehr als spärlich. Ich werde mich also nach meiner Rückkehr darum bemühen, den Leuten Sibirien ein bisschen näher zu bringen…
Natürlich ist es irgendwie wirklich ziemlich verrückt, sechs Wochen lang hinter dem Ural Kinder zu hüten, aber ich war sowieso immer der Meinung, dass verrückte Leute im Leben einfach mehr Spaß haben.
EVELIN EICHLER
DORFERFAHRUNGEN EINER DEUTSCHEN IN SIBIRIEN
Der 8. März, Tag der Frau und damit bekanntlich ein Feiertag in Russland. Ein guter Grund seine Mutter auf dem Dorf zu besuchen!
Okay zugegeben es war nicht meine Mama, aber die meiner Gastmutter. Zum ersten Mal kam ich in den Genuss mit der электричка zu fahren. Auf der Hinfahrt aber eigentlich nichts Besonderes. Nach einer Stunde Fahrt erreichten wir unser Ziel. Mitten im Nirgendwo stiegen erstaunlicher Weise nicht nur wir aus, einige andere Leute hatten das gleiche Ziel: Das Dorf Конезавод. Wir
117
müssen noch ungefähr 20 Minuten zum Dorf gehen immer entlang einer kaum sichtbaren vereisten Straße. Erst hier wurde mir richtig bewusst, dass ich in Sibirien bin. Ein eisiger Wind schlug mir entgegen, die Landschaft in einer Mantel aus Schnee gehüllt, ab und zu ein paar Häuser, aber ansonsten nichts weiter als Bäume und unendliche Weite von Westsibirien. Im Dorf angekommen, bewunderte ich die schön angemalten Häuser, die, so erklärte man mir, eigentlich gar nicht so schön waren. Naja wir waren ja auch in einem ehemaligen deutschen Dorf. Häuser schön anmalen ist nicht unbedingt üblich in Deutschland. Der Empfang war natürlich sehr herzlich und mir wurden auch gleich ein Paar warme Socken gereicht, die ich im Übrigen bitter nötig hatte. Nachdem wir etwas gegessen hatten, tranken wir Tee und aßen die obligatorischen Süßigkeiten. Das ist ein Grund warum ich mich in Russland so wohl fühle, zur Tasse Tee gibt es immer etwas Süßes. Danach mussten wir uns ausruhen und das nicht nur wegen der doch etwas anstrengenden Reise. Schon sehr bald sollte sich herausstellen, dass genau das die zwei Hauptbeschäftigungen waren: essen und ausruhen. Eine Stunde später kam der Opa aus der баня und begrüßte uns. Ich verstand kein Wort. Bei der Oma musste ich mich anstrengen um etwas zu verstehen, aber beim Opa war der Fall hoffnungslos. Man beruhigte mich aber einbisschen, dass manchmal nicht einmal die Familie verstand, was er sagte. Nach einer Tasse Tee gingen auch wir in die баня. Das war mein erstes Mal in einer russischen баня. Da meine Erfahrungen lediglich auf im Fernseher gesehene Reportagen beruhten, wusste ich nichts genau auf was ich mich da einließ. Ich wusste, dass es warm sein und dass man mich „verhauen“ würde. Und tatsächlich war es dann auch so. Es war sehr warm. Zuerst haben wir ganz normalgeschwitzt und dann wurde ich mit dem веник ausgeklopft.
Danach fühlte ich mich aber besser. Die sibirische Kälte verschwand aus meinem Knochen und ich wollte einfach nur noch schlafen. Aber stattdessen musste ich trinken und zwar Kompott. Soviel Gesundes hatte ich meinen Körper in den letzten Jahren schon lange nicht mehr angetan. Ich war überzeugt nicht krank zu werden. Danach entspannten wir uns auf der Couch und guckten Fernseher. Und gleich noch eine Premiere: Pretty Woman auf Russisch. Eigentlich war es mehr ein Mix aus Russisch und Englisch, da man den Film zwar synchronisiert hatte, aber der Originalton in normaler Lautstärke im Hintergrund lief.
Am nächsten Morgen war der 08.03. Zum Frühstück gab es Geschenke und
118
sehr viele блины. Mir ist bis heute noch unklar, wann genau die Oma so viele блины gemacht hatte. Zu den блины gab es Fisch und heiße Butter. Zuerst wusste ich nicht recht, was ich mit der Butter anfangen sollte. Nach einer kurzen Erklärung begriff ich endlich: tunken, einfach eintunken. Sowieso habe ich manchmal ein paar Schwierigkeiten mit dem Essen. Meine Gastfamilie isst zu jeder Mahlzeit Brot. Wenn man mir aber auf meinem Teller eine Kartoffel gibt, weiß ich einfach nicht was ich mit dem Brot machen soll. Wann soll ich das denn noch essen, ich habe doch schon eine Kartoffel!
Den Fisch jedenfalls, den wir aßen, hatten wir am Vortag mitgebracht. Da war er noch in einem Stück, d.h. noch nicht ausgenommen. Und wieder stellte ich mir die Frage, ob die Oma überhaupt geschlafen hatte. Zur Verdauung machten wir einen kleinen Spaziergang durch das Dorf. Abermals mussten wir mit einem eisigem Wind kämpfen. Dennoch zeigte man mir die Pferderanch, wofür das Dorf bekannt war. Ein für mich typisches russisches Bild bot sich, als vor uns eine vermumte Frau auftauchte. Sie zog einen Schlitten hinter sich her und wollte vermutlich einkaufen. Pünktlich um das Mittag vorzubereiten, kehrten wir zum Haus zurück. Nun erteilte man mir eine Unterrichtsstunde in пельмени Kochen. Das war eigentlich gar nicht so schwer. Das Fleisch in den Teig und dann den Teig zusammendrücken. Ich hatte das Gefühl, das wir Tausende von ihnen formten. Nach dem Mittag und einer Tasse Tee wurde es Zeit Abschied zu nehmen. Auf den einsamen Weg zurück zur Haltestelle der электричка wurden wir abermals von vielen Leuten begleitet. Man hatte mich schon einbisschen vorbereitet, dass es im Zug voll sein würde, da nach einem langen Wochenende alle in die Stadt zurück wollten. Eine Woche Erfahrung mit öffentlichen Verkehrsmitteln in Omsk, lehrten mich den Begriff „voll“ sehr ernst zu nehmen. Und so war der Schock nicht ganz so groß, als ich den wirklich überfüllten Zug sah. Drängelnd konnten wir uns ein Stehplatz ergattern. Und so fuhren wir dann eine Stunde lang, Richtung Omsk. Der Zug leerte sich erst kurz vor Omsk, aber eigentlich war es unmöglich einzusteigen, geschweige denn umzufallen.
Dann noch eine Fahrt im überfüllten троллейбус, ein kurzer Spaziergang über die vereisten Straßen und dann endlich das gemütlich zu Hause, wo man Platz hatte und durchatmen konnte.
119