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Wahrzeichen Berlins: Das Brandenburger Tor mit der Quadriga

Die Zeitschrift für Deutschlernende

 

07:HJ

Ausgabe Nr. 29

1-2000

Berlin - Hauptstadt im Umbau /

Im letzten Heft haben wir einen kurzen Überblick über die wechselvolle Geschichte Berlins gegeben. Heute machen wir einen Besuch auf der „größten Baustelle Europas“.

Beginnen wollen wir mit ein paar Zahlen. Innerhalb der Stadtgrenzen

von Berlin leben ca. 3,5 Millionen Menschen, im sogenannten unmittelbaren Ballungsraum1 Berlin sogar mehr als vier Millionen. Jedem Einwohner bleiben statistisch2 gesehen 32,9 Quadratmeter Wohnfläche. Auf den Straßen und Autobahnen der Großstadt rollen täglich mehr als eine Million Autos.

Das ist Berlin, die ehemals geteilte und nun wiedervereinigte Stadt, die alte und wieder neue Hauptstadt der Bundesrepublik Deutschland. Wen wundert es, daß diese Stadt zwei Kongreßzentren3 hat, zwei Trabrennbahnen4, zwei Funkund Fernsehtürme, zwei Sternwarten5, zwei Zoologische Gärten6, zwei Nationalgalerien7...

Größte Baustelle Europas

Und wen wundert es, daß diese Stadt zur Zeit die größte Baustelle Europas ist. Der Umzug der deutschen Regierung erzwingt den Umbau alter Stadtbereiche und den Neubau ganzer Stadt-

viertel. Auch das Straßennetz und das Verkehrsnetz von U- Bahn8, S-Bahn9 und Fernbahn10 werden umgebaut und erweitert. Unterirdisch entstehen neue Tunnelbauten, oberirdisch große Gebäudekomplexe11 für die Regierungsbehörden.

Für die vielen Menschen, die von Bonn am Rhein nach Berlin an Spree und Havel12 umge-

zogen sind oder noch umziehen werden, muß viel neuer Wohnraum geschaffen werden. Und auch Geschäfte, Restaurants und vieles andere gehören dazu. Niemand weiß so recht, wie viele Millionen Mark für die Veränderung und Erneuerung der Stadt ‚in den Sand‘13 gesetzt werden, und das sogar in wörtlichem Sinne. Denn der Bauuntergrund in Berlin ist überwiegend sandig, so daß große Anstrengungen notwendig sind, die Tunnelbauten und die Gebäude auf feste und tragfähige Fundamente zu stellen.

Schloß Bellevue 14

Zwei Baustellen der „Berliner Republik“ wollen wir im Folgenden besuchen. Mitten im Tiergarten, einem großen Parkgelände des gleichnamigen Stadtbezirks, liegt das 200 Jahre alte Barockschloß Bellevue. Schon viele Jahre vor der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten war dieses Schloß der Berliner Amtssitz des Bundespräsidenten der

1

Aus der Redaktion

Liebe Leserinnen und Leser,

nun ist es endlich da. Das von vielen Menschen auf der ganzen Welt mit Spannung erwartete dritte Jahrtausend hat angefangen. Ein neues Millennium! Eigentlich ist es ja noch ein Jahr, bevor das neue Jahrtausend nach dem Kalender beginnt, aber wer

will hier schon kleinlich sein. Wenn alle feiern, feiern wir mit!

Wenn es ums Feiern geht, dann ist manchen von Ihnen aber vielleicht zur Zeit gar nicht danach zumute. Nicht nur der berüchtigte „Millennium-Fehler“ bei der Computerumstellung auf das Jahr 2000 bringt manchen Ärger. Auch in unserem eigenen Leben und in unserem Land läuft vieles nicht so, wie wir es uns wünschen.

In diesen Situationen ist es ermutigend zu wissen, daß Gott uns nicht im Stich läßt. Im Alten Testament der Bibel läßt Gott uns sagen: „Ich will euer Glück und nicht euer Unglück. Ich habe im Sinn, euch eine Zukunft zu schenken, wie ihr sie erhofft“ (Jeremia, 29,11). Gesprochen hat Gott dieses Wort zu seinem Volk Israel, das wegen seines Ungehorsams 70 Jahre in babylonischer Gefangenschaft leben mußte. Es war eine schwere, aber keine hoffnungslose Zeit. Gott ist auch in den schweren Stunden da, und er möchte uns helfen!

Damit er uns helfen kann, müssen wir uns aber erst einmal auf den Weg machen, ihn zu suchen. Und da ist das Jahreswort für das Jahr 2000 eine große Ermutigung. Dort heißt es: „Ihr werdet kommen und zu mir beten, ihr werdet rufen, und ich werde euch erhören. Ihr werdet mich suchen und werdet mich finden. Denn wenn ihr mich von ganzem Herzen sucht, werde ich mich von euch finden lassen. Das sage ich, der HERR“ (Jeremia 29, 12-14a).

Gott läßt sich finden! Das ist die gute Nachricht dieser Verse. Keiner, der ihn ernsthaft sucht, wird am Ende mit leeren Händen dastehen. Das gibt Mut für das neue Jahrtausend. Aber es ist eine Einladung, der wir auch nachkommen müssen. Ich wünsche Ihnen, das Sie in diesem Jahr suchen und finden werden: den Gott, der Sie lieb hat und der in Jesus Christus Mensch wurde, um auch Sie frei zu machen.

Ihnen allen ein frohes neues Jahr und viel Freude beim Lesen des neuen „Weges“!

Ihr

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Bundesrepublik Deutschland. Seit den letzten Amtswochen von Richard von Weizsäcker im Jahre 1994 ist das Schloß der erste Amtssitz des deutschen Staatsoberhauptes. Hier residierte danach bereits Roman Herzog, während die Beamten seines Präsidialamtes noch in Bonn arbeiteten.

Damit die ca. 150 Mitarbeiter des jetzigen Bundespräsidenten Johannes Rau in der Nähe ihres Chefs arbeiten können, mußte ein neues Gebäude errichtet werden. Es entstand auf einer Lichtung15 mitten im Park. Dadurch brauchten zum Glück nur 83 Bäume gefällt werden. Im Gegenzug wurden dafür dann 670 Neupflanzungen vorgenommen, die allein 3,5 Millionen Mark gekostet haben – eine verhältnismäßig kleine Summe gegenüber den Gesamtkosten des Gebäudes von mehr als 100 Millionen Mark. Der viergeschossige Neubau ist so angelegt und gestaltet, daß jedes der 130 Büros einen Blick auf den Park hat. Natürlich enthält das Gebäude auch Sitzungsräume, eine Bibliothek, umfangreiche Versorgungsund Sanitäranlagen16, die zu den beiden Innenhöfen des Gebäudes hin ausgerichtet sind, das von den Berlinern wegen seiner Form auch „PräsidentenEi“ genannt wird. Das Dach dient – ganz im Sinne des Umweltschutzes – der Energieversorgung des Hauses: Eine 900 Quadratmeter große Solaranlage produziert 15% der benötigten Energie; das entspricht dem Jahresenergiebedarf von zehn Einfamilienhäusern. Übrigens hatten die Baufirmen während der Bauzeit mit gefährlichen Überbleibseln17 aus dem Zweiten Weltkrieg zu tun: Mehr als 20 Tonnen hochexplosiver Munitionsreste wurden gefunden und mußten entschärft18 und weggeräumt werden. Bundespräsident Herzog mußte deshalb zweimal seinen Amtssitz fluchtartig verlassen. Zum Glück ist aber bei der Beseitigung der Erblasten19 des letzten Krieges nie etwas passiert. Auch das Schloß Bellevue selbst ist durch Umbauten inzwischen auf den neuesten Stand der Technik gebracht worden. Neue Anlagen zur Sicherheit des Bundespräsidenten waren erforderlich, z.B. eine Mauer entlang des Uferweges an der Spree. Der deutsche Steuerzahler mußte dafür ca. 80 Millionen Mark aufbringen.

Das Bundeskanzleramt

Während eines Berlinaufenthaltes im Jahre 1992 beschloß der damalige Bundeskanzler Helmut

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Kohl, gegenüber dem Reichstag, dem Sitz des Deutschen Bundestages, das Berliner Domizil20 des Regierungschefs zu bauen. 836 Architekten aus dem Inund Ausland beteiligten sich an dem Wettbewerb, der die beste Lösung des Bauproblems erbringen sollte. Der deutsche Architekt Axel Schultes erstellte einen Entwurf, der Helmut Kohl sehr gut gefiel. Im Februar 1997 begann dann der Neubau des Kanzleram-

tes mit dem symbolischen Spatenstich21, den der Bundeskanzler persönlich ausführte. Mehr als 400 Millionen Mark wird das Gebäude gekostet haben, wenn es im Jahre 2000 bezugsfertig ist. In seinem Mittelteil wird es 36 Meter hoch sein; die Seitenteile werden aus fünfstöckigen Verwaltungstrakten22 bestehen. Es wird 310 Büros haben, in denen ca. 400 Mitarbeiter des Kanzlers arbeiten. Ihre Autos können sie in einer großen Tiefgarage abstellen. Durch die Gestaltung von zwei Wintergärten23 und durch die Verwendung von viel Glas wirkt das mächtige Haus freundlich und durchlässig.

Helmut Kohl wird es sicher sehr bedauern, daß er das Haus nicht mehr beziehen kann, da er bekanntlich die Bundestagswahl 1998 verloren hat. Ob das neue Kanzleramt seinem Nachfolger Gerhard Schröder gefällt und wie lange er darin arbeiten und regieren kann, muß sich erst noch erweisen.

Lothar von Seltmann

Teil 3 unseres Berlinartikels folgt im nächsten Heft

1 der Ballungsraum: eine größere Region, die sehr dicht besiedelt ist und in der viele Städte und Ortschaften ineinander überzugehen scheinen 2statistisch: bezogen auf Tabellen mit Zahlen, die zeigen, wie häufig bestimmte Dinge irgendwo vorkommen 3 das Kongreßzentrum: ein Gebäude, in dem große Konferenzen und Tagungen veranstaltet

werden 4 die Trabrennbahn: hier werden Rennen durchgeführt, bei denen Pferde im Renntrab laufen und dabei einen Sulky ziehen, ein zweirädriges Gefährt, auf dem der Fahrer sitzt 5 die Sternwarte: Gebäude, von dem aus mit großen Fernrohren und anderem technischen Gerät die Gestirne beobachtet werden 6 der Zoo: gartenähnliche Anlage, in der Tiere aus allen Gebieten der Erde gehalten und gezeigt werden 7 die Galerie: Ausstellungsraum, Ausstellungsgebäude 8 die U-Bahn: die Untergrund-Bahn fährt in Tunnelanlagen unter der Erde 9 die S-Bahn: die StadtBahn verbindet oberirdisch die Stadtbezirke miteinander 10 die Fernbahn verbindet Berlin mit den anderen Regio-

nen des Landes 11der Gebäudekomplex: eine Gruppe von

Häusern, die miteinander verbunden sind

12 Spree und

Havel: Flüsse, die durch Berlin fließen

13 in den Sand

setzen: Ausdruck dafür, daß jmd. viel Geld ausgibt für eine Sache, die sich als falsch und unnütz herausstellt 14[bel:wü:] [frz.: schöne Aussicht] 15 die Lichtung: freier Platz in einem Waldstück 16die Sanitäranlage: Anlagen wie z.B. Bäder und Toiletten, die der Hygiene dienen 17das Überbleibsel: Rest 18entschärfen: die Zündeinrichtungen von Munition entfernen, damit sie nicht mehr explodieren kann 19die Erblast: eine geerbte Last; aus einer vorangegangenen Zeit stammender, belastender Tatbestand; von einem Vorgänger unbewältigt weitergegebenes Problem, das sich als starke Belastung erweist 20 das Domizil: Wohnsitz, Unterkunft 21 der symbolische(r) Spatenstich: hierbei wird die erste Schaufel Erde für die Baugrube ausgehoben 22der Trakt: ein relativ großer Teil eines großen Gebäudes 23 der Wintergarten: heller, lichtvoller Raum, in dem das ganze Jahr über Grünund Zierpflanzen gedeihen und der durch seine weitere Einrichtung der Erholung dienen kann

3

Jugend in Deutschland: Als Hebamme im fremden Land

Unser Mitarbeiter Lothar von Seltmann kommt weit im Lande herum. Dabei hat er immer wieder interessante Begegnungen mit alten und jungen Menschen, Christen wie Nichtchristen. Im Herbst 1999 traf er in einem Erholungsheim im Bundesland Baden-Württem- berg eine junge Frau, die seine Aufmerksamkeit erregte. Sie war für einige Zeit von ihrer Arbeit in einem Land der arabischen Welt im Urlaub und suchte nach der Weinlese1 auf dem elterlichen Hof für ein paar Tage Erholung in diesem Haus. Sie war gerne bereit, einige Fragen für den „Weg“ zu beantworten. Dabei ging es um ihren Lebenslauf, um ihren Beruf als Hebamme2, um ihr Leben und ihre Arbeit im Ausland und um ihre Erwartung an die Zukunft.

Im Folgenden geben wir ihre Antwort auf die Fragen im Zusammenhang wieder. Bitte haben Sie Verständnis dafür, daß wir aus Sicherheitsgründen den Namen der jungen Frau und das Land, in dem sie arbeitet, nicht nennen können.

Aufgewachsen bin ich in einer achtköpfigen Bauernfamilie. Wir

hatten oft Gäste aus Partnerstädten und -ge- meinden im Haus. Meiner Mutter war es sehr wichtig, daß wir einmal eine Zeit lang „fremdes Brot essen“, also im Ausland sein sollten. Meine Eltern waren Christen, und auch in unserem Dorf gingen noch viele andere Menschen in die Kirche. So machte ich die ‚normale‘ Karriere3 vom Kinderkirchkind4 bis zur Mitarbeiterin in der Gemeinde durch. Während dieser Zeit gab ich Jesus Christus die Herrschaft in meinem Leben. Als ich 19 Jahre alt war, verlor ich meinen Vater. Damals stand ich kurz vor dem Abitur.

Ausbildung zur Hebamme

Bis 1972 gab es in unserem Dorf eine Hebamme. Sie wurde von allen ‚Tante Rose‘ genannt. Mein Ziel war es, so zu werden wie sie. Sie hatte wunderschöne Augen, konnte sehr gut erzählen und war immer ‚lieb‘. Daran erinnerte mich meine Mutter, als es für mich an die Berufswahl ging.

Außer mir wollten damals in Deutschland sehr viele Frauen Hebamme werden. Meine Chancen, irgendwo einen Ausbildungsplatz zu bekommen, waren entsprechend gering. Deshalb bewarb ich mich gleichzeitig auch in England um einen Ausbildungsplatz. In der Wartezeit erhielt ich eine Karte mit einem Spruch von Dietrich Bonhoeffer6: „Gott erfüllt nicht alle unsere Wünsche, aber alle seine Verheißungen.“ Ich bekam schließlich einen Platz an einer der besten Hebammenschulen Deutschlands; aber der Gedanke an England war geboren und blieb lebendig.

Wohin würde ich gehen?

Später arbeitete ich tatsächlich eine Zeitlang in England. In der Nähe des Krankenhauses, in dem ich arbeitete, wohnte eine Frau, die in England war, um Englisch zu lernen. Sie wollte in die Mission gehen, um anderen Menschen von Jesus weiterzusagen. Gerne hätte sie mich nach Afrika mitgenommen. Dort wollte ich aber nicht hin. Die Frage ließ mich dennoch nicht los: Wenn Gott wollte, daß ich einmal aus meiner Heimat weggehen sollte – ich liebe meine Heimat heiß und innig – wohin würde ich gehen?

Ich interessierte mich für die arabische Welt, denn viele muslimische7 Frauen wurden von unseren deutschen Ärzten äußerst respektlos behandelt, und ich wollte es anders machen. Aber auch eines der kommunistischen Länder im ehemaligen Ostblock konnte ich mir gut vorstellen. Ich hatte seit meinem zwölften Lebensjahr Kontakte in die damalige DDR, und als die Sache für mich aktuell wurde, fiel die Mauer. Schließlich brachte mich Gott dann in den sogenannten Nahen Osten, wo ich eine Arbeit fand.

In einem neuen Land

In der Region ‚meines‘ Landes sind die meisten Menschen wenig gebildet und deshalb vom dort herrschenden Islam noch nicht gegen die Christen und ihre Bibel indoktriniert8. Außerdem war unser Arzt, als er dort hinkam, der einzige Arzt in der ganzen Region und deshalb entsprechend bekannt und geschätzt. Von daher kann ich als Christin in der muslimischen Umgebung dieses Landes ganz normal leben. Die Menschen dort sind sehr neugierig und fragen, ob wir deutschen Leute Muslime sind.

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Wenn wir diese Frage verneinen, wollen sie wissen, was z. B. bei unserem Gebet, bei unserem Fasten9 oder in unserem Paradies10 anders ist als bei ihnen. Ihre Fragen kann ich ihnen dann von der Bibel her beantworten. Meine weiße Haut und der Ruf und das Ansehen meiner Vorgänger und Kollegen verschaffen auch mir hohen Respekt11 und offene Türen.

So sicher, wie Gott mich in den Nahen Osten geführt hat, so sicher wird er mich auch wieder an einen neuen Einsatzort bringen, wenn er das für gut und nötig hält.

1 die Weinlese: das Ernten der Weintrauben von den Rebstöcken 2 die Hebamme: professionelle = ausgebildete Helferin bei der Geburt eines Kindes 3 die Karriere: (be-

ruflicher, persönlicher) Werdegang im Leben, der in der Regel nach oben führt 4 das Kinderkirchkind: ein Kind das die Kinderkirche = den Kindergottesdienst besucht (reg.) 5 das Abitur: Schulabschluß (auf dem Gymnasium), der zum Studium an einer Universität berechtigt 6 Dietrich Bonhoeffer: ein deutscher Theologe (1906 – 1945), in Breslau geboren und aufgrund seines Widerstandes gegen das Hitler-Regime im Konzentrationslager Flossenbürg umgebracht 7 muslimisch: zum Islam gehörig 8 indoktrinieren: jmd. intensiv in seinem Denken beeinflussen, so daß er in bestimmten Dingen keine eigene Meinung mehr hat; jmd. in eine bestimmte (politische, religiöse, ...) Richtung drängen 9 das Fasten: eine Zeit, in der man nichts ißt oder auf bestimmte Speisen verzichtet 10 das Paradies: Ort, wo es sehr schön ist und wohin gläubige Menschen nach ihrem Tode kommen 11 der Respekt (nur im Singular): Achtung, Anerkennung, Ehrerbietung, gute Meinung

Wir erinnern uns ...

Februar - April 2000

Deutsche Feierund Festtage:

6.März: Rosenmontag (Höhepunkt des Straßenkarnevals); 7. März: Fastnacht; 8. März Aschermittwoch (Beginn der sechswöchigen Fastenzeit vor Ostern)

21. April: Karfreitag: (Erinnerung an den Tod Jesu am Kreuz für die Schuld der Menschen)

23./24. April: Osterfest (Erinnerung an die Auferstehung Jesu von den Toten)

Gedenktage:

Vor 50 Jahren (1950): 12.3.: Todestag des gesellschaftskritischen Schriftstellers Heinrich Mann in Kalifornien/USA. Bruder von Thomas Mann. Seit 1931 war er Vorsitzender der Sektion für Dichtkunst der Preußischen Akademie der Künste. 1933 emigrierte1 er nach Frankreich und 1940 in die USA. Er war Erzähler, Dramatiker und Essayist. Ausgehend vom Naturalismus fand er später zur „Neuen Sachlichkeit“. Zunächst vertrat er liberale, demokratische Ideen, später einen „humanistischen Sozialismus“. Seine fast durchweg politisch und sozial engagierten Novellen und Romane karikieren2 besonders das nationalistischverengte Bürgertum der Wilhelminischen Ära und der Weimarer Republik. („Im Schlaraffenland“, 1900; „Professor Unrat“, 1905; „Der Untertan“, 1918; „Der Kopf“, 1925). Aus der Auseinandersetzung mit der Diktatur und der Exilsituation entstanden neben Essays und politischen Schriften („Der Haß“, 1933) der als Gleichnis für die Gegenwart zu verstehende Geschichtsroman „Henri Quatre“ (1935/38), ferner „Lidice“ (1943), „Der Atem“ (1949) und „Empfang bei der Welt“ (hg. 1956).

2.3.: Todestag des Komponisten Kurt Weill in New York/USA. Der in Dessau geborene Künstler emigrierte 1933 in die USA. Er schrieb seine erfolgreichsten Bühnenstücke auf Texte von Bertolt Brecht, z. B. „Die Dreigroschenoper“ (1928), in der er erstmals seinen vom Jazz beeinflußten Songstil brachte.

Vor 75 Jahren (1925): 28.2.: Todestag von Friedrich Ebert in Berlin, der eng mit der Sozialdemokratie verbunden war. Am 9. 11. 1918 wurde er deutscher Reichskanzler und später zum Reichspräsidenten gewählt. Ebert erwarb sich durch seine vermittelnde, neutrale Haltung große Verdienste um den Bestand des Deutschen Reiches nach dem I. Weltkrieg und um die Sicherung der Weimarer Demokratie gegen Links- (Spartakisten3- und Kommunistenaufstände) und Rechtsextremisten (Kapp4- und Hitler-Putsch).

Vor 100 Jahren (1900): 6.3.: Todestag von Gottlieb Daimler in Bad Cannstadt. Er verbesserte mit anderen den Gasmotor zum Benzinmotor und konstruierte 1885 das erste Motorrad und vierrädrige Auto.

Vor 200 Jahren (1800): In Deutschland leben jetzt rund 22 Millionen Menschen.

Vor 450 Jahren (1550): Adam Riese, Rechenmeister und Wegbereiter der modernen Algebra, verfaßt ein Lehrbuch des praktischen Rechnens.

Vor 550 Jahren (1350): In Europa wütet die Pest (schwarzer Tod). Rund ein Drittel der Bevölkerung Mitteleuropas sterben daran.

1emigrieren: auswandern 2karikieren: durch Witz und Übertreibung lächerlich machen 3die Spartakisten: radikale sozialistische Gruppe, entstanden unter Führung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht 4der Kapp-Putsch: nach Wolfgang Kapp, einem extremen Nationalisten, der versuchte, im März 1920 die Reichsregierung zu stürzen

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Einmal um die Welt reisen … /

Eine verrückte Idee

Ich war 17 Jahre alt und eigentlich auf dem besten Weg, das Abitur zu machen und zu studieren, als mir ein Buch von einem Globetrotter1 in die Hände fiel. Darin berichtete er von seinen Erlebnissen auf einer Weltreise – nur mit Rucksack und per Anhalter2. Klasse!3 Diese verrückte Idee begeisterte mich.

Als ich in den folgenden Jahren in Europa unterwegs war, lernte ich viele Menschen aus den verschiedensten Ländern kennen, die

schon seit Jahren „on the road“4 lebten. Da stand für mich fest: Genau das will ich auch!

Gesagt, getan! Ich brach die Schule ab, zog von zu Hause aus und begann in Neustadt/Holstein (das ist in der Nähe von Lübeck) eine Lehre als Koch. Ich dachte mir, mit diesem Job5 komme ich viel in der Welt herum und kann mir meine Reise gut finanzieren.

Auf der Suche nach Orientierung

In der Zeit der Lehre brachen wichtige Fragen in mir auf: Wozu lebe ich eigentlich? Reicht es, für mich allein glücklich zu werden, oder gibt es auch einen tieferen Sinn meines Daseins? Was ist mein Beitrag für die Welt, in der ich lebe? Ich komme zwar nicht aus einem religiösen Elternhaus, doch stellte sich auch mir die Frage nach Gott: Gibt es ihn? Wenn ja, wer ist das und was hat er mit mir zu tun?

Ich begann, mich mit verschiedenen Dingen zu beschäftigen. Ich kam mit Leuten zusammen, die politisch aktiv waren, und arbeitete selbst in einer Menschenrechtsgruppe6 mit. Ich schaute mir an, wie die zusammengebastelte Religion unserer modernen Zeit (Esoterik7 / New Age8) aussah. Auch mit Drogen hatte ich ein wenig zu tun.

Im Nachhinein verstehe ich diese Zeit so, daß ich anfing, auf eigenen Füßen zu stehen9 und meinem Leben ein eigenes Profil10 zu geben. Dahinter stand die Angst, oberflächlich und spießbürgerlich11 zu werden. Ich wollte mein Leben einfach nicht dem

Materialismus12 unserer Konsumgesellschaft13 opfern! Sätze wie „Du bist, was du hast“ und „Je mehr du hast, desto wertvoller bist du.“, die unausgesprochen mit uns gehen, lehnte ich ab. Noch heute bin ich froh, daß ich damals diesen kritischen Blick hatte und diese Sehnsucht nach „mehr“ verspürte.

Kontakt zu jungen Christen

In dieser Zeit lernte ich auch junge Christen kennen. Zum einen fand ich sie furchtbar altmodisch14 in ihren moralischen15 Ansichten. Zum anderen fand ich es aber spannend, sie kennenzulernen. Es beeindruckte mich zu sehen, wie sie die Bibel ernst nahmen als Gottes Wort. Ihr Glaube an Jesus Christus war kein Sonntagsglaube16 und auch kein Lippenbekenntnis17, sondern hatte viel mit ihrem Leben zu tun. Ich fand sie ungeheuer herausfordernd. Ich spürte, daß ich ihnen mit meinen Fragen und meiner Sehnsucht nicht egal war. Ja, noch mehr. Je mehr ich nachfragte, um sie zu verstehen, desto mehr wuchs die Wertschätzung zueinander. Es entstanden Freundschaften.

Hinzu kam, daß mich faszinierte, was ich in der Bibel von Gott und dem menschlichen Zusammenleben las:

F daß wir Menschen nicht dem Zufall entspringen, sondern daß Gott unser Schöpfer ist,

F daß dieser Gott ein Gott des Friedens ist, der „Schwerter zu Pflugscharen“18 schmieden19 will,

F daß die ersten Christen ihr Hab und Gut20 miteinander teilten.

Dies alles war für mich eine echte Alternative zu der Weltanschauung21 und der Gesellschaft, in der ich lebte.

Was mich tief berührte, war die Vorstellung, daß der Gott der Bibel nicht irgendein Weltprinzip22 oder eine gute Idee ist. Nein, er ist viel mehr, nämlich ein „Du“. Er ist ein Gegenüber, eine Person, die jedem von uns begegnen will und die mit uns leben will.

Ich erinnere mich noch gut an eine Oster-Demon- stration für Frieden und Abrüstung23, bei der ich ein Gespräch mit Christus erlebte. Man kann dies natürlich psychologisch24 in Frage stellen und als Gedankenspiel abtun. Für mich aber war dies eine

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geheimnisvolle Erfahrung, durch die ich die Liebe Jesu erfuhr. Das war für mich so echt wie jede zwischenmenschliche Begegnung auch.

Die Lebenswende

Kurz darauf war es dann für mich soweit. Ich hatte bereits vieles über den christlichen Glauben und Jesus Christus in Erfahrung gebracht. Und ich wußte: Genug jetzt. Ich muß die Sache festmachen. Nun liegt es an mir, ob ich mein Leben mit Christus gestalten will oder nicht. Es liegt in meiner Hand, auf mich allein angewiesen zu bleiben oder an der Seite Gottes zu leben, der mir seine Hilfe verspricht. Es ist wie mit einer Freundschaft oder einer Partnerschaft: Es kommt der Augenblick, in dem man sich einen Ruck25 geben muß und sich entscheiden muß.

Ich sagte mir: Ich will wissen, was dran ist! Und so entschloß ich mich, ab jetzt mein Leben mit Jesus zu leben. Ich vertraute ihm mein Leben im Gebet an, wobei mir zwei Christen halfen.

Der christliche Glaube ist für mich auch keine Ideologie26 mehr über Gott und Moral. Vielmehr erlebe ich den Glauben als eine tiefe Beziehung zu Gott. Durch Christus reicht Gott mir die Hand und gibt mir ein neues Zuhause. Durch ihn, Christus, will Gott mich von allem befreien, was mich hindert, wirklich zu leben: von meiner Schuld, meinen Ängsten, meinem Egoismus und meiner Hilflosigkeit. Glaube an Gott ist für mich Befreiung zum Leben!

Jesus ist gekommen, um sich auf unsere Seite zu stellen, da, wo wir verletzt und enttäuscht sind. Er steht zu uns, wo wir vor lauter Verzweiflung und Wut die Hoffnung aufgeben. Er ruft uns zu: „Kommt her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen sei. Ich will euch eure Last abnehmen“ (Matthäus 11, 28). An anderer Stelle in der Bibel lesen wir, wie Jesus sagt:

„Ich bin gekommen, den Gefangenen und Zerschlagenen zu verkünden, daß sie frei sein sollen“ (Lukas 4, 18). Jesus gibt uns Hoffnung! Bei ihm hat unser Unglück nicht das letzte Wort. Im Gegenteil. Jesus will uns die Kraft geben, an den Herausforderungen unseres Lebens nicht zu zerbrechen, sondern an ihnen zu reifen. Er lädt uns ein, bei ihm ein „Ja“ zu unserem Leben zu finden und damit auch die Kraft, es zu gestalten. So bleiben wir frei, und so wird der Glaube zu einer Kraft, der die Welt verändert.

Wie es weitergeht

Jesus hat einmal einen interessanten Vergleich benutzt: „Wenn Gott seine Herrschaft aufrichtet, geht es ähnlich zu wie bei einem Senfkorn, das jemand auf seinen Acker gesät hat: Es gibt keinen kleineren Samen; aber was daraus wächst, wird größer als alle anderen Gartenpflanzen. Es wird ein richtiger Baum, so daß die Vögel kommen und in seinen Zweigen ihre Nester bauen“ (Matthäus 13, 31 und 32). Ich sagte mir: Wenn der Glaube so stark ist, will ich es wagen! Und so wurde aus der verrückten Idee, um die Welt zu reisen, ein Auftrag Gottes. Ich sah mich von ihm zur Mission berufen, d.h. zur Aufgabe, anderen Menschen weiterzusagen, was mir Jesus Christus bedeutet und was uns die Bibel sagt!

Ich begann, Theologie zu studieren. Es war mir wichtig, die Bibel noch besser kennenzulernen und mich so auf einen Dienst als Pastor und Missionar vorzubereiten. Ab Januar 2000 werde ich zusammen mit meiner Familie in Brasilien Menschen von Jesus weitersagen.

Gerald Kunde

1der Globetrotter: jmd., der Reisen durch die ganze Welt macht; Weltenbummler 2der Anhalter: jmd., der am Straßenrand steht und (durch Handzeichen) die Autofahrer bittet, ihn kostenlos mitzuneh-

men 3Klasse!: Toll, Spitze!

4[on se ro(u):t] (engl.) auf der Straße

5der Job [tschop]: (engl.) Beruf

6die Menschenrechte: die grund-

sätzlichen Rechte des Individuums (z.B. auf freie Meinungsäußerung), wie sie in vielen Staaten in den Verfassungen enthalten sind 7die Esoterik: (religiöse) Dinge/Lehren, die nur einem bestimmten, exklusiven Kreis von Personen verständlich sind 8New Age: [nju: eitsch]: eine neue religiöse Philosophie, die auf den Anbruch eines neuen Zeitalters hofft 9auf eigenen Füßen stehen: selbständig sein; ohne Hilfe anderer zurechtkommen 10das Profil: die (positiven) Eigenschaften, die typisch für eine Person oder Sache sind und diese von anderen unterscheiden 11spießbürgerlich: jmd., der ein ruhiges und sicheres Leben führen möchte, keine (politischen) Veränderungen will und immer das tut, was die Gesellschaft für richtig hält 12der Materialismus: eine Einstellung zum Leben, die sich an materiellen Werten orientiert 13die Konsumgesellschaft: eine Gesellschaft, deren Art zu leben maßgeblich dadurch bestimmt ist, daß sehr viel gekauft und verbraucht wird 14altmodisch: konservativ, nicht modern 15moralisch: die sittlichen Werte betreffend 16der Sonntagsglaube: ein Glaube, der nur sonntags in der Kirche da ist und sich nicht im Alltag auswirkt 17das Lippenbekenntnis: etwas, das man nur sagt, aber nicht selber glaubt oder tut 18„Schwerter zu Pflugscharen“: ein Begriff aus dem alten Testament der Bibel, der ausdrückt, das Menschen Kriegswerkzeug zu brauchbaren Werkzeugen umarbeiten werden 19schmieden: Metall erhitzen und bearbeiten, formen 20das Hab und Gut: das, was man besitzt 21die Weltanschauung. eine bestimmte Ansicht über den Sinn des Lebens und die Stellung des Menschen in der Welt 22das Prinzip: die Idee, die Gesetzmäßigkeit, auf der etwas aufgebaut ist 23die Abrüstung: die Verringerung der aufbewahrten Waffen 24psychologisch: im Bezug auf das seelische Verhalten 25der Ruck: eine plötzliche kräftige kurze Bewegung 26die Ideologie: (politische) Theorie oder Ansicht (einer bestimmten Gruppe)

7

8

Moderne deutsche Geschichte

Deutschland von 1960-1970: Wohlstand und Protest

Am Anfang der 60er Jahre war die Bundesrepublik

ben und zu denken. Wer das nicht tat, wie z.B. vie-

Deutschland politisch und wirtschaftlich ein stabi-

le Christen, mußte Nachteile in der Schule oder auf

ler Staat. Aus den Trümmern der Niederlage von

dem Arbeitsplatz hinnehmen oder kam sogar ins

1945 war ein neues demokratisches Deutschland

Gefängnis.

entstanden. Bundeskanzler Konrad Adenauer hat-

In der DDR wurde die gesamte Wirtschaft vom Staat

te es durch die Mitgliedschaft in der NATO fest in

gelenkt. Deshalb wurde hier nicht so viel produ-

die Gemeinschaft des Westens eingefügt. Er hatte

ziert wie in Westdeutschland, was einen erheblich

alle Versuche Stalins zurückgewiesen, Westdeutsch-

niedrigeren Lebensstandard zur Folge hatte. Des-

land zum Kommunismus herüberzulocken.

halb flüchteten jedes Jahr viele Tausende durch den

 

Die SPD („Sozialdemokratische Partei Deutsch-

Eisernen Vorhang3 in den „goldenen Westen“. So

lands“) wäre allerdings gern auf Angebote des

verlor die Wirtschaft der DDR viele wertvolle Ar-

Ostens zu Gesprächen eingegangen. Aber sie war

beitskräfte.

in der Opposition. Die Bundesrepublik wurde von

Der Mauerbau

der bürgerlichen CDU („Christlich-demokratische

 

Union“) unter Adenauer zusammen mit der kleine-

Adenauer und die CDU hofften, eines Tages den

ren liberalen FDP („Freie demokratische Partei“) in

Kommunismus in der DDR beseitigen und die DDR

einer sogenannten „Kleinen Koalition“1 regiert. Die

mit der Bundesrepublik vereinigen zu können. Die

SPD war die zweite große Partei neben der CDU.

USA unter ihrem neuen Präsidenten John F. Kenne-

Infolge des „Wirtschaftswunders“ in den 50er Jah-

dy war jedoch nicht bereit, hierfür das Risiko eines

Atomkrieges einzugehen. Die neue amerikanische

ren herrschte Anfang der 60er Jahre Vollbeschäfti-

Politik erkannte die „Koexistenz“4 an, das heißt das

gung2. Der Wohlstand wuchs. Die „Soziale Markt-

wirtschaft“ hatte sich bewährt (sie bedeutet: freier

Nebeneinander-Bestehen der beiden großen Macht-

blöcke des Westens und des Ostens.

Markt, freier Handel, aber mit sozialer Verantwor-

 

tung, mit Fürsorge auch für die Ärmeren).

Deshalb nahm die USA es hin, daß die DDR im Au-

Kommunismus in Ostdeutschland

gust 1961 an der Grenze zur Bundesrepublik und

um Westberlin herum eine hohe Mauer errichtete,

 

In Ostdeutschland, der DDR („Deutsche Demokra-

damit niemand mehr aus der DDR fliehen konnte.

tische Republik“), herrschte die SED („Sozialistische

Wer trotzdem versuchte, heimlich über die Mauer

 

zu klettern, wurde von der Grenzpolizei erschos-

 

sen. Der DDR blieben so viele gute Arbeitskräfte

 

erhalten, und langsam zog auch dort ein beschei-

 

dener Wohlstand ein.

 

Große Koalition

 

1963 trat Adenauer als Bundeskanzler zurück. Sein

 

Nachfolger wurde der bisherige Wirtschaftsmini-

 

ster Erhard, der sogenannte „Vater des deutschen

 

Wirtschaftswunders“.

 

Mitte der 60er Jahre kam es zum ersten Mal zu ei-

 

nem wirtschaftlichem Abschwung, einer Rezessi-

Sprung in die Freiheit: Volksarmist springt über den

on5. Als Folge davon stiegen Arbeitslosigkeit und

die Preise; die Steuereinnahmen für den Staat gin-

Stacheldrahtzaun in der Bernauer Straße in Berlin

gen dagegen zurück. Die FDP wollte die Rezession

Einheitspartei Deutschlands“). Die Menschen wur-

anders bekämpfen als die CDU. Darüber zerbrach

den gezwungen, im Sinn des Kommunismus zu le-

1966 die Koalition.

Kurt Georg Kiesinger

Unter dem neuen Bundeskanzler Kiesinger bildeten CDU und SPD deshalb eine „Große Koalition“. Nur gemeinsam konnten die beiden großen Parteien die wirtschaftliche Rezession und einige andere wichtige Aufgaben bewältigen.

Man wollte jedoch nur einige Jahre zusammenbleiben. Denn wenn eine Regierung im Parlament keine starke Opposition hat, kann sie leicht ihre Macht mißbrauchen.

Schon nach zwei Jahren konnte die Große Koalition einen neuen wirtschaftlichen Aufschwung herbeiführen. Der Staat stellte mehrere Milliarden Mark für staatliche Aufträge, z.B. Bauten, zur Verfügung. Dadurch wurde die gesamte Wirtschaft neu in Gang gebracht.

Die Notstandsgesetze

Eine andere gemeinsam von der Großen Koalition zu lösende Aufgabe waren die Gesetze für den staatlichen Notstand, die „Notstandsgesetze“.

Die Bundesrepublik war zwar ein selbständiger Staat geworden. Aber die drei westlichen Siegermächte hatten bisher immer noch einige Rechte für sich behalten. Sie wollten in Krisensituationen das letzte Wort haben, wenn zum Beispiel große Unruhen in der Bundesrepublik ausbrechen würden oder diese von außen angegriffen würde. Die Westmäch-

te hatten diese Rechte auch zum Schutz ihrer eigenen noch in der Bundesrepublik stationierten Truppen vorbehalten.

Die Deutschen wollten jedoch jetzt über alle Macht in ihrem Staat selber verfügen. Und nun waren die drei Siegermächte auch bereit, auf ihre letzten Rechte zu verzichten. Dazu mußten aber die Notstandsgesetze geschaffen werden. Diese erlaubten zum Beispiel dem Staat, in Krisensituationen Telefongespräche mitzuhören, Briefe zu öffnen und Zivilisten zu bestimmten Aufgaben zu zwingen.

Die Männer, die Deutschland nach 1945 regierten, wollten der Regierung viel Macht geben. Denn die demokratische Weimarer Republik (1919 -33) war daran zugrunde gegangen, daß der Staat die tota-

litären Nationalsozialisten und Kommunisten mit zu wenig Macht und Nachdruck bekämpft hatte. So etwas sollte sich nicht wiederholen.

Ein neues Denken entsteht

Während der 60er Jahre vollzog sich eine Veränderung im Denken vieler junger Menschen in der Bundesrepublik. Die Generation nach dem Krieg war ganz damit beschäftigt gewesen, Deutschland wieder aufzubauen. Als Tugenden galten deshalb Fleiß, Pflichterfüllung, Gehorsam, Achtung vor den öffentlichen Institutionen wie Schule, Polizei und Armee, Staat und Kirche. Auch in der Hitlerzeit davor (193345) waren die Deutschen zum Gehorsam erzogen worden.

In den 60er Jahren war jedoch eine neue Generation herangewachsen. Sie hatte den Untergang der Demokratie 1933 in Deutschland durch Hitler nicht selber miterlebt. Sie wollte nichts davon wissen, daß nur ein starker Staat Unheil durch radikale Gruppen und Parteien verhindern kann. Sie war im Wohlstand aufgewachsen und gewohnt, ihre Wünsche erfüllt zu bekommen.

Diese jungen Leute wollten sich deshalb den vielen älteren Menschen im Staat nicht mehr unterordnen. Sie hatten keine Achtung mehr vor den öffentlichen Autoritäten wie Schule, Polizei, Armee und Kirche. Sie wollten selber mitreden und mitbestimmen. Sie wollten soviel Freiheit wie möglich für sich haben. Sie verlangten überall im Staat nach Reformen.

Proteste

Schon seit Anfang der 60er Jahre war eine kritische Haltung in der deutschen Öffentlichkeit entstanden. Infolgedessen hatte man endlich begonnen, die Naziverbrecher, soweit man sie verhaften konnte, gerecht zu bestrafen.

Auch die von der Regierung geplanten Notstandsgesetze wurden in der Öffentlichkeit heftig bekämpft. Man meinte, damit würde der Staat zuviel Macht bekommen. Die Gesetze wurden dann trotzdem 1968 von der Großen Koalition beschlossen. Denn sie waren keine Gefahr für die Freiheit des einzelnen. Dafür hatte die SPD gesorgt. Und der Staat braucht für den Fall eines Bürgerkriegs oder Kriegs diese Gesetze.

Auch gegen den Vietnamkrieg der Amerikaner wurden in der Öffentlichkeit von der Jugend große Demonstrationen durchgeführt.

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Die außerparlamentarische Opposition

Zuviel Freiheit führt zum Egoismus

Ihren Höhepunkt erreichte die Protestbewegung der Jugend in den Jahren 1968/69. Es bildete sich die sogenannte „Außerparlamentarische Opposition“, die APO; außerparlamentarisch deshalb, weil auf der Straße, außerhalb des Parlaments, des Bundestags.

APO-Anhänger demonstrieren in Berlin

Die Anführer der Protestbewegung waren die Studenten. Sie forderten mehr Mitbestimmung an den Universitäten. Sie zwangen die Professoren in den Vorlesungen, über ihre Forderungen zu diskutieren. Sie störten oder verhinderten Vorlesungen durch die Besetzung von Räumen. Manchmal zerstörten sie auch Büroräume an Universitäten oder in Redaktionen von konservativen Zeitungen.

Durch das alles wollten sie ihren Protest gegen die Reichen und Besitzenden, gegen das „Establishment“6, zum Ausdruck bringen. Häufig vertraten sie auch marxistische Ansichten. Sie forderten Enteignung der Reichen und Mächtigen. Allen Menschen sollte es gutgehen.

Bei Straßenschlachten zwischen Demonstranten und Polizei kamen damals in Deutschland mehrere Menschen ums Leben, viele wurden verletzt.

Schon 1969 löste sich die APO wieder auf. Sie konnte keine Revolution in Deutschland entfesseln. Aber sie hat das Denken vieler jüngerer Menschen damals geprägt. Diese haben später in ihren Berufen ihre Ansichten verbreitet und im Rahmen ihrer Möglichkeiten in die Tat umgesetzt und so ein neues Denken in Deutschland hervorgerufen. Das hat bis heute zu vielen Reformen geführt. Wir nennen solch eine Veränderung des Denken und Lebens eine „Kulturrevolution“.

Die 60er Jahre sind deshalb ein wichtiger Wendepunkt in Deutschland (und ähnlich auch in anderen westlichen Ländern). Seitdem stehen die Menschen in Deutschland dem Staat mehr oder weniger kritisch gegenüber. Sie sagen offen ihre Meinung. Sie kämpfen für ihre vermeintlichen Rechte durch Demonstrationen und manchmal auch Gewaltanwendung. Seitdem fordern die Menschen soviel Freiheit für sich wie möglich. Ihr persönliches Wohlergehen ist ihnen am wichtigsten. Ihr „Ich“ steht für sie im Mittelpunkt. Das jedoch führt zum Egoismus (ich in lateinisch ego, daher Egoismus).

So nimmt seitdem in Deutschland die Bereitschaft ab, Opfer für andere zu bringen, sich einzusetzen für die Gemeinschaft und den Staat mit seinen nützlichen, das Leben sichernden Ordnungen. Man strebt nach „Selbstverwirklichung“. Man will möglichst viel Gewinn für sich selber sichern.

Zwar kann man verstehen, daß die Jugend in den 60er Jahren mehr Möglichkeiten zum Mitarbeiten und Mitbestimmen haben wollte. Manches ist durch ihren Protest im öffentlichen Leben lebendiger, ehrlicher, besser geworden. Aber die Kulturrevolution der 60er Jahre hat den Charakter der Deutschen, aufs ganze gesehen, zum Schlechteren hin verändert.

Schuld an dem Aufstand der Jugend hatte auch die ältere Generation. Sie wollte ihre Macht nicht aus der Hand geben (Adenauer war bei seinem Rücktritt 1963 bereits 87 Jahre alt!). Sie lehnte Reformen ab.

Der Apostel Paulus schreibt: Wie die Glieder eines Körpers sollen in der christlichen Gemeinde Alte und Junge zusammenarbeiten. Denn beide können sich gut ergänzen: Die Älteren haben mehr Erfahrung und Lebensweisheit, die Jüngeren mehr Einsatzbereitschaft und Wagemut.

Hans Misdorf

1die Koalition: [ko’alizijon] ein Bündnis zwischen Parteien, die zusammen eine Regierung bilden 2die Vollbeschäftigung: jeder, der arbeiten möchte, hat auch eine Arbeit; es gibt keine Arbeitslosigkeit 3der Eiserne Vorhang: Begriff für die trennenden Grenzen zwischen Ostund Westeuropa während des „kalten Krieges“, während dessen nur wenig Möglichkeiten zum Kontakt bestanden 4[ko’eksistenz] 5die Rezession: eine Situation, in der es einem Land wirtschaftlich schlecht geht 6[ä’stäblisch’mänt]

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