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Grundlagen der Textanalyse / MW, Brandung (Beispiel der Analyse)

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Sprachpraxis Deutsch: Niveau B2 – GRUNDLAGEN DER TEXTANALYSE – Material 4 - Seite 1

Beispiel der Analyse eines literarischen Werkes

MARTIN WALSER, „Brandung“ (1985)

Martin Walser (weiter – MW), ein hervorragender und populärer moderner deutscher

Schriftsteller, wurde 1927 in Wasserburg geboren. Nach dem Abschluss der TheologischPhilosophischen Hochschule in Tübingen, wo er mit seiner Arbeit über Franz Kafka promovierte, wurde er zu einem Mitarbeiter des Süddeutschen Rundfunks und reiste viel als Journalist quer durch

Mitteleuropa und auch Deutschland. Diese Reisen gaben ihm viel Stoff für seine Werke. Schon seit seiner frühesten Prosaveröffentlichung (Ein Flugzeug über dem Haus, 1955) bildete sich sein Stil heraus, und nämlich – der sozialkritische Realismus mit dem dominierenden Thema der

Abhängigkeit in ihren psychischen und sozialen Ursachen und Auswirkungen.

MW schrieb Erzählungen, Romane, Essays, Theaterstücke und sogar Gedichte, aber in erster

Linie ist er als talentvoller Romanist bekannt. Interessant ist, dass er nie zu einer literarischen Gruppe gehört hat. In den 70er – 90er Jahren schuf er eine Reihe von Werken, die ihn zu einem vielgelesenen und populären Autor machten, darunter sind Ein fliehendes Pferd (1978), Seelenarbeit

(1979), Das Schwanenhaus (1980), Brandung (1985), Die Verteidigung der Kindheit (1991) zu nennen.

Für die vorliegende Analyse ist einer der populärsten Romane Martin Walsers Brandung gewählt worden.

Zunächst – ein paar Worte über den Inhalt. Helmut Halm aus Stuttgart, ein 50jähriger Lehrer, der Hauptheld, kommt mit seiner Frau Sabine und Tochter Lena in die USA, nach Kalifornien, auf Einladung der Washington University Oakland. Den Lehrauftrag hat Rainer Mersjohann, der alte

Freund und Studienkollege aus Tübingen, vermittelt. Halm spürt die Chance fortzukommen, weg von der Routine des Alltags an seiner Schule. Das neue Leben in dem gelobten kalifornischen Land stürzt über ihn wie eine Brandung des Ozeans herein.

Die Brandung ist hier im wahren Sinne des Wortes verwendet und ist zugleich eine Metapher.

San Francisco, die Stadt wo sich diese Universität befindet, liegt am Pazifik. Einmal geht Halm schwimmen und der Autor beschreibt seine Begeisterung von diesem majestätischen Ozean. Halm will in dieses schaumiges Wasser hinein, aber die Wellen der Brandung sind zu groß – der Autor schreibt, dass die die Wellenwände am Ufer sogar nicht zerbrachten, sondern explodierten, und das war natürlich sehr gefährlich. Aber in seiner Begeisterung sieht Halm diese Gefahr nicht, er stürzt sich blindlings in diese Wellen und schließlich verletzt sich stark.

Genauso begeistert betrachtet er das kalifornische Leben mit Gärten, Hügeln, Straßen, Autobahnen, Stadtvierteln der Metropole, Lichterschnüren, etc. All das überwältigt ihn wie diese Brandung; und im Kreise der fröhlichen amerikanischen Freunde, der lebensfrohen Studenten, in dieser Feier des Lebens verliebt er sich – kein Wunder! – in seine Studentin, Fran, die 30 Jahre jünger als er ist und die ihren Lehrer mit jugendlicher Bedenkenlosigkeit verfolgt. Fran ist nett, sorglos, die Schwierigkeiten des Lebens (die Halm schon satt hat) sind ihr fremd – sie ist für Helmut wie aus einer anderen sorgfreien Welt, in der er auch gerne leben wollte. Halm denkt an sie immer mehr, er kann sie sich schon aus dem Kopf nicht schlagen; bald will er sie unterordnen, bald will er von ihr unterordnet werden. Endlich verliert Halm den Kopf und geht zu Fran, nach ihr Haus, zu ihrer Party – und denkt schon nicht an die Unbesonnenheit dieser Tat, er stürzt sich in diesen

Wahnsinn wie in die Brandung.

Aber diese stürmische Brandung – wie auch eine echte Brandung – hat ihre negativen Folgen. Als Kontrast zu dieser Lebensfeier (auf der sich Halm immerhin wie ein Gast und nicht wie ein

Teilnehmer fühlt) vermehren sich die Probleme in Halms eigener Familie. Seine Frau muss zurück nach Deutschland fliegen wegen einer schweren Situation bei den Verwandten; seine Tochter Lena leidet an schwerer Depression und verlässt ihr Zimmer fast nie. Und das ist noch nicht alles; bald muss Halm eine echte Tragödie überleben. Am Ende des Romans sterben Fran und Halms bester Freund Mersjohann – und Halm versteht, dass er zum indirekten Werkzeug des Unglücks anderer wurde.

Sprachpraxis Deutsch: Niveau B2 – GRUNDLAGEN DER TEXTANALYSE – Material 4 - Seite 2

Das Sujet des Textes ist also im höchsten Grade nach der inneren Handlung orientiert – d.h., die Gedanken, Gefühle und Gefühlsbewegungen der Helden und vor allem Helmut Halms stehen im Vordergrund. Der Aufbau des Textes, seine stilistische Struktur spielen dabei eine wichtige Rolle.

Auf den ersten Blick scheint es, dass sich die Handlung des Romans ganz logisch entwickelt – das Werk hat eine Einleitung, darauf folgen die Spannung und der Höhepunkt. Aber am Ende versteht man plötzlich, dass der Text eine sozusagen „Rahmenstruktur“ hat: das Ende ist eine Reprise, die uns rückwärts zum Anfang sendet. Es stellt sich heraus, dass der ganze Roman eine

Erinnerung, eine Selbstanalyse des Haupthelden ist, und auf solche Art und Weise verwandelt sich die äußere Handlung in die innere und wird dem reinsten Bewusstseinsstrom nah – eine plotzliche und überraschende Tatsache, die sich nur am Ende erweist.

Solcher Effekt erklärt viele Besonderheiten des Romans, beispielsweise das für die meisten Erinnerungen typische zeitraffende Erzählen. Aber die im Laufe ganzen Werkes verwendende personale Erzählperspektive hat doch einige Nuancen. Zum Beispiel, die Art der Rede. Hier hat man mit einer Art Verschmelzung der erlebten und direkten Rede zu tun. Genauer zu sagen, ist hier die direkte Rede unmittelbar in die Struktur der Aussagesätze eingefügt – also, interpunktionell nicht unterstrichen. Das schafft den Eindruck eines spontanen Erzählens und einer spontanen Handlung – als ob sie vor den Augen des Lesers spielte.

Dank des personalen Erzählens ist es dem Autor gelungen, das Innere des Haupthelden in vollem Maße wiederzugeben. Das Geschehen wird dem Leser aus der Sicht Halms dargestellt, wir sehen alles mit seinen Augen und beobachten zugleich bestimmte Veränderungen, die in seiner Seele und

Vernunft vorgehen. Seine Gedanken verraten, wie dieser Mensch gewesen war und was er geworden ist. Zwei Episoden lassen sich gut vergleichen: der Beginn der Reise nach Amerika und die

Rückreise. Der Satzbau und die Wortwahl dieser 2 Zitate zeigen uns den seelischen Zustand Halms.

S. 27 „Als sie sich an den durchgesessenen Sitzen des Flugzeugs festschnallten, war Halm dem

Singen nahe. Er konnte sich nicht erinnern, je eine solche Mag-kommen-was-wolle-Stimmung gehabt zu haben. Er hatte sich zwischen Lena und Sabine gesetzt. Er boxte Lena in den

Oberarm, küsste sie auf die Stirn, zwickte sie, lachte sie an. Als die Maschine abhob, gewann er ihr durch sein Glück fast ein Lächeln ab. … Sie sollte zugeben, dass es herrlich sei, so hinaufund hinauszustarten. Sie sagte so knapp wie möglich: Mich hält hier nichts. Mich gar nichts, sagte er und küsste Lenas Schläfe. Aber war das nicht ein furchtbarer Satz? Mich hält hier nichts. Bei ihm war es Jubel. Bei ihr? Beide wollten fort aus dieser verwirkten deutschen

Gegend! Das genügt doch, dass beide fort wollen. Spürst du, wie wir steigen! Lena, das ist es doch, so zu steigen! Das hört überhaupt nicht mehr auf! … A hot dinner wil be served. Lena, hast du das gehört! Sabine, sagte er, hör zu, ich sage gerade zu Lena, dass es nicht mehr schöner werden kann, wir sind ganz oben, jetzt ganz oben. Wir fliegen nach San Francisco. … Lena, Sabine, wir sind entronnen! Schaut nicht zurück! Die Ohren gehören jetzt anderen Namen. Nothern Hebride Islands, das lässt sich hören. Iceland. Greenland. … Die Zeit vergeht wie im Flug, Lena! Ein Lächeln, bitte. … Und in San Francisco sei das Wetter schön, sagt der Kapitän. 21 Grad. Ideal, Lena, 21 Grad!“

S.301 „Er sagte ihr ins Gesicht: Jetzt muss ich aber gehen. Das öffnete ihr den Mund, noch einmal. Ihr Mund hatte sich nicht mehr ganz geschlossen… Er hatte hier wirklich alles, was falsch zu machen war, falsch gemacht. … Halm machte eine ungeheure Losreißbewegung, kam sich dafür gleich wie ein Schmierant vor. Aber dieses Hinübergehen ins Flugzeug ist doch altgriechisch-theatralisch. Nicht bloß die windige christliche Seele haut ab, der ganze Leib hebt sich fort. … Er schaute noch hinab ins wegsackende Land, dann vergrub er sich in den San Francisco Chronicle. Den las er, als sei das seine Zeitung und seine Stadt, und er fliege nur schnell einmal weg und komme gleich wieder. … Er tastete an seinem geschwollenen Auge herum. Wahrscheinlich ist das Abreisen durch diese kleine Unfalldramatik leichter geworden. In Brüssel landeten sie zwischen Eis und Schnee und wurden in Stuttgart auf Bahnsteig 16 abgeholt von Sabine, die ihrem Mann, bevor sie etwas sagte, die rechte Hand vom rechten Auge wegzog und dann aufschrie. Nicht laut, aber grell.“

Sprachpraxis Deutsch: Niveau B2 – GRUNDLAGEN DER TEXTANALYSE – Material 4 - Seite 3

Diese 2 Episoden sind einander entgegengesetzt. Was fühlt Helmut Halm am Anfang? „Bei ihm war es Jubel“, er war „dem Singen nahe“, er hatte eine „Mag-kommen-was-wolle-Stimmung“. Er ist begeistert, zum neuen Leben bereit. Und der Kontrast der 2. Episode („er hatte alles falsch gemacht“, „kam sich wie ein Schmierant vor“, er landete „zwischen Eis und Schnee“) zeigt seine Wehmut, Enttäuschung, die Weigerung seiner Vernunft nach Deutschland zurückzukehren. So ausführlich, mit vielen Ausrufesätzen beschreibt der Autor die Begeisterung Halms am Anfang – und so knapp und kontrastierend gibt er seine Enttäuschung wieder.

In diesem Kontrast versteckt wohl der Autor einen tiefen philosophischen Gedanken. Jedem Anfang folgt leider das Ende. Das Leben schenkt uns manchmal eine schöne Feier, aber je fröhlicher diese Feier ist, desto trauriger kann ihre Beendung sein. Das ist gerade wie eine Brandung: hinter der äußerlichen Schönheit versteckt sich die Gefahr. Jede Medaille hat ihre Kehrseite – und es ist gerade so im Fall mit Helmut. Er selbst überlebt, aber diese Brandung verletzt ein Teilchen seiner Seele.

Aber wichtig ist, dass das Leben selbst nach dem Ende dieser „tödlichen“ Feier nicht zu Ende ist.

Es ist wichtig, weiter zu leben, weil der Lebensweg ziemlich lange ist und kann uns noch viel

Ungewöhnliches, Unverständliches, aber auch unbedingt Gutes schenken. Daran will Halm (und die meisten von uns) mindestens glauben und seine Worte werden zum roten Faden des Romans: „Er musste zugeben, dass das Leben etwas Schönes sei.“ Eine truistische Behauptung, die von jedem Menschen immer wieder überprüft wird und immerhin nur im Glauben bleibt.

Der Roman „Brandung“ stellt also eine tiefe Forschung der inneren Welt eines Menschen dar, der nicht weiß, wie er sich mit den Wechselfällen des Schicksals abfinden muss und der immerfort ahnungslos bleibt – weil es überhaupt keine Antwort auf diese Frage gibt. Dieser große Roman

Martin Walsers ist ein Liebes-, Lebensund Sterbensbuch, in dem zusammengeführt wird, was sich auf ewig nicht findet.

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