
- •Isbn 966-698-046-0
- •Inhaltsverzeichnis
- •Thema 1. Von Anfängen bis zum Ende des frühen Mittelalters (750 – 1170)
- •Thema 2. Hoch – und Spätmittelalter (1170-1500)
- •Thema 3. Renaissance, Humanismus, Reformation (1470 – 1600)
- •Volksbuch und Volkslied
- •Thema 4. Barock (1600 – 1700)
- •2. Merkmale der Barockliteratur
- •Thema 5. Pietismus, Rokoko und Empfindsamkeit (1670 -1780)
- •Thema 6. Aufklärung (1720-1785)
- •1. Das neue Weltbild
- •2. Die Rolle der Kunst
- •3. Bedeutende Autoren und Werke
- •Thema 7. Sturm und Drang
- •2. Friedrich (von) Schiller
- •Thema 8. Klassik (1776-1805)
- •2. Dichtung der Zeitgenossen Goethes und Schillers
- •Thema 9. Die Epoche der Romantik (1798-1835)
- •2▼Hoch- und Spätromantik
- •4.Spätromantik (1816-1830)
- •Thema 10. Zeitalter der Restauration: Biedermeier, Junges Deutschland und Vormärz (1815-1848)
- •2. Das "Biedermeier"
- •3. Junges Deutschland und Vormärz
- •Thema 11. Der poetische (bürgerliche) Realismus
- •Thema 12. Die Epoche des Naturalismus (1880-1900)
- •1. Grundideen
- •2. Literarische Feinde und Vorbilder
- •3. Formen
- •4. Wichtige Vertreter
- •Thema 13. Literatur der Jahrhundertwende (1890-1920)
- •1. Zur Geschichte:
- •2. Wichtige Autoren und Werke
- •Inhaltlich
- •Thema 14. Expressionismus (1910-1925)
- •1. Zum Begriff:
- •2.Weltanschauung
- •3. Problematik
- •4. Merkmale expressionistischer Literatur
- •Thema 15. Die Literatur zwischen zwei Weltkriegen
- •1.Literatur der Weimarer Republik. Neue Sachlichkeit
- •2.Kriegs- und Antikriegsromane
- •2. Literatur im Exil (1933-1945)
- •Thema 16. Literatur der nachKriegszeit(1945-1970)
- •1. Zur Geschichte:
- •2. Das Drama in Deutschland
- •3. Die Lyrik der Nachkriegszeit
- •Inventur
- •Thema 16. Die literatur der ddr (1945-1990)
- •Vergnügungen
- •Thema 17. Die österreichische Nachkriegsliteratur
- •Thema 18. Deutschsprachige Literatur der Schweiz
- •Thema 19. Die Erzählkunst der Gegenwart
- •Seminarfragen seminar 1.
- •Seminar 2. Die deutsche Romantik
- •Seminar 3. Die großen deutschen Schriftsteller und Romanisten der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts
- •Seminar 4. Bertold Brecht als Erscheinung
- •Seminar 5.
- •Seminar № 6. Frauenliteratur – Literatur der Frauenbewegung?
- •Seminar № 7.
- •Im Zeichen der Post moderne
- •Seminar № 8. Lyrik der beschädigten Welt
- •Теми для повторення матеріалу та для рефератів з німецької літератури
- •Literaturverzeichnis
- •Literatur aus neuerer Zeit
- •Literaturverzeichnis
- •Гаврило Лідія Миколаївна Stichworte zur Geschichte der deutschen Literatur
- •40002, М. Суми, вул. Роменська, 87
Thema 17. Die österreichische Nachkriegsliteratur
Die österreich-ungarische Donaumonarchie (Habsburger) vereinigte viele Nationalitäten, die alle ihre Spuren in der Kulturgeschichte Österreichs hinterließen. Nach dem Zusammenbruch der Monarchie entstand 1918 die „Republik Deutsch-Österreich”. Der Völkerbund verbot 1922 den Anschluß der Republik an das Deutsche Reich, der jedoch 1938 durch Hitler erfolgte. Dadurch kam auch Österreich unter die Herrschaft des Nationalsozialismus. Auch österreichische Schriftsteller wurden nun zu politischen Entscheidungen gezwungen. Viele sahen – wie ihre deutschen Kollegen – in dieser Zeit den einzigen Ausweg in der Emigration: Hermann Broch, Elias Canetti, Ödö von Horvath, Robert Musil, Joseph Roth und Stefan Zweig.
Nicht nur unter dem Faschismus, auch nach dem Zweiten Weltkrieg hat sich Österreich mit den politischen Gegebenheiten,,arrangiert“. Durch die Zusicherung der strikten Neutralität erreichte Österreich mit dem 1955 abgeschlossenen Staatsvertrag den Abzug aller vier Siegermächte (USA, England, Frankreich, Sowjetunion) aus österreichischem Territorium.
In Österreich schüttelte man das Trauma der nationalsozialistischen Herrschaft und die Schuldfrage schneller und problemloser ab als in Deutschland. Die Auseinandersetzung der jüngeren mit der älteren Generation in bezug auf das,,Mitmachen“ im Nationalsozialismus fand in der Literatur kaum einen Niederschlag. Viele österreichische Autoren publizierten zuerst in der Bundesrepublik, wo ihre Werke daher häufig viel früher als in Österreich rezensiert und diskutiert wurden. Die Frage, ob man die Entwicklung der Literaturen beider Länder voneinander trennen kann, wird immer wieder gestellt. Betrachtet man die Literatur Österreichs für sich, muß man stets die Verbindung zur deutschen Geschichte und Literatur einbeziehen.
In der Literatur, die nach dem Krieg in Österreich entstand, gab es von Anfang an zwei Entwicklungslinien, drei Gruppierungen feststellbar. Auf der einen Seite stehen die Werke der bereits vor dem Krieg etablierten und bekannten Autoren, die zum großen Teil im Exil waren.
■Gruppe der dem NS-Regime unkritisch oder angepasst gegenüberstanden
■Gruppe der aus dem Exil heimgekehrten(Hans Weigel).
■Gruppe junger kritischen Autoren (Ingeborg Bachmann, Paul Celan, Ilse Aichinger), Autoren, die 1920 und später geboren wurden. Die Berührungspunkte sind nicht sehr zahlreich.
Als Publikationsorgan für die Gruppe der,,älteren“ Autoren ist die Monatsschrift Turm zu nennen. Sie wurde im August 1945 von der neu entstandenen,,Österreichischen Kulturvereinigung“ gegründet. Diese Zeitschrift wurde ein wichtiges Sprachrohr des vorsichtigen Fortschritts. Die Autoren beschäftigten sich mit Themen aus der Vergangenheit oder stellten Auszüge aus neu entstehenden Werken vor.
In den 50er Jahren erschien eine Reihe von Romanen, die schon früher entstanden waren. H. von Doderer (1896-1966) veröffentlichte 1951 Die Strudlhofstiege oder Melzer und die Tiefe der Jahre. Der Roman deckt das fast unüberschaubare Panorama des gesellschaftlichen Lebens in Wien um 1910 (Monarchie) und um 1925 (Republik) noch einmal auf. Hauptperson ist der ehemalige Major Melzer. Es gibt weder einen geordneten Handlungsablauf noch eine Konzentration auf die Hauptfigur, so daß eine Inhaltsangabe kaum möglich ist. Verbindendes Element durch die Jahre hindurch ist die Strudlhofstiege, eine Treppe, die zwei Wiener Straßen und damit zwei verschiedene Welten miteinander verbindet. Der Roman endet mit Melzers Hochzeit, einem trotz aller Morbidität des dargestellten gesellschaftlichen Lebens heiteren Schluß.
Doderer bezeichnete seinen 1956 erschienenen Roman Die Dämonen. Nach einer Chronik des Sektionsrates Geyrenhoff als,,Synopsis des Lebens“. Diese Zusammenschau ist recht wehmütig gefärbt. Der Roman entstand zwischen 1931 und 1940. Auch hier überschneiden sich zahlreiche Handlungen, die Zahl der Figuren ist noch viel größer als in der Strudlhofstiege (30 ineinander verflochtene Einzelschicksale, teilweise sind es die gleichen wie dort). Im Mittelpunkt steht wieder die Wiener Gesellschaft. Der Titel Die Dämonen – gleichlautend wie ein Romantitel des Russen Dostojewski (1871/72) – weist auf eine kranke, von falschen Idealen geleitete Gesellschaft. Doch bei Doderer gibt es immer auch eine Möglichkeit der Heilung: das Bewahren der Zeit in der Erinnerung. Der Blick richtet sich also zurück in die Vergangenheit.
Die Rückschau, die Enttäuschung über den Verlauf der Geschichte, der Zusammenbruch des gesellschaftlichen und politischen Systems der alten Monarchie sind Themen der Romane, die in den 50er Jahren erschienen (z. B. A. Lernet-Holenia; F. Torberg, 1908-1979).
Schon 1946 erschien im Plan Ilse Aichingers Aufruf zum Mißtrauen. In eindringlichen Fragen und Ausrufen fordert die Autorin zur Suche nach der vollkommenen, klaren Wahrheit in der Literatur auf. Ihr einziger Roman Die größere Hoffnung (1948) erzählt das Schicksal eines halbjüdischen Mädchens in Deutschland während der Zeit des Nationalsozialismus. Je häufiger Ellens Hoffnung auf ein anderes, besseres Leben enttäuscht wird, desto wunderbarer und paradiesischer kommt ihr dieses andere Leben vor. Der Roman geht neue Wege in der Darstellung. Die Lyrikerin Aichinger benutzt schon in diesem frühen Werk eine Erzählweise, die die lyrische, vielfach gebrochene Sicht der Ereignisse stärker betont als eine episch-breite, chronologische Darstellung.
Bis in die 50er Jahre kann man ein reibungsloses Nebeneinander der alten und der jungen Generation erkennen. Das änderte sich, als sich die junge Generation durch die Stipendien- und Verlagspolitik nicht genügend berücksichtigt fühlte. Die Kluft zwischen den Generationen der Autoren zeigte sich unter anderem auch in einer heftigen Kontroverse um Brechts Theaterstücke, die in Österreich lange Zeit nicht auf die Bühne gebracht werden konnten, weil man in ihnen kommunistische Tendenzen entdeckte. Erst 1963 wurden in Wien wieder Stücke von Brecht aufgeführt, was vorher nur auf skandalumwitterten Bühnen kleiner Städte möglich war.
Um 1954 entstand die,,Wiener Gruppe“, der junge und experimentierfreudige österreichische Schriftsteller angehörten, unter ihnen Gerhard Rühm und Hans Carl Artmann, Konrad Bayer, Ernst Jandl. Sie stellten sich gegen das Traditionelle in der österreichischer Literatur. Vertreter knüpfen verschiedene Traditionen an.(Barock, Wiener Volkstheater, Expressionismus), sie verwenden Dialekt, lösen teilweise die Syntax auf. G. Rühm verkürzte die Sprache auf die für das Verständnis wichtigsten Wörter. Die artistische Behandlung von Sprache löste deren kausalen Zusammenhang auf, was aber nicht mit dem Verzicht auf einen Sinnzusammenhang gleichzusetzen ist.
stille
irgendwer sucht mich
stille
wer sucht mich
stille
sucht mich
stille
ich
stille
Auf diese Weise können neue Beziehungen entdeckt werden. Im Rückgriff auf den Dadaismus wandte Rühm die Technik der experimentellen Lyrik (oder Konkrete Poesie) auch auf das Theater an. Sein programmatischer Einakter rund oder oval (1954) wurde 1961 in Schweden uraufgeführt und gilt als Vorläufer des modernen Hörspiels.
Von der,, Wiener Gruppe“ beeinflußt ist Ernst Jandl, ein Sprachspieler, der die Tiefe an der Oberfläche versteckt. Jandl ist ein wichtiger Repräsentant der Konkreten Poesie, die
eine dichtung [ist], die nichts enthält, was man wissen kann, sie ist,,konkret“, indem sie möglichkeiten innerhalb der sprache erzeugt.
1966 erschien seine Sammlung Laut und Luise (ein Spiel mit den Wörtern „laut“ und,,leise“), 1968 sein Gedichtband Sprechblasen. Hier wird schon im Titel angedeutet, daß die graphische Gestalt die jeweiligen Aussagen unterstützt und bei der Betrachtung der konkreten Poesie berücksichtigt werden muß:
Ottos mops otto holt koks ottos mops klopft
ottos mops trotzt otto holt obst otto: komm mops komm
otto: fort mops fort otto horcht ottos mops kommt
ottos mops hopst fort otto: mops mops ottos mops kotzt
otto: soso otto hofft otto: ogottogott
►Die österreichische Nachkriegsliteratur bietet auch eine Lyrik, die weniger Sprachexperimente betreibt, aber nicht als traditionell in einem konservativen Sinn bezeichnet werden kann, z. B. Gedichte von Celan, Ausländer, Aichinger und Bachmann.
Paul Celan, geboren 1920 in Tschernivzi als Sohn eines deutschsprachigen Juden, Eltern kommen im KZ um, lebte seit 1948 in Paris. 1952 erschien seine zweite Gedichtsammlung Mohn und Gedächtnis, mit der die deutschsprachige Nachkriegslyrik einen ersten Höhepunkt erreichte. Celan ist stets ein Einzelgänger geblieben. Seine Gedichte sind geprägt von Ernüchterung und Melancholie. An dem Gedicht Todesfuge (aus Mohn und Gedächtnis), das die Grausamkeiten in den Konzentrationslagern des Dritten Reiches in außerordentlich schöner und musikalischer Sprache thematisiert, entzündete sich eine anhaltende Diskussion. Theodor W. Adorno (1903-1969) faßte sie in der Frage zusammen, ob man „nach Auschwitz“ überhaupt noch ein Gedicht schreiben könne, ob man diese Schrecken überhaupt in Sprache fassen könne. (In Auschwitz befand sich das größte Vernichtungslager der Nationalsozialisten.) Celan verwendete in seinen Gedichten die Sprache so, daß der Leser sich auf ihre neuen Bedeutungsmöglichkeiten einlassen muß, um dem Gehalt der Gedichte näherzukommen. 1955 folgte der Gedichtband Von Schwelle zu Schwelle, 1963 Die Niemandsrose. Celans letzter Gedichtband Schneepart (1971) erschien erst nach seinem Freitod. Die zunehmende Sprachverknappung machen das Verständnis seiner Gedichte schwierig. Er selbst sagte:
Das Gedicht ist einsam. Es ist einsam und unterwegs, wer es schreibt, bleibt ihm mitgegeben.
Es fällt nun, Mutter, Schnee in der Ukraine:
Des Heilands Kranz aus tausend Körnchen Kummer.
Von meinen Tränen hier erreicht dich keine.
Von frühern Winken nur ein stolzer stummer...
Tепер, матусю, сніжно на Вкраїні...
Вінець Месії – мов разок страждання...
Моя сльоза тебе уже не стріне.
З усіх постав – лиш горде німування
“Allein der Rhytmus trägt die poetische Spannung, während die Worte Klartext sprechen, als stünden sie in einem Brief. Angesicht des Todes jedes poetische Sprechen darüber eine unerträgliche rhetorische Stilisierung bedeuten, das Schweigen aber nur dem Vergessen und dem Verdrängen Vorschub leisten würde” (пер.і коментар П. Рихла)
Eine Nähe zu der Lyrik Celans bemerkt man bei Rose Ausländer. Ihre Themen sind zunächst von der Situation des Exils während des Zweiten Weltkriegs bestimmt. 1967 erschien die Gedichtsammlung 36 Gerechte. R. Ausländer verließ sich in ihren Gedichten auf den Moment, auf das gerade Geschehende, und verlieh ihm Worte:
Meine bevorzugten Themen? Alles – das Eine, und das Einzelne, Kosmische, Zeitkritik, Landschaften, Sachen, Menschen, Stimmungen, Sprache – alles kann Motiv sein.
Beide, Paul Celan und Rose Ausländer sind in Czernowitz aufgewachsen, ihr Schaffen ist durch die Natur und Kultur dieser Bukowiner Metropolie geprägt. Sie gelten als Klassiker der modernen Lyrik.
►Ilse Aichinger (geb.1921 in Wien). Ihre lyrischen Kurztexte erschienen erst 1978 unter dem Titel Verschenkter Rat. Bei ihr fließen Realismus und Surrealität ineinander. Das lyrische Ich der Dichterin wird zum Sprachrohr dessen, was sich um sie herum bewegt und verändert. Die österreichische Landschaft, Dörfer, Alpen, das offene Land sind Bestandteile dieser Lyrik.
►Ingeborg Bachmann (1926-1973) sagte über den Schriftsteller:
Alle Fühler ausgestreckt, tastet er nach der Gestalt der Welt, nach den Zügen der Menschen in dieser Zeit.
Ihre ersten Veröffentlichungen Die gestundete Zeit (1953) und Anrufung des großen Bären (1956) machten sie schnell als Lyrikerin bekannt. Die Gedichtsammlungen zeigen eine surreale Bilderwelt und weisen Metaphern auf, die nicht leicht verständlich sind. Herkömmlichen Symbolen gibt die Dichterin einen anderen Sinn oder eine andere Bedeutung. So wird die Eule in dem Gedicht „Mein Vogel“ zum Sinnbild der eigenen Existenz der Dichterin als Mensch und Künstlerin und Sternbild des Bären zum Symbol der Angst. Ihre Nähe zu Rilke fiel bald auf; man findet bei ihr eine Symbiose von Tradition und Aktualität, von Poesie und Intellekt und eine Bereitschaft, alles in sich aufzunehmen. Das lyrische Ich faßt die nicht zufriedenstellende Realität in Worte. I. Bachmann erprobte stets neue Formen; sie benutzte strenge Reimmuster, aber auch sehr kunstvolle freie Rhythmen. In ihrer Affinität zum Romanischen, der Liebe zur Musik (sie schrieb Libretti für den Komponisten Hans Werner Henze) und im vorsichtigen Experimentieren mit der Sprache steht sie H. von Hofmannsthal nahe. Ingeborg Bachmann studierte Philosophie an der Universitäten in Innsbruck, Graz und Wien, promovierte zum Dr. phil. 1950, hatte Lehrstuhl für Poetik in Frankfurt am Main, starb 1973 in Rom.
Die große Fracht
Die große Fracht des Sommers ist verladen,
das Sonnenschiff im Hafen liegt bereit,
wenn hinter dir die Möwe stürzt und schreit.
Die große Fracht des Sommers ist verladen.
Das Sonnenschiff im Hafen liegt bereit,
und auf die Lippen der Galionsfiguren
tritt unverhüllt das Lächeln der Lemuren.
Das Sonnenschiff im Hafen liegt bereit.
Wenn hinter dir die Möwe stürzt und schreit,
kommt aus dem Westen der Befehl zu sinken;
doch offnen Augs wirst du im Licht ertrinken,
wenn hinter dir die Möwe stürzt und schreit.
Sieben Erzählungen, die1961 unter dem Sammeltitel Das dreißigste Jahr erschienen, kreisen alle um die Suche nach Wahrheit, Freiheit und Gerechtigkeit. I. Bachmann versucht, den Widerspruch zwischen dem Sprechen und dem Handeln darzustellen.
Und ich wußte plötzlich: alles ist eine Frage der Sprache und nicht nur dieser einen deutschen Sprache, (...) Denn darunter schwelt noch eine Sprache, die reicht bis in die Gesten und Blicke, das Abwickeln der Gedanken und den Gang der Gefühle, und in ihr ist schon all unser Unglück.
So heißt es in der Erzählung Alles (aus Das dreißigste Jahr). I. Bachmanns Erzählsammlung Simultan (1972) und ihr einziger vollendeter Roman Malina (1971) fanden bei den Kritikern nicht die gleiche Anerkennung wie ihre Gedichte. Man bemängelte an Malina, der tödlich endenden Geschichte einer Frau zwischen zwei Männern, vor allem Sentimentalität und Melodramatik.
Als Muster in der Gattung des Hörspiels gilt I. Bachmanns Der gute Gott von Manhattan (1958). Der gute Gott ist von der verderblichen Kraft der Liebe überzeugt, deshalb hat er Jennifer getötet und dadurch das Liebespaar Jan und Jennifer getrennt. Wie in einem analytischen Drama ist die Katastrophe bereits geschehen. Neu ist, daß in wechselnden Szenen die Zeitebenen vor und nach der Katastrophe und der Prozeß um die Schuldfrage dargestellt werden.
Celan, Ausländer, Aichinger und Bachmann wurden schon früh außerhalb Österreichs beachtet. Für die noch jüngeren Autoren war eine Gruppenbildung im eigenen Lande unbedingt notwendig, um ihnen und ihren Werken einen Sammelpunkt zu schaffen.
►1959 wurde in Graz der Verein „Forum Stadtpark” gegründet, dessen Zeitschrift manuskripte ab 1960 erschien. Der Verein etablierte sich in einem Haus in Graz, um allen Künsten (zeitgenössischer Literatur, Musik, Malerei und Plastik) ein Zentrum zu bieten. Dieser feste Bezugspunkt garantierte, daß die Grazer Gruppe nicht so schnell auseinanderfiel, wie andere Gruppierungen junger Autoren. Für die österreichische Nachkriegsliteratur ist das,,Forum Stadtpark“ die wichtigste Institution. Alle bekannten zeitgenössischen Autoren nahmen daran teil.Wichtigste Figur Alfred Kolleritsch, auch Peter Handke, Barbara Frischmuth, Wolfgang Bauer. Man war offen für alles Neue im Bereich der Kunst und Literatur. Heute ist der aus dem,,Forum Stadtpark“ hervorgegangene,,Steirische Herbst“ eine über die Grenzen Österreichs hinaus bekannte Veranstaltung (Lesungen mit Preisvergabe, Neue Musik usw.), die einmal jährlich im Herbst in Graz/Steiermark stattfindet.
►1961 wurde von Regierungsseite die „Österreichische Gesellschaft für Literatur” gegründet, die nicht nur Lesungen veranstaltete, sondern auch Stipendien an Autoren und Literaturwissenschaftler vergab und der österreichischen Literatur im Ausland mehr Geltung verschaffen wollte.
►E. Canetti ist ein Autor, der Brücken zwischen den Generationen geschlagen hat. Er ist spanisch-jüdischer Herkunft und rechnet sein Werk zur österreichischen Literatur. 1963 las er in der,,Österreichischen Gesellschaft für Literatur“. Canetti hatte auch schon vor dem Zweiten Weltkrieg Werke veröffentlicht (z. B. Die Blendung, 1935/36, dieser Roman wurde aber erst in den 60er Jahren rezipiert). Sein Hauptwerk, die kulturphilosophische Schrift Masse und Macht (1960), gibt eine zum Teil sehr eigenwillige Analyse der modernen Gesellschaft. Die Stimmen von Marrakesch. Aufzeichnungen nach einer Reise (1967) entstand nach einer fast zufälligen Reise dorthin. Die Aufzeichnungen stehen in der Tradition der Reiseliteratur. Es sind vierzehn Miniaturen, in denen das Altvertraute und das Exotische einer orientalischen Stadt eingefangen wurden. Die Armut und die Sehnsucht nach einem bißchen Glück kommen hier zum Ausdruck:
Am meisten Zulauf haben die Erzähler. Um sie bilden sich die dichtesten und auch die beständigsten Kreise von Menschen. (...) Ihre Worte kommen von weiter her und bleiben länger in der Luft hängen als die gewöhnlicher Menschen.
1977 erschien Die gerettete Zunge. Geschichte einer Jugend. Canetti beschreibt minutiös seine Kindheit in Bulgarien und England, in Wien und Zürich. Er berichtet vom frühen Tod des Vaters und vom Verhalten der Mutter, die dem Sohn den Weg in die Weltliteratur wies. Diese Ende der 70er Jahre erschienene Autobiographie ist kein Einzelphänomen.
Eine Entwicklung hin zur autobiographischen Literatur kann man auch bei Thomas Bernhard und Peter Handke beobachten. Beide Autoren waren in Graz am „Forum Stadtpark“ beteiligt, Handke jedoch weit engagierter als Bernhard.
Th. Bernhard (geb.1931 in Holland, stammt aus einer Salzburger Familie) war ein sehr,, erfolgreicher Außenseiter“ der österreichischen Literatur. Er begann mit düsterer Lyrik, setzte sein Werk aber bald mit Romanen und verschiedenen Theaterstücken fort. Er selbst bezeichnete sich als,,Geschichtenzerstörer“. Bernhards erster Roman Frost (1963) wurde zunächst als,,negativer Heimatroman“ interpretiert. Das ist nicht im traditionellen Sinn zu verstehen. Für die Figuren in Bernhards Werk kann es eigentlich nirgends,,Heimat“ geben. Frost ist ein Bericht in der Ich-Form. Ein Medizinstudent soll in einem abgelegenen Dorf bei Salzburg einen als verrückt geltenden Maler beobachten. Sein Bericht gibt die sich steigernden Ausbrüche des Malers wieder, der an der Atmosphäre des Frosts, an der eisigen Kälte unter den Menschen leidet. Eines Tages verschwindet der Maler, sein Ende bleibt ungewiß. Die weiteren Romane von Bernhard zeigen, daß das Negative zu seinem Programm gehörte. Seine Themen sind Krankheit und Tod, Selbsthaß und Selbstmord, Verstörung und Verbrechen. Die oft monotone, abweisend wirkende Erzählhaltung stellt ein positives Weltbild in Frage und wirkt provozierend. Die Romane Die Ursache. Eine Andeutung (1975), Der Keller (1976) und Der Atem (1978) stellen Österreich als das Negative schlechthin dar; sie sind die Salzburger Autobiographie Bernhards, die er mit weiteren Romanen fortsetzte. Hier wirkt die einst glanzvolle österreichische Politik nach, der das heutige Österreich – nach Meinung Bernhards – kaum etwas Gleichwertiges entgegensetzen kann. Der „Habsburgische Mythos" kann nur noch lähmend wirken, wie es in Holzfällen. Eine Erregung (1984) noch einmal deutlich wird.
In den 60er Jahren begann Peter Handkes erfolgreiche Karriere als Schriftsteller und Dramatiker. 1966 verschaffte ihm sein spektakulärer Auftritt bei der (westdeutschen),,Gruppe 47“ während einer Tagung in Princeton/USA die Neugier der Kollegen und des Publikums. Handke wandte sich gegen die sogenannte,,impotente Beschreibungsliteratur“. Sein Sprechdrama Publikumsbeschimpfung (Uraufführung 1966), auf das man mit,,Autorenbeschimpfung“ reagierte, kehrt das Verhältnis zwischen Schauspielern und Publikum um:
Sie werden beschimpft werden, weil auch das Beschimpfen eine Art ist, mit Ihnen zu reden. Indem wir beschimpfen, können wir unmittelbar werden. Wir können einen Funken überspringen lassen.
Das Sprechstück besitzt keine Handlung, es besteht aus einer endlosen Schimpfkanonade an das Publikum und versucht, die Institution des Theaters und das unbeteiligte Konsumieren der aufgeführten Stücke in Frage zu stellen. Kaspar (1968), ebenfalls ein Sprechstück, zeigt, wie,,jemand durch Sprechen zum Sprechen gebracht werden kann. Das Stück könnte auch Sprechfolterung heißen.“ Kaspar baut auf dem Motiv des historischen Kaspar Hauser auf, der die ersten Jahre seines Lebens nicht unter Menschen verbracht hat und die menschliche Sprache nachträglich mit viel Mühe erlernt. Vor allem Handkes frühe Stücke zeigen eine Abkehr von Handlungsabläufen oder Fabeln (wie, es auch für die frühen Romane von Th. Bernhard gilt). Doch in den folgenden Romanen verzichtet Handke keineswegs mehr auf das Erzählen von Geschichten und Handlung. Das bestätigen Werke wie Der kurze Brief zum langen Abschied (1972) und Wunschloses Unglück (1972). Beide Erzählungen sind autobiographisch gefärbt. Aus der großen Zahl von Handkes Publikationen sei noch Das Gewicht der Welt. Ein Journal (1977) genannt, das zwischen Tagebuch und Materialsammlung schwankt. Handke registrierte hier über einen Zeitraum von einigen Monaten alle sprachlichen Wahrnehmungen, ohne sie zu differenzieren. Kindergeschichte (1981) ist eine ebenfalls genau registrierende Darstellung, in der es um das Verhältnis zwischen Vater und Kind geht. Handke stellt nicht nur die Freude dar, die ein Kind bedeuten kann, sondern er erzählt auch vom Gefühl der Einengung, vom Verzicht auf eigenes Leben für das Leben des Kindes: ein Opfer, das Wut und Haß wecken kann, das aber auch zu einem neuen Verhältnis des Erwachsenen zu sich selbst führen kann. Der Chinese des Schmerzes (1983) berichtet von der langsamen Erkenntnis des Lehrers Loser, daß er seine eigene Mitte nur mit Hilfe eines anderen Menschen wiederfinden kann, daß es keinen Sinn hat, sich zurückzuziehen. „Auf dem Weg hin und her mäandernd und doch zielstrebig“, so kann man Losers Entwicklung, aber auch Handkes Erzählweise beschreiben.
Auch österreichische Autorinnen leisteten einen Beitrag zum Thema der Frauenemanzipation. In Barbara Frischmuths (geb.1941 in Altaussee) erstem Roman Klosterschule (1968) machen sich die Erkenntnisse ihres Sprachstudiums bemerkbar, aber auch die Hinwendung zum Genre der Frauenliteratur. In vierzehn Kapiteln werden Situationsbeschreibungen junger Mädchen in einem katholischen Internat gegeben. Diese Beschreibungen entlarven eine Vorstellungswelt, die von den vielen Regeln und starren Sprachmustern (Sprüche, Redewendungen) im Internat geprägt ist und einem Einfluß von draußen kaum eine Chance läßt. Der erste Roman ihrer Trilogie Die Mystifikationen der Sophie Silber (1976) erzählt von einer Schauspielerin, Amy oder die Metamorphose (1978) berichtet von der ersten Schwangerschaft einer jungen Frau. Ihren Abschluß findet die Trilogie mit Kai und die Liebe zu den Modellen (1979). Durch ihren Sohn Kai erfährt Amy ihre eigene Rolle als Frau und Mutter neu. B. Frischmuth bezog in diese Romane auch den Bereich des Mythischen mit ein, sie verband übergangslos die Wirklichkeit mit Traum und Phantasie.
Die Klavierspielerin (1983) von Elfriede Jelinek handelt von einer Künstlerin, die das Künstlertum von Kindheit an nur als eine Form der Tyrannei empfunden hat. Ihre Flucht vor dieser Tyrannei, ihre Flucht vor der Mutter hinein in das Leben, in sexuelle Perversionen, machen sie erneut abhängig. E. Jelinek beschreibt diese Folge von Abhängigkeiten. Sie urteilt nicht, sondern läßt die Erzählung für sich selbst sprechen.
Eine Nähe zu Handke und den Einfluß des österreichischen Sprachphilosophen L. Wittgenstein kann man in den Gedichten und Erzählungen von J. Schutting erkennen. Der erste Gedichtband In der Sprache der Inseln (1973) beinhaltet,,Dinggedichte“, in denen sich die Begriffe oft von dem lösen, was sie bezeichnen. So entsteht eine,,inselselige“ Sprache, eine,,Sprache der Inseln“. Salzburg retour. Trauermusik: Thema und Variationen (1978) und Der Vater (1980) haben den Tod zum Thema. Melancholie und Trauer bestimmen die Erzählung Salzburg retour; in Der Vater wird die Beziehung einer Tochter zu ihrem Vater nach dessen Tod hinterfragt.
Das gleiche Thema hat B. Schwaigers Roman Lange Abwesenheit (1978), in dem sie das langwierige Sterben ihres Vaters aus der Rückschau darstellt. Ihr Ich-Roman Wie kommt das Salz ins Meer (1977) zeigt den schleichenden Prozeß des Aktivwerdens einer jungen Frau.
Sie entwickelt sich vom „gedachten Nein“ bei ihrer Hochzeit hin zum „ausgesprochenen Nein“ bei der Scheidung von ihrem Mann. Nach anfänglichen Schwierigkeiten hat sich die junge Autorengeneration in Österreich durchgesetzt. Es gibt eine lebendige Literaturszene, von der gerade in den letzten Jahren eine Fülle von Anregungen und Innovationen für die gesamte deutschsprachige Literatur ausging. Viele der jungen Autoren stehen noch am Anfang ihrer literarischen Laufbahn. Eine weitere Beachtung der österreichischen Literatur verspricht interessante Entdeckungen.